Was von der »sexuellen Revolution« geblieben ist
Von Tabu kann keine Rede mehr sein
Von der „Großen Sexuellen Freiheit“, ausgerufen in den 60er und 70er Jahren, ist vor allem eines geblieben: die Sexualisierung der Beziehungen. Von der Vorstellung, er sei das schlechthin Positive, alle müssten Sex haben und zwar jederzeit, sonst drohe Verfall und Wahnsinn, oder – schlimmer noch – Faschismus, hat man zwar hierzulande schon lange mehr oder weniger stillschweigend Abschied genommen. Sex selbst allerdings – und vor allem das Reden darüber – ist allgegenwärtig.
Damit ist nicht nur die Weisheit der Gewerbetreibenden gemeint. „Sex sells“ behaupten sie ja alle. Eigenartigerweise aber werben für Mode und Kosmetik Models, die androgyn bis kindlich wirken: Bilder lasziv arrangierter magerer Körper, die jungen Frauen ein falsches Bild weiblicher Körperlichkeit vermitteln und die Zielgruppe Frauen insgesamt verfehlen. Man könnte glatt auf die Idee kommen, solche Fotokunst hätte andere Adressaten. Vielleicht Männer, die Frauenkörper beängstigend finden?
Sex skandalisiert: Auch das ist immer noch wahr, obwohl es ausgerechnet auf die allgegenwärtige Busen-Beine-Po-Optik nicht mehr zutrifft. Wenn schon die Vermutung eines Politikers über die Oberweite einer Journalistin in Hinblick auf ein Dirndl einen theatralischen „Aufschrei“ über allgegenwärtigen Sexismus zur Folge hat, ist frau wahrlich bescheiden geworden.
Alles ein Irrtum?
Aber wahrscheinlich war sowieso alles nur ein Irrtum, war die „sexuelle Revolution“ der sechziger und siebziger Jahre nie eine. Es war der Notschrei all jener, die sich mit ihrem Begehren schwer taten. Wer mit seiner Sexualität im Reinen war, redete nicht darüber, die anderen taten es geradezu zwanghaft. Hatte nicht Wilhelm Reich behauptet, dass nur der ein freier Mensch sei, der sexuell frei ist? Eine Herausforderung für alle rettungslos Verklemmten. Und deshalb hielt man Sex für eine Übung, die bereits im Kindesalter einsetzen müsse, damit es gar nicht erst zur Repression des urgesunden Triebes kommen könne; eine Unterdrückung, da war man sich einig, die geradewegs in den Faschismus führe.
Daher das, was heute allgemein entgeistert und entsetzt: die Vorstellung, man dürfe, könne, ja müsse schon Kindern durch erwachsene Lehrer Sexualität beibringen wie Rechnen und Schreiben. An Gewalt und Missbrauch dachte man dabei nicht. Nur an die Hoffnung, dass den Nachgeborenen die eigene Verkorkstheit erspart bleiben könne. Die Wahrheit hinter der uns heute unvorstellbaren Ignoranz gegenüber dem Kind: Man dachte an sich selbst. Ein genuin egoistisches Motiv, das anderen, die nicht ans Kind in sich selbst, sondern an das Kind als Sexualobjekt dachten, die Tür öffnete.
Wer sich über die damalige Generation wundert, übersieht meist, dass die Gegenbewegung längst unterwegs war. Während die einen sexuelle Berührungen enttabuisieren wollten, sahen die anderen bald in beinahe jeder Art von Berührung das Sexuelle.
Eine Spielart des Feminismus stellte die (männliche) Sexualität prinzipiell unter Verdacht: Alle Männer sind potentielle Vergewaltiger, hieß es bei Alice Schwarzer. Und mindestens jede zweite Frau sei als Kind missbraucht worden, behaupteten die Initiatorinnen von Selbsthilfegruppen; eine Zahl, die sich Vermutungen über enorme Dunkelziffern verdankte. Der Eifer, mit denen an diesen Dunkelzahlen geschulte wackere Kindergärtnerinnen sexuellen Missbrauch nachweisen wollten, kostete mehr als einmal falsch beschuldigten Männern und Familien die Existenz und traumatisierte die Kinder, die man durch Suggestion zu Fehlaussagen brachte, also: zu Tätern machte.
Sexueller Antifaschismus
Die tatsächlichen Opfer wiederum fühlen sich übersehen und missachtet. Das gilt für die missbrauchten Zöglinge der Odenwaldschule ebenso wie für die Objekte sozialer Experimente, deren Initiatoren und Apostel Heimat bei den Grünen fanden. Grüne und Reformpädagogen – waren das nicht die Guten, die moralisch Unanfechtbaren? Gegen die hat es auch ein tatsächliches Opfer schwer. Dabei kennt man doch die Strategie: Wer Kinder in mehr als einer Hinsicht mag, ist in sozialen und kirchlichen Institutionen, jedenfalls überall dort, wo man die Moral gepachtet zu haben glaubt, am besten Ort. Der linke Glaube, dass die Befreiung der Sexualität eine Art antifaschistischer Kampf sei, half dabei, die handfesten Interessen der Pädophilen zu übersehen. Warum man erst jetzt über das linksliberale Bündnis mit Kindesmissbrauchern rede, fragt Adam Soboczynski in der ZEIT und gibt eine treffende Antwort: „Weil sich gegen antifaschistische Schutzwälle jahrzehntelang nur schlecht argumentieren ließ.“
Das mag der Grund sein, warum die heute erwachsenen Opfer von damals noch immer das Gefühl haben, sich verteidigen zu müssen. Denn eigentlich spricht der Zeitgeist für sie. Kriminalromane und Fernsehkrimis haben das Thema seit Jahren für sich entdeckt. Väter schänden ihre Kinder, Mütter schützen sie nicht davor – das Thema ist unendlich oft variiert worden. Mittlerweile wird es gern sozialkritisch aufgezäumt. In einem Bestseller von Nele Neuhaus etwa treibt eine bis in höchste Ämter vernetzte und dadurch geschützte Kinderschändermafia ihr Unwesen. Sex sells auch im Negativen. Von Tabu kann hier keine Rede mehr sein.
Ob Überdruss an den letzten Resten des sexuellen Antifaschismus im Spiel ist? Durch manche Szene geistert noch immer der alte Wilhelm Reich. Es sei ein Zeichen von „Toleranz“, ein Festival der „Leder- und Fetischszene“ als Ausdruck von „Lebensfreude“ in Berlin zu begrüßen, fand dessen schwuler Bürgermeister Wowereit vor wenigen Jahren. Lebensfreude aber geht, auch wenn man die Peitsche zuhause lässt, offenbar nicht ohne Anstrengung. Heute redet man vielleicht nicht mehr vom Reich der Freiheit, doch immerhin gilt es als „gesund“, Sex zu haben, und als „normal“, es bis ins hohe Alter zu tun. Wehe dem, der es nicht tut. Wenn die Zeichen nicht trügen, empfinden auch junge Menschen die ständige Ermahnung, es an dieser Art von Lebensfreude nicht mangeln zu lassen, als Überforderung.
Renaissance der Verklemmtheit?
Was beide verbindet, die Jünger der sexuellen Befreiung und die Kritikerinnen des Sexismus, ist ihr Thema: Sex. Denn beide sehen menschliche Beziehungen als durch Sexualität definiert. Die einen glauben, Sex stifte Frieden, Freude und Eierkuchen, die anderen sehen (männliche) Sexualität als Unterdrückungsinstrument. Die Wahrheit liegt womöglich in der Mitte, aber die ist selbst in einem so erfolgreichen Roman wie „Shades of Grey“ nicht mehr das Thema. Nein, die erfolgreiche erotische Trilogie handelt mitnichten von den Freuden einer Sexualität, die jene weite Zone zwischen Blümchensex und gewalttätiger Unterdrückung lustvoll auslotet, sondern von einem gestörten, weil als Junge missbrauchten Mann, der durch die Kraft der Liebe einer sexuell rundum gesunden jungen Frau auf den Weg des Heils geführt wird.
Nein, es ist nicht alles Sex, was uns verbindet und auseinandertreibt. Es soll Eltern geben, die ihre Kinder nicht misshandeln oder missbrauchen. Es soll Männer geben, denen an Frauen nicht nur „sexistisch“ gelegen ist. Es soll Beziehungen geben, die andere Formen von Liebe kennen als die sexuelle – Freundschaft muss ja deshalb nicht gleich unerotisch sein. Es soll im übrigen erwachsene Sexualität geben, die Grenzen überschreitet, ohne verletzend zu sein. Und ich vermute auch, dass man die Koketterie und das Flirtverhalten kleiner Mädchen und Jungen hinreißend finden kann, ohne daraus handgreifliche Schlüsse zu ziehen.
Kindesmissbrauch gab und gibt es, nicht nur in der Kirche oder bei den Grünen. Das macht weder die eine noch die anderen zu einem Hort der Pädophilie. Die Sexualisierung aber rechnet jeden Einzelfall zu einem gesellschaftlichen Befund hoch. Auch das ist eine Art von Missbrauch, weil es dem einzelnen Menschen sein besonderes Schicksal nimmt. Im beißenden Rauch des Verdachts, untermalt von Aufschrei-Chören, bahnt sich eine Renaissance der Verklemmtheit an. Das aber macht gewiss niemanden glücklicher.
Weitere Artikel der Autorin
8/2018
Der Totalitarismus der Alternativlosigkeit
10/2016
Verstand statt Gefühl
5/2015
Im Krieg sind auch Soldaten Opfer
5/2014
Die Sehnsucht nach dem Unterschied