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Titelthema

Fromme und tüchtige Leute

Titelthema - Fromme und tüchtige Leute
Viele ältere Menschen übernehmen die Arbeit an Haus und Hof, wenn die Kinder das Land verlassen haben, um im Ausland zu arbeiten und Geld zu verdienen. © Andrea Diefenbach

Bessarabien ist mehr als eine historische Landschaft. Es steht für die Geschichte deutscher Siedler, die ihr Glück suchten, fanden und verloren.

Ute Schmidt01.10.2022

Als östlicher Teil der historischen Landschaft Moldau erstreckt sich Bessarabien von den südöstlichen Ausläufern der Karpaten bis an die Küste des Schwarzen Meeres. Pruth und Dnister grenzen das Gebiet nach Westen von der rumänischen Moldau und nach Osten zur Ukraine ab. Mit einer Fläche von rund 45.000 Quadratkilometern ist Bessarabien ungefähr so groß wie das Bundesland Niedersachsen.

Das Land an der Schwarzmeerküste war in seiner wechselvollen Geschichte von vielen Völkern und kulturellen Einflüssen durchzogen, aber auch immer wieder Abbrüchen und Verheerungen ausgesetzt. In vorchristlicher Zeit wurde das Schwarze Meer von den Griechen als „pontos euxeinos“, als „gastliches Meer“, bezeichnet. Die nordwestliche Küstenregion war damals Teil der antiken Welt und in Handel, Kultur und Religion eng mit Griechenland und dem ostmediterranen Raum verbunden. In der Zeit der Völkerwanderung war Bessarabien Durchzugsgebiet vieler Stämme. Die Ostgoten gehörten zu den ersten, die die nordpontische Steppe im ersten nachchristlichen Jahrtausend durchquerten. Um 376 n. Chr. wichen die Goten den Hunnen, die auf ihrem Vorstoß nach Westeuropa die meisten antiken Städte im nordpontischen Gebiet zerstörten. Seit 1223 drangen erstmals Tataren in Bessarabien ein, die in wenigen Jahren die gesamte Region – Bessarabien, Moldau, Walachei, Siebenbürgen und Ungarn – verheerten. Der Name Bessarabien leitet sich von der walachischen Fürstendynastie Basarab her. Mitte des 15. Jahrhunderts geriet die Moldau mit Bessarabien für über 300 Jahre als Vasallenstaat unter osmanische Oberhoheit.

Das südwestliche Ende Neu-Russlands

Die Expansion des Russischen Reiches nach Südwesten war seit Peter dem Großen Teil der Großmachtpolitik seiner Herrscher. Parallel zum Durchbruch an die Ostsee sollte ein Zugang zum Schwarzen Meer geschaffen werden. In einer Folge von Kriegen eroberten russische Heere im 18. Jahrhundert weite Teile der Steppengebiete nördlich und östlich des Schwarzen Meeres. Im Frieden von Bukarest am 16. Mai 1812 musste das Osmanische Reich das Gebiet zwischen Dnister und Pruth an Russland abtreten. Bessarabien bildete nun das westlichste und kleinste Gouvernement Neu-Russlands.

Großrussische Interessenpolitik

Der südbessarabische Budschak war nach dem Abzug des türkischen Militärs und der Nogai-Tataren fast menschenleer. Um die wirtschaftliche Entwicklung der neuen russischen Provinz voranzutreiben, warb die russische Kolonisationsbehörde ausländische Kolonisten an. Sie versprach ihnen etwa 60 Hektar Siedlungsland und Freiheitsrechte wie die Befreiung vom Militärdienst und die Religionsfreiheit. Zar Alexander I. (1777–1825) wollte vor allem qualifizierte und arbeitsfähige Einwanderer gewinnen. Gefragt waren jetzt insbesondere erfahrene Bauern, Weingärtner und ländliche Handwerker – eben „fromme und tüchtige Leute“ –, die mit ihren Kenntnissen und mit ihrer Wirtschaftsweise der einheimischen Bevölkerung ein Beispiel geben und damit zur Modernisierung der rückständigen russischen Agrargesellschaft beitragen sollten. Bei dieser Einladung handelte es sich also nicht um eine wohltätige Geste oder eine Armutsmigration, sondern um eine klare Interessenpolitik.

Noch im Jahr 1813 zogen etwa 200 deutsche Familien nach Bessarabien. Sie gründeten dort die ersten Gemeinden, die vom Zaren sogenannte „Gedächtnisnamen“ erhielten. Sie erinnerten an die Schlachtfelder des Krieges gegen Napoleon, zum Beispiel Beresina, Borodino, Leipzig oder Paris.

Eine zweite große Wanderungsbewegung setzte nach der Aufhebung des Auswanderungsverbots im absolutistisch regierten Königreich Württemberg um 1816/17 ein. Unter ihnen waren viele religiöse Dissidenten, zum Beispiel die sogenannten „Chiliasten“, die ein nahes Weltende erwarteten. Sie strebten zum Berg Ararat im Kaukasus, um sich dort auf die „Wiederkunft Christi“ und den für das Jahr 1836 vorhergesagten Anbruch eines „Tausendjährigen Friedensreiches“ vorzubereiten.

Von 1814 bis 1846 wurden 2235 deutsche Familien (etwa 9400 „Seelen“) in deutschen Dörfern angesiedelt. Neben Deutschen und Schweizern siedelte die russische Kolonialbehörde in Bessarabien bis 1828 auch andere Volksgruppen an, unter anderem Bulgaren, die allerdings nur teilweise den Kolonistenstatus und modifizierte Privilegien erhielten.

Trotz der zugesicherten Privilegien waren die Bedingungen für die deutschen Neuankömmlinge anfangs äußerst hart. Während es am Allernötigsten fehlte – vor allem an Unterkünften, Baumaterial und Lebensmitteln –, bereicherten sich korrupte Unterbeamte an den Kronsgeldern und behandelten die Kolonisten wie Leibeigene.

Als kleine Minderheit lebten die deutschen Kolonisten – inmitten der für Bessarabien typischen bunten Vielfalt ethnischer und religiöser Gemeinschaften – mit Moldauern, Russen, Ukrainern, Juden, Bulgaren, Gagausen, Donau-Kosaken, Lipowanern, Armeniern, Griechen, Zigeunern und anderen zusammen.

Odessa wird zum wirtschaftlichen Zentrum

Der Reichtum des Landes liegt in der vorzüglichen Qualität seiner Ackerböden – besonders der hier großflächig und in verschiedenen Variationen verbreiteten Schwarzerde. Die Kolonisten erschlossen und beackerten den fruchtbaren Boden und machten Bessarabien zu einer der Kornkammern des Schwarzmeergebietes. Im russischen Zarenreich, in dem die Leibeigenschaft der einheimischen Bauern erst 1861 von Zar Alexander II. abgeschafft wurde, sollten die ausländischen Kolonisten ein Modell für eine freie und selbstverantwortliche Bauernschaft sein, die nicht durch die Fesseln der Hörigkeit und das Diktat der allgemeinen russischen Verwaltung – mit ihrer ineffektiven und oft korrupten Bürokratie – gebunden war.

Zum städtischen Zentrum für die aufblühende westliche Schwarzmeerprovinz sollte sich die im Jahr 1794 auf den Resten der kleinen tatarisch-türkischen Festung Hadschibei gegründete Stadt Odessa entwickeln. Unter der Verwaltung des neu ernannten Gouverneurs von Neu-Russland, Graf Richelieu, wuchs Odessa rasch zur international orientierten kommerziellen und kulturellen Metropole Südrusslands heran. Ihren rasanten Aufschwung verdankte die Stadt ihrem Freihafen, über den Getreide und sonstige landwirtschaftliche Produkte ausgeführt sowie Handelswaren und Luxusgüter aus dem Ausland importiert wurden. Das florierende Geschäftsleben war vor allem eine Domäne der Juden. Ganz Bessarabien wie auch die Hafenstadt Odessa gehörten zum jüdischen Ansiedlungsrayon, in dem sich Juden frei niederlassen konnten. Sie genossen hier weitere Sonderrechte wie Steuerfreiheit bis 1835.

Im Rahmen der lokalen Selbstverwaltung konnten die Kolonisten demokratische Grunderfahrungen der Mitbestimmung und Gleichberechtigung machen. Dies stand der hierarchischen Gesellschaft, wie sie im zaristischen Russland mit Großgrundbesitzern und leibeigenen Bauern bis weit ins 19. Jahrhundert hinein existierte, diametral entgegen. Die deutschen Kolonisten waren überwiegend Protestanten, es gab nur wenige katholische Dörfer. Innerhalb der Gemeinschaft der Deutschen in Bessarabien bildete sich eine spezifische „Kolonisten-Mentalität“ aus, die teils mitgebracht worden war und sich teils in der neuen Heimat ausgeprägt hatte. Diese soziale Disposition war bestimmt durch die protestantisch-pietistische Religion und eine protestantische Arbeitsethik.

Schwindende kulturelle Autonomie

Im Gegensatz zu großen Teilen der Gesellschaft im zaristischen Russland brachten die Deutschen ein eigenes Schulsystem aus der alten Heimat mit. Der Schulbesuch war für alle Kinder verbindlich, lange bevor in Russland die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde. Die 1906/08 gegründeten Gymnasien für Mädchen beziehungsweise Jungen waren auch für Angehörige anderer Volksgruppen offen. Nicht nur was die Schulbildung betraf, waren die Frauen prinzipiell gleichgestellt: Sie waren erbberechtigt, sie konnten Bauernwirtschaften führen und besaßen das Wahlrecht. Erst die völkische „Erneuerungsbewegung“ übte Druck aus, um die Frauen vom Wählen abzuhalten. Insgesamt ergibt sich das Bild einer vergleichsweise aufgeklärten und zumindest in ökonomischer Hinsicht fortschrittsorientierten Gesellschaft.

Nach der Russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg kam Bessarabien 1918 unter rumänische Oberhoheit. Diese Zäsur sicherte zunächst das Überleben der deutschen Minderheit in ihrer gewohnten Umgebung. Sie hatte jedoch tiefe Einschnitte im wirtschaftlich-sozialen und kulturellen Leben der Deutschen zur Folge.

Die rigide Minderheitenpolitik der rumänischen Regierung bewirkte zudem, dass die Deutschen die ihnen 1918 ausdrücklich garantierte kulturelle Autonomie zusehends bedroht sahen. Die deutschen Volksschulen wurden verstaatlicht, der Anteil der deutschen Lehrer gezielt vermindert und schließlich auch die deutsche Sprache nicht mehr als Unterrichtssprache erlaubt. Mit dem Aufkommen der nationalistischen Ideologien mit ihrer Rassentheorie Anfang der 1930er Jahren wurden, sowohl in Deutschland als auch in Rumänien, rassistische Ausgrenzungen und Diskriminierungen zunehmend politisch legitimiert.

Im Herbst 1940 wurden infolge des „Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrages“ vom 23. August 1939 (der sogenannte „Hitler-Stalin-Pakt“) 93.500 Bessarabiendeutsche ausgesiedelt. Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung war im Prinzip „freiwillig“, jedoch faktisch ohne echte Alternative. Denn in Bessarabien war man über die Folgen der Sowjetisierung im benachbarten Südrussland gut informiert. Nur etwa 2000 Personen blieben zurück, meist aus familiären Gründen. Der größte Teil der Umsiedler wurde nach längerem Aufenthalt in rund 800 Lagern 1941/42 im besetzten Polen angesiedelt.

Dann ging es „heim ins Reich“

Was den Deutschen als „Rettungsaktion“ aus dem sowjetischen Machtbereich erschien, nutzte das NS-Regime als Einstieg in seine rassistische Siedlungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik in Osteuropa. Im Januar 1945 flüchteten die umgesiedelten Bessarabiendeutschen, wie auch Millionen Flüchtlinge aus anderen östlichen Regionen, vor der Roten Armee nach Westen und mussten sich im Nachkriegsdeutschland eine neue Existenz aufbauen. Vielen gelang dies nicht mehr, weil sie auf der Flucht in Gefangenschaft gerieten und in sowjetische Lager deportiert wurden. Bessarabien gehört heute teils zur Ukraine, teils zur Republik Moldau. Beide Staaten sind aus ehemaligen Sowjetrepubliken hervorgegangen und erklärten 1991, nach dem Zerfall der Sowjetunion, ihre Unabhängigkeit. Seitdem sind sie allerdings nicht zur Ruhe gekommen. Sie laborieren immer noch und immer wieder an Konflikten, die einerseits, als Erbschaft der Sowjetzeit, aus inneren Spannungen resultieren oder die ihnen andererseits von außen aufgezwungen wurden, wie 2014 die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und des Donbass durch Russland und seit dem Frühjahr 2022 der brutale Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine. Auch die Republik Moldau ist insofern bedroht, als in der von Moskau unterstützten abtrünnigen Teilregion Transnistrien russische Truppen stationiert sind.


Buchtipp


Ute Schmidt

Bessarabien: Deutsche Siedlungen am Schwarzen Meer

Potsdamer Bibliothek östliches Europa 2022,

427 Seiten, 19,80 Euro

Ute Schmidt
Dr. Ute Schmidt ist Historikerin und lehrt an der Freien Universität Berlin. Themen ihrer Publikationen sind unter anderem Flucht, Vertreibung und Deportation am Ende des Zweiten Weltkriegs.