Wann immer es einen Trend gibt, wird es früher oder später einen Gegentrend geben. Das scheint fast ein Naturgesetz zu sein. Und wo immer starke Gefühle unterdrückt werden, weil sie als politisch inakzeptabel oder einfach unangebracht betrachtet werden, werden sie dennoch einen Weg finden, sich auszudrücken. Auch dies ist eine unumstößliche Regel. Die öffentliche Meinung mag vielleicht manipulierbar sein, aber sie ist auch sehr unbeständig. Kurz gesagt, werden die Menschen nicht immer für das stimmen, was die sogenannte Elite als das Beste für sie erachtet.
Warum sind diese einfachen Wahrheiten für unsere heutigen politischen Führer so schwer zu verstehen? Warum schütteln sie ihre Köpfe in selbstgerechter Betroffenheit, wenn es jemand wagt, die sorgfältig ausgearbeiteten Pläne für TTIP anzuzweifeln, kein Interesse am Ausrichten der Olympischen Spiele hat oder – am unverständlichsten – entscheidet, dass man tatsächlich kein Teil der Europäischen Union mehr sein will? Was ist während der letzten zwanzig Jahre passiert, dass es zu einer so ausgeprägten Kluft zwischen Regierenden und Regierten gekommen ist?
In den Nuller-Jahren hat der Prozess der Globalisierung rasch an Fahrt aufgenommen und ist scheinbar unvermeidlich geworden. Die gleichen Produkte, Filme und sogar Bücher sind sofort in aller Welt erhältlich. Die gleichen Ladenketten, Designer-Outlets und Firmenlogos säumen die Straßen von Singapur, Sydney und San Francisco. Wir ahnen, dass eine neue Weltordnung im Entstehen begriffen ist.
Kein Blick für eigene Probleme
Unsere Medien konzentrieren sich mehr und mehr auf das internationale Geschehen und immer weniger auf die Realität vor unserer eigenen Haustür. Es ist durchaus möglich, dass man Tränen über das Unglück von Erdbebenopfern oder politischen Gefangenen in entfernten Ländern vergießt und gleichzeitig das urbane Elend ein paar Blocks von unserer Wohnung entfernt nicht wahrnimmt.
Zur selben Zeit erfordern dringende globale Probleme ganz offensichtlich ein weltweites und kein nationales Handeln. Energieknappheit, internationaler Handel, die Flüchtlingskrise und vor allem die globale Erwärmung. Dadurch wird unsere Aufmerksamkeit ständig auf die täglichen Riesenprobleme der Welt gelenkt, weg von den unmittelbaren Erfahrungen unseres Alltagslebens. Dabei leben unsere Politiker in einer Traumwelt der hegelschen Selbstüberschätzung, sehen sich selbst als die Architekten einer neuen und besseren Weltordnung, sammeln und verarbeiten immer komplexere Daten, arbeiten in einem immer größer werdenden weltweiten Netz-werk aus Kontakten und Verhandlungen mit ihresgleichen. In einer kontinuierlichen Abfolge dramatischer globaler Szenarien, umgeben von einem Ozean aus Bürokratie ist nichts leichter, als die jungen Arbeitslosen von Birmingham und Bari zu vergessen.
Das hektische Leben der Politiker wird noch durch weitere Faktoren intensiviert und kompliziert. Der unvermeidbare Kontakt zu Banken und multinationalen Unternehmen bringt sie oft in Versuchung. Es ist erstaunlich, wie viele unserer politischen Führer Positionen in Firmen annehmen, deren Angebote sie besser ausschlagen sollten, solange sie noch im Amt sind. José Barrosos kürzlicher Wechsel zu Goldman Sachs ist ein Paradebeispiel, und es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass sein Nachfolger Jean-Claude Juncker darauf mit einer Ethikuntersuchung reagiert, während er selbst zuvor als Premierminister von Luxemburg auf Du und Du mit internationalen Konzernen war. Wie können wir diesen Menschen trauen?
Gedankenscheren in der Politik
Gleichzeitig werden alle Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens der Politiker – verständlicherweise – konstant unter die Lupe genommen. Gleich von wie vielen Menschen er gewählt wurde, es braucht nur ein paar unbedachte Worte oder eine einzige, finanziell oder sexuell unmoralische Handlung, und schon hat ein Politiker seine Legitimation verloren. Insbesondere, und ungeachtet der allgemeinen öffentlichen Meinung, arbeiten die liberalen Medien fieberhaft für die Durchsetzung der ihrer Ansicht nach korrekten Einstellung zu verschiedenen Themen, wie etwa in Bezug auf Fragen der Geschlechtergerechtigkeit oder Rassen- und Religionspolitik. Das Ergebnis ist, dass es für Politiker extrem gefährlich ist, offen ihre Meinung zu äußern. Selbst eine leicht abweichende Äußerung kann im Desaster enden. Am besten spricht man weiter über die großen Ideale und bereitet sich auf die nächste internationale Konferenz vor.
Dadurch kann trotz des unaufhörlich sprudelnden Flusses aus Informationen und Meinungen vieles von dem, was die Gesellschaft ehrlich interessiert, nicht öffentlich angesprochen werden. Tatsächlich könnte man es so sagen: Je stärker ein Problem die Allgemeinheit beschäftigt, umso ratsamer ist es für einen Mainstream-Politiker, nicht darüber zu sprechen. Dies schafft natürlich riesige Chancen für Personen, die sich trauen, die Populismus-Karte auszuspielen. Ungeachtet dessen, was Donald Trump, Nigel Farage oder Geert Wilders sagen: Von vielen Menschen werden sie schlicht für den Mut bewundert, öffentlich ihre Sicht der Dinge kundzutun. Eine scharfe Polarisierung der Meinungen ist die zwingende Folge, wodurch diejenigen, die den Status Quo verteidigen, unvermeidlich in eine Position der Schwäche und Defensivhaltung gedrängt werden.
Das führt uns zum Thema Brexit. Unsere europäischen parlamentarischen Demokratien machen es den Wählern extrem schwer, ihren Standpunkt zu konkreten Einzelthemen mitzuteilen. Insbesondere die Engländer sind durch ihr Mehrheitswahlrecht mehr oder weniger gezwungen, entweder für die Konservativen oder Labour zu stimmen, wenn sie wollen, dass ihre Stimme „zählt“. Dadurch war es den Hauptparteien bislang problemlos möglich, jahrelang keine eindeutige Stellung für oder gegen die Europäische Union zu beziehen. Sie konnten die Mitgliedschaft als vollendete Tatsache darstellen und die EU als Sündenbock nutzen, um ihr die Schuld für eigene Fehler zuzuschieben.
Dabei wurde eine gewisse Feindseligkeit gegenüber Europa geschürt, ohne dass den Menschen in Aussicht gestellt wurde, ihre Meinung dazu durch Wahlen zum Ausdruck zu bringen. Diese Situation förderte ein unangenehmes Gefühl der Erstarrung, die schließlich durch das Auftauchen von Nigel Farages United Kingdom Independence Party durchbrochen wurde. Obwohl diese Partei keinen einzigen Sitz bei einer Unterhauswahl gewonnen hat, hat sie bei den Europawahlen, bei denen ein proportionales Wahlsystem gilt, gut abgeschnitten und viele Wähler der anderen Parteien für sich gewonnen. Vor allem drohte sie die Konservative Partei zu spalten und dadurch das Gesicht der britischen Politik zu verändern. Das Referendum wurde beschlossen, um die Befürwortung der EU durch die britische Öffentlichkeit erneut zu bestätigen und euroskeptische Konservative von der Torheit abzuhalten, ihre Partei für eine aussichtslose Idee zu verlassen.
Der Geist ist aus der Flasche
Damit hatte man jedoch den Geist aus der Flasche gelassen. Endlich hatte die Öffentlichkeit eine Gelegenheit, sich zum Thema Immigration zu äußern. Endlich konnte sie sich zum Thema Souveränität äußern. Endlich konnten die vernachlässigten englischen Arbeitslosen aus nie erwähnten Durchschnittsstädten wie Blackburn, Sheffield, Doncaster oder Middlesbrough verlangen, dass die Politiker den Blick auf ihre Sorgen richten – und nicht auf das nächste internationale Meeting mit dieser oder jener Lobby. Wenn Persönlichkeiten wie George Soros, Christine Lagarde und Barack Obama unklugerweise einbezogen wurden, fachte dies das Feuer nur noch mehr an. Wenn man zu dieser Situation die sich verschärfende Flüchtlingskrise hinzufügt und den unglaublichen Fehler, das Referendum während der Fußball-Europameisterschaft – immer eine Zeit verstärkter nationaler Identität – abzuhalten, so ist das Ergebnis kaum überraschend.
Die Reaktion auf das Ergebnis war hingegen sehr überraschend. Fast alle größeren Medien, die meisten namhaften Kommentatoren und politische Führer aus ganz Europa haben alles getan, um die Entscheidung der Wähler zu diskreditieren. Die Brexit-Befürworter wären pervers, irregeleitet, rassistisch oder dumm. Sie wären belogen worden. Das Recht zur Abstimmung hätte den älteren Menschen entzogen und 16-Jährigen gegeben werden müssen. Das Referendum sollte wiederholt werden. Es sollte ignoriert, bzw. nur als konsultativ betrachtet werden etc. etc.
Nun wissen wir also, dass keiner unserer politischen Führer einen Plan B hatte. Sie haben sich gänzlich von der Vision des durch Konzerne und Medien beschworenen Einheitsinternationalismus verzücken lassen, der ihnen als die unvermeidbare und lukrative Zukunft erschien. Sie hatten komplett vergessen, dass Franzosen, Deutsche, Italiener, Polen, Spanier, Ungarn, Griechen etc. noch immer unterschiedliche Völker mit oftmals sehr geringem Wissen voneinander oder Interesse aneinander sind - abgesehen von gelegentlichen Aufenthalten im Urlaub oder als Werkstudenten. Daran gewöhnt, sich ein Bein für die Empfindlichkeiten ethnischer Gruppen auszureißen, sind unsere politischen Führer nun verblüfft zu sehen, dass ihr eigenes Volk seine kulturelle Identität bewahren und sein Recht auf Selbstbestimmung wahrnehmen will.
Die Zeit des Verleugnens ist nicht vorbei. Das Bestreben, in einer Art permanenter internationaler Riesenorganisation ein für alle Mal die Zukunft zu regeln und die Geschichte zu begraben, scheint nach wie vor verlockend für diejenigen, die ihr Leben in den Sphären der Macht verbringen. Es gibt so viele Möglichkeiten, von diesen utopischen Ideen zu schwärmen, sie zu planen und sich daran zu berauschen, dass man nur allzu leicht vergisst, dass draußen im Land noch immer eine widerspenstige Wirklichkeit herrscht: dass Menschen eine andere Meinung haben, vielleicht weil sie – auch ohne Flüchtlinge oder Erbebenopfer zu sein – keine Arbeit, kein Geld oder keine Hoffnung haben. Oder weil sie – noch verblüffender – einfach eine andere und doch stimmige Sicht in Bezug auf die mögliche Bedeutung von Internationalismus haben: eine konstante praktische Zusammenarbeit zwischen souveränen Völkern, deren oberste Pflicht der Schutz ihrer eigenen schwächeren Bürger ist.