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Titelthema

Fantastische Welten

Titelthema - Fantastische Welten
© Illustration: Mario Wagner/2 Agenten

In den 60er Jahren haben wir ein Metaversum gebaut. Es war cooler als alles, was derzeit unter diesem Namen bekannt ist.

01.03.2022

In einem fadenscheinigen Manöver gab Mark Zuckerberg seinem Unternehmen Facebook im vergangenen Oktober einen neuen Namen. «Meta» sollte der Social-Media-Konzern in Zukunft heissen. Facebook litt unter einem schlechten Image. Es war in den Sumpf von Hassrede und Fake News geraten, und keiner hatte eine Vorstellung, wie man aus dieser Schmuddelecke wieder herauskommen sollte. Also musste ein neuer Name her, der auch gleich die Richtung vorgab: statt Transparenz immerhin etwas Transzendenz, vor allem aber höhere Ziele. Meta versprach eine schönere und reinere Daseinssphäre.


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Zugleich verkündete Zuckerberg im Stile eines Propheten seiner Fan- und Investorengemeinde den Beginn eines neuen Zeitalters: Man werde nun gemeinsam ins Metaversum eintreten. In diesem besseren oder jedenfalls alternativen Universum sollte mit keiner Unbill mehr zu rechnen sein: Nur fröhliche Aussichten auf eine heile Scheinwelt in einer heillosen Welt. Zuckerberg präsentierte in nicht zu überbietender naiver (oder kühl berechnender?) Treuherzigkeit eine grandiose Wunscherfüllungsmaschine. Kleider in Hülle und Fülle nach Mass, grandiose Wohnungen wie aus dem Katalog, Freunde ohne Fehl und Tadel. Das Leben ein einziges Zuckerschlecken in einer rosaroten virtuellen Umgebung.

Schon vor Zuckerbergs Auftritt hatten sich die Tech-Gurus den Mund fusselig geredet. Es konnte ihnen nicht schnell genug gehen mit der Entwicklung des Metaversums. Seither schlagen die Wellen erst recht hoch – und man überbietet sich mit phantastischen Versprechungen. Nur einer spuckt den Enthusiasten in die Suppe: Ethan Zuckerman, Web-Designer und Professor an der University of Massachusetts. Bereits 1995 hatte er zusammen mit seinem Freund Daniel Beck eine frühe Form einer virtuellen Welt entworfen.

Sie arbeiteten mit den damals noch ziemlich primitiven Mitteln der Technik, indem sie beispielsweise analoge Bilder digitalisierten und in ihre virtuellen Räume einbauten, wie er Ende Oktober in einem Artikel für «The Atlantic» schrieb. Sein Fazit heute: Es tönte in der Theorie gut. In der Praxis sei es Schrott gewesen. Sie kriegten zwar Geld für die Entwicklung einer Demo-Version. Danach wurde ihnen der Stecker gezogen. Zuckerman stellte seinen Artikel unter den Titel: «Hey, Facebook, ich habe vor 27 Jahren ein Metaversum gemacht. Es war damals schrecklich, und es ist heute schrecklich.»

Täglich bauten wir die Alpen nach

Da kann ich freilich nur müde lächeln. Wir hatten unser Metaversum bereits Mitte der sechziger Jahre gebaut (auch wenn das Wort erst dreissig Jahre später von einem Schriftsteller erfunden werden sollte). Es war grandios – und wäre es heute noch. Damals dehnten sich die warmen Sommermonate endlos vor uns aus. Seit wir gehen konnten, trafen wir uns täglich im Sandkasten. Und täglich bauten wir die Alpen nach, Berge mit Pässen dazwischen mussten es sein. Der Sand aber reichte nur für einen Berg, den Rest dachten wir uns hinzu.

Als Nächstes legten wir eine Passstrasse an. Sie wand sich, wie wir es in der Wirklichkeit nie gesehen hatten, spiralförmig hinauf zur Spitze. Wir versuchten auch Tunnels zu bauen, sie gelangen nur selten. Dann fuhren wir mit unseren Spielzeugautos den Berg rauf und runter. Es war uns völlig klar, dass wir selber zwergenhaft in den Autos sassen, während wir sie als Riesen gleichzeitig mit der Hand bewegten. Wir hatten uns längst einen Avatar ausgedacht, einen imaginären Zwilling, der am Steuer sass und dem entgegenkommenden Fahrer freundlich zuwinkte oder ihn beschimpfte, wenn er nicht ausweichen wollte.

Wir vergassen die Zeit und alles, was um uns herum war: die Hunde, die gelegentlich in den Sandkasten schissen; die richtigen Autos in unserer Strasse, die uns allerdings weniger wahr vorkamen als die Spielzeuge; wir sahen auch die Nachbarn nicht und unterliessen es, sie zu grüssen, was leider für Scherereien in der anderen Welt sorgte. Nur der Regen konnte uns aus unserem Metaversum vertreiben. Und wenn man uns zum Essen rief, gingen wir murrend in die richtige Welt zurück.

Natürlich war irgendwann der letzte endlose Sommer vorüber, und wir hatten auch genug Sand zwischen den Zähnen. Es reichte mit den ewigen Bergfahrten im Kreis herum. Wir suchten anderes – und fanden zum Beispiel Bücher. Wieder vergassen wir für eine Weile die eigene Welt und verloren uns zwischen Buchdeckeln in einer anderen – um daraus verwandelt zurückzukommen. Das Leben in mehreren Welten war uns längst zu einer zweiten Haut geworden: Nicht etwa, weil uns die erste nicht gereicht hätte, aber weil uns die anderen eine Vorstellung davon gaben, wie das Dasein und das Zusammenleben auch noch eingerichtet sein könnten.

Unterscheidet sich das Metaversum der digitalen Zukunftspropheten so grundlegend von jenem unserer endlos langen Sommer? Schwierig zu sagen. Denn auch ihre Promotoren geraten rasch in Verlegenheit, wenn sie beschreiben sollen, was das Metaversum sei. Sie reden dann von einem «kollektiven Traum» eines grenzenlosen Begegnungsraumes oder schwelgen, wie Mark Zuckerberg, in den unermesslichen Möglichkeiten, die ihnen die Technologie bietet.

Wie die virtuellen Welten mit Inhalten zu füllen seien, bleibt in der Schwebe und ist wohl ein Rätsel. Noch nicht einmal Leute wie der Investor und Metaversum-Experte Matthew Ball, die damit Geld verdienen wollen, haben eine Ahnung: «Wir wissen nicht wirklich, wie wir das Metaversum beschreiben sollen», gestand er vor zwei Jahren freimütig in einem Beitrag auf seiner Website.

Gott spielen

Für sein Heilsversprechen holt sich Matthew Ball stattdessen Rückendeckung von ganz oben. Wer an virtuellen Welten arbeite, müsse das Buch Genesis aus dem Alten Testament vor Augen haben, schreibt er. Es empfehle sich im Übrigen, bei der Schöpfung des Metaversums dem Vorbild Gottes zu folgen: Er habe ja auch nicht bloss ein Miniaturmodell der Welt geschaffen, vielmehr habe er es dem Menschen ermöglicht, in ein weitgehend unbeschriebenes Tableau hineinzuwachsen.

Die pompöse Rhetorik könnte leicht vergessen lassen, dass es sich bei den meisten virtuellen Welten bis dahin um Spiele gehandelt hat (eines heisst auch tatsächlich «The Sandbox»). Man hielt sich zeitweilig in der Scheinwelt einer digital simulierten Wirklichkeit auf. Sobald der Computer ausgeschaltet war, kehrte man wieder zurück. Das folgte dem szenischen Dispositiv des Sandkastens. Allmählich aber kommt Ernsthaftigkeit in die Sache. Schon beginnen Investoren millionenteure virtuelle Grundstücke zu kaufen, Sammler stecken viel Geld in digitale Kunst, und selbst Gucci-Taschen sind im Metaversum inzwischen teurer als im wirklichen Leben.

Was wir gerade erleben, ist nicht eine neue Form des Eskapismus. Vielmehr werden die Schranken zwischen der Realität und ihrer digitalen Reproduktion mutwillig eingerissen. Mark Zuckerbergs kindlich naive und erschütternd phantasielose Vorstellungen von einem Metaversum verschleiern, was derzeit geschieht: Die Wirklichkeit wird verdrängt von ihrer Simulation. Die Erfahrung ist freilich nicht ganz neu. Dem modernen Menschen kommen die authentischen Erfahrungen allmählich abhanden. Was er sieht, hört oder spürt, wird ihm zunehmend medial vermittelt.

Das Metaversum ist darum ein Heilsversprechen gegen den Verlust an Authentizität. Es schafft simulierte bessere Welten, die an die Stelle der unauthentisch gewordenen Wirklichkeit rücken. Sie stellen eine neue Form der Wirklichkeit dar, in der jeder der sein kann, der er sein will. Die Simulation ist dann nicht mehr defizitär, sondern der schönere und wahre Horizont der Selbsterfüllung.

Die Welt erfinden, um sie zu verstehen

Damit verlässt das Metaversum das Paradigma des Sandkastens. Dieser hatte eine klare Grenze. War einmal der Sand wieder aus den Hosen geschüttelt, kehrte man unverzüglich zurück ins eigentliche Leben. Die Simulation blieb, was sie war: eine mit Einbildungskraft und gutem Willen erschaffene Phantasiewelt. Der Sandkasten war darum – wie es später die Bücher und die Kunst waren – die beste Vorschule für das richtige Leben.

Denn erst mit den Büchern, alsbald mit der Kunst oder im Kino lernten wir das Modell Sandkasten richtig zu deuten. So besteht das Paradox aller Kunst darin, dass sie über die Vorstellungskraft zurück in die Wirklichkeit führt. Die Imagination entwertet nicht das Faktische, sondern schärft die Sinne für dessen Verständnis. Darum haben wir in der Kunst wie im Sandkasten die Welt noch einmal neu zu erfinden gelernt, allerdings nicht, um in der Simulation das bessere Leben zu finden. Doch um die Wirklichkeit genauer zu lesen. Die Simulation war die sanfte Einübung in die Arbeit an der Wirklichkeit.

Wie immer das Metaversum dereinst aussehen wird, gleichgültig, ob es die Wunscherfüllungsmaschine sein wird, die Zuckerberg beschwört, oder ob es eine Geldmaschine wird: Den Sandkasten sollte man dagegen nicht eintauschen.


Zur Person:

Der Journalist und Literaturkritiker Roman Bucheli, geboren 1960 in Emmenbrücke, studierte Germanistik, Philosophie und Wirtschaftsgeschichte in Fribourg und Zürich. 1994 wurde er Redakteur beim Deutschen Literatur-Lexikon. Gleichzeitig publizierte er regelmäßig Literaturkritiken in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) und in weiteren Schweizer Tageszeitungen. 1999 trat er in die Feuilleton-Redaktion der NZZ ein, wo er für die deutschsprachige und niederländische Literatur sowie für die romanischen Literaturen zuständig ist – inzwischen als stellvertretender Ressortleiter. Außerdem arbeitet er als Autor und Herausgeber für den Wallstein Verlag.