Ziele und Triebkräfte der sexuellen Revolution
Freie Liebe und freie Erziehung
Skandalisierungen breiten sich wie bei einem Steinwurf auf eine Wasseroberfläche in Wellenbewegungen aus. Das trifft auch für das Reizthema Pädophilie zu. Während es vor drei Jahren noch um die katholische Kirche, um Internate wie die Odenwaldschule und die Reformpädagogik als solche gegangen war, konzentrierte sich in diesem Sommer die öffentliche Aufregung vor allem auf die Partei der Grünen und ihre nur rudimentär vorhandene Bereitschaft, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen zu wollen. Seitdem jedoch die Bundestagswahlen vorüber sind, hat das Thema zweifelsohne an Spannung verloren, nicht aber unbedingt auch an Brisanz. Denn die geforderten historischen Untersuchungen auf diesem Gebiet sind in vollem Gange und die Ergebnisse stehen noch aus.
Sehnsucht nach dem »?neuen Menschen?«
Die Wurzeln der Pädophilie-Debatte liegen nicht nur in der Vergangenheit der erwähnten Partei. In Wirklichkeit reichen sie bis in die Anfänge der 68er-Bewegung zurück. Ein Studentenbund wie der SDS war zweifelsohne der politische Motor der damaligen Bewegung, die soziokulturelle Avantgarde jedoch waren die damals schon skandalumwitterten Kommunen und in der Folge die antiautoritären Kindergärten, seinerzeit „Kinderläden“ genannt. Die Parole von der „freien Liebe“ war das Schlagwort der einen, die von der „freien Erziehung“ das der anderen.
Im Kernbereich der 68er-Bewegung ging es nicht nur um eine andere Politik, sondern um nichts weniger als die Schaffung eines „neuen Menschen“. Schließlich war man davon überzeugt, dass die Aktivisten noch von der „alten Welt“ geprägt seien. Niemand glaubte wissen zu können, auf welch raffinierte Weise die verinnerlichten Werte der bürgerlichen Gesellschaft – Neid, Konkurrenz, Eifersucht, Leistungs- und Hierarchiedenken – in den Einzelnen noch fortexistierten und die Maximen einer neuen Kollektivität insgeheim sabotierten. Einen wirklichen Neuanfang konnte es deshalb nur mit Kindern geben. Sie waren in gewisser Weise das unbeschriebene Blatt, dessen es zur Ausgestaltung einer qualitativ anderen, einer „befreiten“ Gesellschaft bedurfte.
Das Projekt der Schaffung des „neuen Menschen“ begann innerhalb des Kommune-Projekts. Dabei trat jedoch nicht nur die Kommune I, sondern auch die wenig später gegründete Kommune 2 in Erscheinung. Diese hatte eine Art Rechenschaftsbericht darüber abgelegt, wie sich ihr Experiment, das kollektive Leben mit der politischen Arbeit verbinden zu wollen, entwickelte. Unter dem emphatischen Titel „Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums“ hatten ihre Mitglieder aufgezeichnet, wo die Grenzen in der Ersetzung der patriarchalischen Kleinfamilie durch eine im Hinblick auf ihre Arbeits- und Liebesbeziehungen offen strukturierte Großfamilie lagen. In aller Schonungslosigkeit wurde darin geschildert, zu welchen Frustrationen, Depressionen sowie verdeckten und offenen Konflikten die Versuche geführt haben, die bürgerliche Familie aufzuheben und soziales wie intimes Neuland zu betreten.
Als die Kommune 2 im August 1967 aus ihrem ersten Domizil, dem SDS-Zentrum, auszog, um sich eine neue Unterkunft zu suchen, gehörten ihr vier Männer, drei Frauen und zwei Kleinkinder im Alter von drei und vier Jahren an, die zum Objekt eingehender Beobachtung werden sollten. Der kleine N. und die kleine G. hatten bis dahin in der Kommune I gelebt. Die Mutter des einen und der Vater der anderen waren nun an dem Erziehungsexperiment in der Kommune 2 beteiligt. Die Tatsache, dass damit der Bruch zwischen den jeweiligen Elternpaaren zur Voraussetzung der antiautoritären Erziehung gemacht wurde, war nicht nur unfreiwillige Folge möglicher Zerwürfnisse, sondern – wie der Abschnitt aus einem programmatischen Text verriet – durchaus auch gewollt:
- Nur der radikale Bruch mit der überkommenen Dreiecksstruktur der Familie kann zu kollektiven Lebensformen führen, in denen die Individuen fähig werden, neue Bedürfnisse und Phantasie zu entwickeln, deren Ziel die Schaffung des neuen Menschen in einer revolutionierten Gesellschaft ist.“
Vordenker der Provokation
Als entscheidende Voraussetzung für die Praxis der Kommunen ebenso wie der Kinderläden wurde Freuds Entdeckung der frühkindlichen Sexualität angesehen. Vorher hatte man das Kind als einen noch unfertigen Erwachsenen betrachtet und der primären Sozialisationsphase kaum eine größere Beachtung geschenkt. Erst mit der Freudschen Psychoanalyse begann sich das zu ändern. Es könne jedoch – so die Kommunarden – nicht darum gehen, die kindliche Sexualität lediglich zu dulden, sie müsse – wie man sich auf den Psychologen Wilhelm Reich berufend betonte – darüber hinaus explizit gefördert werden. Dieser hatte bereits 1934 festgestellt:
- Die ausdrückliche und unmißverständliche Bejahung des kindlichen Geschlechtslebens seitens der Erzieher vermag auch dann die Grundlage sexualbejahender Ichstruktur-Bestandteile zu werden, wenn sie die gesellschaftlichen Einflüsse nicht zu entkräften vermag.“ Die sexuelle Entfaltung von Kindern war also ein integrativer Bestandteil des kulturrevolutionären Konzepts.
Dafür gab es einen Vordenker. Denn Reichs Zauberwort lautete – so der Titel eines seiner bekanntesten Bücher – „Funktion des Orgasmus“. Der darin verfochtene Anspruch besagte nichts anderes, als dass das Individuum seine orgastische Potenz möglichst optimal ausleben sollte. Das galt jedenfalls als der entscheidende Schritt in Richtung auf das, was emphatisch als „Befreiung“ propagiert wurde. Auf dem Campus der Frankfurter Universität war deshalb 1968 – ganz so, als habe man es mit einem Klassiker zu tun – die Parole zu sehen: „Lest Wilhelm Reich und handelt danach!“. Und als man im Jahr darauf an der Hamburger Universität das Psychologische Institut besetzte, wurde es kurzerhand in „Wilhelm-Reich-Institut“ umbenannt.
Wer aber war Wilhelm Reich (1897–1957)? Zunächst einmal war er ein Schüler Sigmund Freuds, der sich schon bald mit seinem Lehrer überwarf, weil er sich von der Überzeugung leiten ließ, das Primat der Sexualität gegen seinen Entdecker verteidigen zu müssen. Reich hing einer naturalistischen Gesellschaftsauffassung an und blieb Zeit seines Lebens davon überzeugt, dass es in Form der Sexualität eine biologische Grundlage menschlichen Verhaltens gebe. Die Sexualität war für ihn ein Schlüssel in einem doppelten Sinne – zum einen, um das Funktionieren der Gesellschaft zu begreifen und zum anderen, um sie systematisch zu verändern.
Im Zentrum dieser Auffassung stand das Primat von der Genitalität. Reich essentialisierte seine Vorstellung vom menschlichen Glück in der Reduktion sexuellen Erlebens auf einen einzigen Akt, den sogenannten Höhepunkt: „Im Orgasmus ist das Lebendige nichts als ein Stück zuckender Natur“. Im Geschlechtsakt sollte das Bewusstsein der an ihm Beteiligten möglichst vollständig ausgeschaltet und die beiden Partner auf einen Status bloßer Naturwesen reduziert werden. Das Ziel bestand weniger darin, sich dem jeweils anderen hinzugeben als den physiologischen Reflexen einer als ursprünglich erlebten Natur. Jeder Altersstufe sollte ein „natürliches Liebesleben“ möglich gemacht werden. Das galt auch für Kinder.
Geschlechtstrieb und Klassenkampf
Die Attraktivität, die Reichs Schriften für die revoltierenden Studenten darstellte, resultierte aus drei verschiedenen Faktoren: dem Angebot, eine ausgelebte Sexualität als entscheidenden Schritt zur individuellen Selbstverwirklichung zu betrachten, der Betonung der Genitalität und der Konzentration des Sexuellen auf die Funktion des Orgasmus. Das Zusammenwirken dieser drei Punkte erzeugte eine außerordentliche Sprengkraft. In einer Zeit, in der voreheliche Beziehungen nirgendwo offen toleriert wurden, erschien das Reichsche Programm als ein gezielter Anschlag auf die von Elternhaus, Schulen und Kirchen ultimativ geforderten Tugenden, auf die als Spießermoral gegeißelten Werte insgesamt.
Wer also die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft nachhaltig in Frage stellen wollte, der konnte das kaum effektiver als auf diesem Wege tun. Das Programm der sexuellen Revolution war – wie die zahlreichen, in diesen Jahren aufbrechenden Konflikte um die Darstellung sexueller Praktiken und Verhütungsmethoden in Schülerzeitungen bestätigten – eine einzige Provokation. Der Geschlechtstrieb verschmolz so mit dem Klassenkampf zu einer Einheit. Nie zuvor war es so attraktiv gewesen, das bestehende System zu bekämpfen.
Das alles sollte – zumindest programmatisch – auch für die Sexualität von und mit Kindern und insofern auch für Abhängige gelten. So sehr von den Aktivisten der 68er-Bewegung auf eine geradezu ubiquitäre Art Herrschaftskritik gefordert wurde, so wenig existierte ein Bewusstsein davon, dass sexuelle Beziehungen auch Herrschaftsbeziehungen sein konnten. Einer der wenigen, dem das allerdings klar gewesen sein dürfte, war der vor zwei Jahren bei einem Verkehrsunfall auf tragische Weise ums Leben gekommene Sexualwissenschaftler Günter Amendt. Das einstige SDS-Mitglied hatte mit seinem Buch „Sexfront“ seinerzeit das aktuellste und am meisten verbreitete Werk der sexuellen Revolution verfasst. Von ihm stammt der Satz, dass Erwachsene durchaus „für das Recht der Kinder auf Sexualität“ eintreten sollten, auf keinen Fall jedoch „für das Recht der Erwachsenen auf die Sexualität der Kinder“. Wäre diese Grenze auch von seinen einstigen 68er-Gefährten gezogen und respektiert worden, dann wäre die eingangs geschilderte, für nicht wenige als quälend empfundene Debatte vermutlich gegenstandslos.