Leben zwischen analogen Idyllen und digitalem Komfort
Die Sehnsucht nach dem Unterschied
Nach Jahrzehnten der nahezu vollständigen Digitalisierung des öffentlichen Lebens wächst vielerorts wieder die Sehnsucht nach bewehrten analogen Dingen. Zum Beispiel nach Büchern mit Leinen und Lesebändchen oder nach Schallplatten mit ihrem unverwechselbaren Klang. Die Beiträge des Mai-Titelthemas zeigen, dass dieser Trend keinsfalls nur in den Medien stattfindet, sondern in zahlreichen Bereichen unseres Alltags – bis hin zur Politik.
Auf dem vorläufigen Höhepunkt der Landflucht eroberten einige Magazine den Zeitschriftenmarkt, die das soeben vergehende wieder hochleben ließen: Titel wie „Landliebe“ oder „Landlust“ locken mit der analogen Welt, in der man im Sommer Johannisbeeren einkocht, im Herbst Kastanien sammelt und winters vorm Kaminfeuer sitzt und lustige Janker strickt.
Das Stricken beiseitegelassen: Etwas Analogeres als ein lebendiges, handgefertigtes Kaminfeuer ist kaum vorstellbar. Keine Bildschirmsimulation, kein elektrisch erzeugtes Geflacker kommt dem nahe. Dieses Licht und solche Wärme lassen sich nicht ersetzen oder verbessern. Mehr noch: Seine Voraussetzungen erfordern just das, wovon derzeit so oft die Rede ist: Acht- und Bedachtsamkeit. Holz muss wachsen. Nachhaltig ist ein Begriff aus der Waldwirtschaft. Bevor Holz Brennmaterial wird, muss es reifen, ganz langsam. Es muss geschlagen werden, gespalten und aufgeschichtet und gut ablagern, möglichst zwei, drei Jahre, damit es seine wärmespendende Eigenschaft optimal entfalten kann. Nur der Laie feuert mit frischem Holz. Auch wenn man mittlerweile sein Kaminholz sackweise im Supermarkt kaufen kann, erfordert der regelmäßig genutzte und gepflegte Kamin vorausschauende Vorratshaltung.
Nichts für spontane Entschlüsse also, Anklicken und Loslegen geht nicht, Kaminfeuer braucht Vorbereitung. Wer es archaisch mag: Es macht die Frau zur Hüterin der Flamme und den Mann, wenn nicht zum Jäger, so doch zu einem Naturburschen, der das Holz anschleppt und in passende Stücke spaltet. Am fernen Horizont der Sehnsucht taucht das Glück des einfachen Lebens auf, auch wenn man nur im Skiurlaub auf der Hütte ist.
Kurz: Wenn es um die Freuden des Analogen geht, ist ein echtes Feuer nicht zu übertreffen. Abseits des alltäglichen Lebens in vollklimatisierten Räumen spürt der Mensch wieder, dass er eine warme und eine kalte Seite hat, je nachdem, wie er sich dem wärmenden Feuer zuwendet. Dass Pullover eine gute Erfindung sind. Dass es Wetter und Jahreszeiten gibt, draußen und drinnen.
Analoge Idyllen
Seltsamerweise gedeiht die Sehnsucht nach dem Leben im Analogen vor allem dort, wo es nur äußerst mühsam zu haben ist. Wer will schon zentnerweise Holz in den 5. Stock eines Mietshauses schleppen? Das analoge Leben hat mehr als einen Preis: Der schlimmste Feind des Waldes weltweit ist der Hunger der Menschen nach Brennholz. Dort, wo es daran nicht mangelt, legt sich winters eine Dunstschicht über Dörfer und Täler, etwa im ländlichen Frankreich, die macht die Augen tränen und geht auf die Bronchien, sofern sich dort nicht bereits der Feinstaub eingenistet hat. Das „authentische“, das einfache Leben ist teuer.
Doch das Teure gehört dazu, zu dieser immer wieder aufs Neue aufflackernden Sehnsucht nach dem kleinen Unterschied. Dem digitalen Trash stehen in der analogen Idylle „die guten Dinge“ gegenüber, die Qualität und Beständigkeit suggerieren. Kerzenlicht – so viel wärmer als die öde Energiesparbirne. Vinyl und Plattenspieler – so viel mehr Hörerlebnis (sofern die Ohren fein genug sind). Das Glas Rotwein – so viel mehr drin und dran, wenn man den Winzer persönlich kennt.
Zum analogen Idyll gehört das gute Buch, für das man sich Zeit nehmen muss. Das Gespräch unter Freunden, echt anwesenden. Die gemeinsame Mahlzeit, aus frischen Zutaten au point bereitet. Dinge, die so selten geworden zu sein scheinen, dass man wieder von ihnen träumt wie vom versunkenen Atlantis. Oder wie von einem nicht reproduzierbaren Kunstwerk: das Leben im Moment, unwiederholbar und abgeschlossen in den eigenen vier Wänden, ohne Fühler nach außen, ohne spähende Tentakel, die nach innen dringen.
Je länger ich darüber nachdenke, desto weniger kann ich mich entscheiden, ob die Sehnsucht nach dem Analogen „authentisch“ ist – oder manch einer nur die Idylle des modernen Spießers pflegt, der online bei Manufaktum einkauft. Das Digitale bedrohlich zu finden, ist das moderne Katastrophenszenario, das der Mensch zu brauchen scheint, seit er sich Naturgewalten und Säbelzahntiger halbwegs vom Leibe halten kann. Ich bin mir nicht sicher, ob ich den möglichen Spähzugriff auf meine Daten für gefährlicher halte als die reale Existenz der Atombombe. Haben die Dinge nicht immer schon zwei Seiten, Segen und Fluch? Und muss man sich eigentlich auf jenes Entweder-Oder einlassen, das journalistische Zuspitzer der „Debattenkultur“ uns aufnötigen wollen? Warum nicht von beiden Welten das Beste nehmen und genießen?
Ich bin, was Kaminfeuer und Wein betrifft, ausgeprägter Spießer und weiß, dank Leben auf dem Lande, wo da die Lust aufhört und das Wetter anfängt. Überlebenskünste wie Feuer machen und Gartenbau sind meine Grundausrüstung, von der ich hoffe, dass ich sie nie wirklich nötig haben werde. Ich habe gute Nachbarn und viele Freunde, auch bei Facebook. Was das Essen betrifft, so weiß ich, wann was wächst und wie das Tier ausgesehen haben dürfte, dessen Fleisch ich esse.
Digitaler Komfort
Zur Hälfte analoger Spießer, zur anderen Hälfte digitaler User: Bei Feuer und Wein bestehe ich auf den Originalen. Die Musik aber kommt aus dem Netz und dieses oder jenes Buch befindet sich neben vielen anderen auf dem I-Pad, auf dem man auch den „Tatort“ empfangen kann, wenn man wie ich keinen Fernseher hat und trotzdem fremdgehen will. Die Freunde? Man sieht sich, selten genug. Aber sie sind fast täglich anwesend: Kurze Botschaften auf Facebook oder per E-Mail erhalten die Freundschaft, auch wenn zwischen Australien und Oberhessen tausende von Kilometern liegen. Genauer gesagt: 14.465,53 km – ich habe das eben mal gegoogelt.
Die Suche nach dem „Authentischen“, dem wirklich Wahrhaftigen hat nicht selten etwas kindlich-kindisches; übrigens besonders, wenn sie „das Buch“ betrifft. Die angstvolle Frage: „Wird es DAS Buch noch geben?“ kennt im Grunde nur den mehr oder weniger schweren Papierblock, dem Wundersames angedichtet wird. Da sei das „Haptische“, was bedeutsam klingt und doch nur besagt, dass ein Buch anders in der Hand liegt als ein E-Reader. Da sei der Geruch – nach Papier, nach Druckerschwärze riechen Bücher schon lange nicht mehr. Höchstens nach Staub und Muff, bei Folianten, die auf Dachböden und in Kellern überdauert haben. Da sei das ewig lockende Geheimnisvolle, das sich aus dem Buch erhebt – als ob wir noch in Zeiten lebten, in denen die Bibel in mühevoller Arbeit von Mönchen kopiert werden musste, damit auch andere in ihr lesen konnten.
Es gibt nur noch wenige Bücher mit dieser Aura. Erstausgaben, vielleicht, die den Odem ihrer Zeit atmen, kostbar wie alte Weine, denen beim Entkorken allerdings oft kein heiliger Geist mehr entweicht, sondern nur noch der Hauch eines Buketts.
Das Wunder des Lesens aber bleibt, auch wenn es sich in tiefschwarzer Nacht ereignet, der Mensch hellwach ist, aber sich ungern zum Bücherregal tasten möchte. Das Wunder, mithilfe eines tafelgroßen Gegenstandes die analoge Enge verlassen zu können, um ins digitale Paradies vorzustoßen, das voller Schätze und Funde ist. Das Gutenberg-Projekt lädt via Internet zur Lektüre von über 7000 deutschsprachigen Klassikern ein. Was zählt, ist der Inhalt, nicht die Form.
Verarmt, wer seine Bank nicht mehr von innen kennt, weil er seine Geldangelegenheiten online regelt? Ich habe die menschliche Begegnung mit Menschen hinter Schaltern nie zu den besonders wertvollen gezählt. Verödet die Kommunikation, wenn man sich nicht gegenübersitzt? Im Gegenteil: Noch nie wurde so viel kommuniziert wie heute. Wahrscheinlich sogar zu viel: Wenn Kommunikation keine Mühe mehr macht, siegt das Geschwätz.
Es ist nicht das Digitale, das dem Analogen seinen Raum stiehlt. Im Gegenteil: Der friedlichen Koexistenz steht nichts im Weg. Schließlich ist es eine Frage der persönlichen Entscheidung, wie oft und wie weit man online sein möchte. Dass das Leben im Analogen kostbar und selten geworden zu sein scheint, liegt nicht am digitalen Netz, das uns umklammerte. Höchstens an der Endlichkeit der Ressourcen: Wenn das Kaminfeuer kein Luxus, sondern die schiere Notwendigkeit wäre, sähe die Welt erheblich ungemütlicher aus.
Zum Schluss ein Trost: Die meisten Dinge im Leben sind nicht digitalisierbar.
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