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Das große NEIN

Wenn gute Ideen auf die Wirklichkeit treffen

Das Scheitern der großen Entwürfe und die Abkoppelung der demokratischen Öffentlichkeit. Eine historisch-politische Bestandsaufnahme

Andreas Rödder01.10.2016

Was der Mensch auch tut, es schafft unvorhergesehene Folgen: Marktliberalisierung führt zu Staatshaftung, Gleichstellung erzeugt neue Ungleichheit, Vielfalt weckt Hunger nach Ganzheit. Das 20. Jahrhundert hat gezeigt: Wir können die Geschichte nicht beherrschen.

Dabei hat die moderne Welt lange in dem Glauben gelebt, die Realitäten ließen sich mit rationalen Methoden erfassen und die Zukunft lasse sich mit technokratischen Mitteln gestalten. Ihre hohe Zeit erlebte diese Ideologie zwischen den späten fünfziger und den frühen siebziger Jahren. Walt Whitman Rostow entwarf ein Stufenmodell der ökonomischen Modernisierung, das zugleich als Muster für die Entwicklungsgesellschaften der sogenannten Dritten Welt diente – und eine amerikanische Entwicklungsdiktatur in Vietnam begründete, mit der die USA in Südostasien bereits vor ihrem militärischen Misserfolg scheiterten.

Sozialtechnokratie prägte auch das Konzept der „autogerechten Innenstadt“. Zum Zwecke der „Funktionsschwächebehebung“ wurden ganze Altstädte niedergelegt und durch am Reißbrett geplante Trabantenstädte an den Peripherien der Städte ersetzt. In meiner Heimatstadt Wissen an der Sieg wurde eine neue Volksbank mit einem „Autoschalter“ gebaut, an dem Transaktionen aus dem laufenden Kraftfahrzeug heraus getätigt werden sollten. Eine computergestützte politische Reformplanung auf mindestens 15 Jahre etablierte Horst Ehmke nach dem Regierungswechsel von 1969 im Bonner Kanzleramt. Die FDP unterhielt ein Institut für politische Planung und Kybernetik, und das Flaggschiff der Machbarkeitsgewissheit segelte unter dem Banner der „Globalsteuerung“, die von der Steuerbarkeit ökonomischer Abläufe durch staatliche Politik ausging.

Dass dies eine Illusion war, machten die erste Ölkrise und der Konjunktureinbruch von 1973 unmissverständlich klar. Binnen kurzer Zeit brach die Modernisierungsideologie in der gesamten westlichen Welt zusammen. Das Institut für Kybernetik stellte seine Publikationstätigkeit ein, die technokratischen Trabantenstädte werden seit vielen Jahren als soziale Brennpunkte gemieden, der nüchterne Helmut Schmidt ersetzte den visionären Willy Brandt, und im Schalterfenster der Wissener Volksbank stehen seit vielen Jahren Blumen.

Fürsorgliche Diskursverweigerung
Anstelle der keynesianischen Globalsteuerung gewann die Lehre der Stabilität freier Märkte die Oberhand des politisch-ökonomischen Denkens, wie sie Milton Friedman und die Chicago School predigten. Als sich in den neunziger Jahren zeigte, dass deregulierte Märkte nicht nur Orte rationaler Entscheidungen und schneller Reaktion waren, sondern auch von emotionalen Entscheidungen, irrationalen Erwartungen und moral hazard, blieb jedoch die ordnungspolitische Einhegung einer außer Kontrolle geratenden Entwicklung aus. Realitätsblinde Marktgläubigkeit, verbunden mit dem amerikanischen Sozialstaatsmodell staatlich geförderter Privatverschuldung, nährte eine Immobilienblase, deren Crash 2008 die gesamte Weltwirtschaft in Mitleidenschaft zog.

Eine Idee wird immer dann schädlich, so die historische Lehre, wenn sie sich von den Realitäten löst. Das gilt für die Verabsolutierung des Marktes ebenso wie für die Europäische Währungsunion. Der deutsche Glaube an eine gemeinsame Währung als Friedensprojekt ignorierte erhebliche ökonomische Bedenken ebenso wie die politisch-kulturellen Differenzen zwischen den Mitgliedsstaaten, die in der Euro-Krise seit 2010 überdeutlich zutage getreten sind. Dasselbe gilt für die Politik der Gleichstellung: Die Frauenquote für Aufsichtsräte in börsennotierten Unternehmen gibt einer kinderlosen Unternehmertochter aus München-Bogenhausen den Vorzug vor einem vierfachen Familienvater aus einer Einwandererfamilie in Berlin-Neukölln. Und die Pädagogik der sexuellen Diversität nimmt Züge repressiver Toleranz an, wenn Unterrichtsentwürfe 14-jährigen Schülern die Aufgabe stellen, in einer virtuellen Auktion Sextoys für ein lesbisches Paar mit Kindern zu ersteigern.

Andreas Rödder
Prof. Dr. Andreas Rödder ist Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.. Zu seinen Schriften gehören u.a. „Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung“ (2009) und „21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ (2015, beide Beck).
Foto: Bert Bostelmann (dpa) www.geschichte.uni-mainz.de

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