Es ist ein hartnäckiges Gerücht, das sich nicht ausrotten lässt: dass das Volk von der politischen Elite mehr Gefühl verlange. Das Ergebnis ist rührend und mitleiderregend zugleich. Politiker schicken sich mit Feuereifer an, die Herzen der Wähler zu erobern, ihre Ängste und Sorgen zu verstehen, sich zu kümmern, sie abzuholen, wo sie stehen: „Unsere Menschen.“ Und sind gekränkt, wenn die sich dennoch bockig zeigen. Dann wird ihnen mit Engelsgeduld alles immer wieder und immer noch ein wenig besser erklärt. Man muss sich nur, scheinen viele Politiker zu glauben, zu ihnen herabbeugen, mit ihnen kommunizieren, reden und Tee trinken und laut über ein paar Wahlgeschenke nachdenken, dann wird das schon.
Und wenn nicht? In wenigen ehrlichen Momenten, wenn sich Teile des Wahlvolks allen Bemühungen zum Trotz immer noch störrisch zeigen, platzen schonmal Wörter wie „Pack“ und „Pöbel“ aus einem Politiker heraus. Das tut schon fast wieder gut.
Abscheu vor „kalten Zahlen“
Nein, es fehlt nicht an Gefühl, im Gegenteil. Mit Grauen erinnere ich mich an eine der ersten Talkshows mit und gegen Thilo Sarrazin und seinen Bestseller „Deutschland schafft sich ab“. Mit zitternder Stimme äußerten die Anwesenden ihre Abscheu vor „kalten Zahlen“ und nackten Fakten; vor allem eben, was ohne Gefühl und Wellenschlag daherkommt. Ströme menschlicher Wärme ergossen sich über den armen Faktenhuber, eine Schmusedecke, unter der jedes Argument zu ersticken drohte.
Wann hat das bloß angefangen, dass Politiker nicht mehr von Fakten sprechen wollten und von den harten Tatsachen, die sie zu ihren Entscheidungen gebracht hätten, sondern davon, wie sie sich fühlten dabei? Dass nicht mehr von Pflicht und Verantwortung die Rede ist, sondern von „Lust“ auf Politik und dass man „gestalten“ wolle (und nicht bloß dienen)? Ich habe 1994 dem „Betroffenheitskult“ ein ganzes Buch gewidmet. Viel scheint sich seither nicht verändert zu haben. Angela Merkel verkörperte eine Zeitlang die Hoffnung, dass es in der Politik wieder um Sachen gehen könnte anstatt um Gefühlsergüsse und männliches Imponiergehabe. Die Naturwissenschaftlerin schien kühl die Lage zu analysieren und Schlüsse daraus zu ziehen.
Politische „Wärmeströme“
Wer Merkels Reden aus der Zeit vor 2005 liest, trifft auf jemanden, der in fast allen Punkten das Gegenteil von dem sagte, was sie heute tut: Sie votierte für drastische Steuersenkungen, einen Sparkurs des Staates und einen Abbau der Bürokratie, erklärte sich gegen Multikulti und unkontrollierte Zuwanderung und verzichtete erfrischend uneitel auf jeglichen Frauenbonus. Die Kampagne der SPD im Wahlkampf 2005 setzte dagegen auf den „Wärmestrom“, den man Merkels angeblicher „sozialer Kälte“ entgegensetzen wollte. Fast hätte man so ihren Sieg verhindert.
Die Kanzlerin ist lernfähig. Schon kurz nach der Wahl änderte sie Ton und Kurs. Es war jedenfalls gewiss nicht die pragmatisch denkende Naturwissenschaftlerin, die im März 2011 nach einem Tsunami in Japan die Order zur Abschaltung deutscher Atomkraftwerke gab. In Deutschland gibt es weder Tsunamis noch jene technische Schwachstelle, die in Fukushima zum Verhängnis wurde. Rational war an dieser Entscheidung höchstens der Blick auf eine wichtige Landtagswahl – in Baden-Württemberg. Doch die ging dennoch verloren.
Seither wird die Landschaft mit Windkraftanlagen zugepflastert, ohne dass es für die Verwertung der erzeugten Energie die nötigen Rahmenbedingungen gibt. Eine Fehlallokation von Mitteln sondergleichen, die jede konkurrierende Energiegewinnung ausgeschaltet hat, den Verbraucher belastet und das bis dato so stabile Stromnetz Deutschlands riskiert.Was hat im März 2011 gesiegt? Vernunft? Verantwortungsbewusstsein? Oder Kalkül, das auf die Gefühle der Bürger setzt – auf deren Angst, die man offenbar nur dann schüren darf, wenn es politisch in den Kram passt?
Ähnlich die Politik der „Klimarettung“. Statt sich für einen Klimawandel zu rüsten, so er und wie er denn kommt – kälter oder wärmer -, gehen Unsummen in den Kampf gegen das böse CO2, von dem niemand weiß, ob es im komplexen Geschehen die Rolle des „Treibhausgases“ spielt, die ihm zugesprochen wird. Eine Politik der Vernunft? Oder eine Politik, die den Bürger im Zustand der Angst vor einer selbstverschuldeten Katastrophe halten will, ganz wie der Ablasshandel seligen Eingedenkens?
Schweigen wir von einer „Eurorettungspolitik“, die ohne Rücksicht auf Recht, Gesetz und Verträge auf eine Transferunion hinausläuft. Sie stand am Beginn des Verlusts der wichtigsten Währung in einem Rechtsstaat: des Vertrauens in die Rechtmäßigkeit politischen Handelns.
Was nun Angela Merkels Willkommenspolitik im September 2015 betrifft, so reklamiert die Kanzlerin selbst, einem humanitären Impuls gefolgt zu sein, nicht etwa der politischen Vernunft. Die Entscheidung, nach dem ersten Ansturm die Grenzen auch Mitte September nicht zu schließen, traf sie allein, gegen alle sicherheitspolitischen Bedenken. Viele Bürger aber haben längst begriffen, dass die „humanitäre Geste“ Verantwortungsbewusstsein vermissen ließ – für die bereits hier Lebenden ebenso wie für jene, die sich mit falschen Vorstellungen hierhin auf den Weg gemacht haben.
Vielen Einwanderern dürfte der Souveränitätsverlust Deutschlands übrigens weit früher aufgefallen sein als all denen, die noch glaubten, ihre „Willkommenskultur“ diene hilfsbedürftigen Frauen und Kindern. Den Signalen von Mutter Merkel sind vor allem junge Männer gefolgt, die Syrer unter ihnen mögen die größte Gruppe sein, sind aber dennoch in der Minderheit. Subsidiärer Schutz wird nur befristet gewährt. Und dennoch diskutieren Politik und Medien vorrangig über eine „Integration“, die sie als deutsche Bringschuld empfinden.
Weshalb auch kaltherzig genannt wird, wer über Zahlen und Kosten reden will. Hier triumphiert das Gefühl endgültig über die Wirklichkeitswahrnehmung. Denn über Zahlen und Kosten muss man reden – nur kann man das nicht, weil bis heute niemand weiß, wie viele und wer genau gekommen ist und wie viele nach dem unkontrollierten Einmarsch im Untergrund verschwunden sind. Die haben, immerhin, keinen Anspruch auf staatliche Hilfe. Gemütlich ist die Vorstellung eines solchen illegalen Untergrunds allerdings nicht.
Aufgaben für die Politik
Und nun? Politik und Medien haben es lange Zeit mit Gutsprech und Verschleierung versucht. Um die Gefühle der Bürger zu schonen? Innenminister Thomas de Maiziere hat das Verhältnis von Politik und bürgerlicher Öffentlichkeit auf den Punkt gebracht. Nach der Absage eines Fußballspiels in Hannover wegen einer Terrorwarnung wollte er die Entscheidung nicht näher begründen, denn „ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“ Das nennt man wohl benevolente Bevormundung.
Deutschland schafft sich ab? Sieht ganz so aus. „Weltoffen“ will man sein statt deutsch – und verkennt doch eines: Ein Sozialstaat funktioniert nur in einem klar definierten Rahmen. Wer den Nationalstaat abschaffen will, beseitigt damit das, was Deutschland für Zuwanderer attraktiv macht. Die leere Hülle wird niemanden mehr interessieren.
Während um uns herum die Nationalstaaten zunehmen, ohne dass es die globale Verflechtung in irgendeiner Weise behinderte – heute gibt es mit fast 200 mehr als doppelt so viele Nationalstaaten wie 1960 –, wird in Deutschland von Grenzenlosigkeit geschwärmt. Das Land ist, was es seit dem Zweiten Weltkrieg nie wieder sein wollte: allein auf einem Sonderweg, den niemand der Nachbarn zu teilen bereit ist.
Es ist ein Irrtum der politischen Eliten, sie müssten nur ans Gefühl des Volks appellieren, damit es ihnen folgt. Realismus, Verantwortungsbewusstsein, Ideologieferne, Vernunft, ein weiter Horizont und, ja, Wahrhaftigkeit täten not, um das verloren gegangene Vertrauen wieder herzustellen.
Wie sagte Ingeborg Bachmann? „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“