https://rotary.de/wirtschaft/mut-zum-bruch-a-24958.html
Titelthema

Mut zum Bruch

Titelthema - Mut zum Bruch
© Illustration: Skizzomat/Marie Emmermann

Das Erfolgsmodell der deutschen Industrie funktioniert nicht mehr. Gedanken zum Status quo und Ideen für die Zukunft

Werner Plumpe01.03.2025

Im späten 19. Jahrhundert entstand in Europa, und das war damals die Herzkammer der Weltwirtschaft, eine grenzüberschreitende wirtschaftliche Arbeitsteilung, die sich im Grunde bis in die Gegenwart behauptet hat. Das alte Industrieland Großbritannien war zwar weiterhin industriell bedeutend, doch verschoben sich die Gewichte dort langsam hin zu den Finanzdienstleistungen, für die London in jener Zeit geradezu sprichwörtlich wurde. Frankreich, agrarisch ohnehin stets in einer besonders günstigen Lage, besaß zwar auch industrielle Schwerpunkte, doch fehlten dem Land die Ressourcen, die für den Aufbau großer industrieller Komplexe notwendig waren, namentlich die großen Kohlevorkommen.


Hören Sie hier den Artikel als Audio!

Einfach anklicken, auswählen und anhören!


Hingegen waren andere Schwerpunkte möglich und wurden erfolgreich genutzt, insbesondere in den kulturell naheliegenden Bereichen von Luxusindustrie, Lebensmittelerzeugung und – kurz gesagt – Champagner. Damit war Frankreich so erfolgreich, dass es sich einen hohen Lebensstandard und international eine starke Gläubigerposition erarbeiten konnte, etwas, das dem Nachbarn im Osten, Deutschland, weitgehend fehlte.

Starker Partner

Dafür gab es hier andere Stärken, die schließlich auch genutzt wurden, namentlich den Reichtum an Kohle, ein großes, recht gut ausgebildetes und im internationalen Vergleich „preiswertes“ Arbeitskräftepotenzial, ein nach und nach immer leistungsfähiger werdendes System von Forschung und Entwicklung und damit die Basis für die rasche Entwicklung der damals neuen Industrien, vor allem im Bereich der Elektrotechnik, der Chemie, der Feinmechanik und Optik und des Maschinenbaus. Das Auto, das es bereits gab, spielte in Deutschland hingegen zumindest von der Massenproduktion her noch keine Rolle; dazu waren hier die Einkommen zu niedrig. Aber in den anderen neuen Industrien der Zeit entfalteten die deutschen Unternehmen eine ungeheure Dynamik und wurden auf diesen Gebieten schließlich die wichtigsten und erfolgreichsten Anbieter nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. „Made in Germany“, von der englischen Politik vorgeschrieben, um die Verbraucher vor Ramsch zu warnen, wurde zum Markenzeichen.


Dieses Muster der Arbeitsteilung, in dem die deutsche Wirtschaft die Rolle des Lieferanten von hochwertigen Ausrüstungs- und Investitionsgütern sowie weiteren Industrieprodukten übernahm, überdauerte auch die großen Konflikte und Krisen des 20. Jahrhunderts. Es war einer der Hauptgründe, weshalb nach dem Zweiten Weltkrieg zumindest die westeuropäische wirtschaftliche Arbeitsteilung unter Einbeziehung Westdeutschlands so rasch wiederhergestellt wurde. An sich war in den Staaten, die unter der deutschen Kriegsführung gelitten hatten, kaum jemand geneigt, Westdeutschland wieder als Partner zu akzeptieren, doch zeigte sich rasch, dass ohne die deutsche Wirtschaft in vielen Ländern die für den Wiederaufbau notwendigen Güter fehlten. Um sie in den USA kaufen zu können, benötigte man Dollar. Doch gerade an Dollar mangelte es den europäischen Volkswirtschaften, die mithin vor großen Problemen standen, solange die Besatzungsmächte die deutsche Wirtschaft restriktiv behandelten und den Außenhandel stark beschränkten. 

Wirtschaftswunder

Erst als klar war, dass im beginnenden Kalten Krieg ein Scheitern des westeuropäischen Wiederaufbaus erhebliche Risiken barg, änderte sich die Politik der USA. An die Stelle von Kontrollen und Demontagen trat der Marshallplan, der Westeuropa mit Dollarkrediten unter der Bedingung half, Westdeutschland in die ökonomische Rekonstruktion miteinzubeziehen. Die schließlich mit der EGKS und der EWG gefundene Struktur gegenseitiger Wirtschaftskontrolle machte den Weg zu erneuter Kooperation frei, ein Weg, den die westdeutsche Wirtschaft konsequent beschritt. Nach der eigentlichen Gründungs- und Aufbauphase vor 1914, dem wilhelminischen Wirtschaftswunder, setzte nun eine zweite Gründungs- und Entwicklungsphase ein, das Wirtschaftswunder der 1950er bis 1970er Jahre, heute auch als der „Boom“ bekannt. Westdeutschland bezog wieder seine alte Rolle als bevorzugter Lieferant von Investitionsgütern und Industrieprodukten. In etwa zwei Jahrzehnten vervierfachte sich die Wirtschaftsleistung, getragen zunächst vom Wiederaufbau, mehr aber noch vom rasch einsetzenden industriellen Strukturwandel, den die Bonner Regierungen massiv begünstigten.

Die industriellen Dinosaurier, der Kohlebergbau und die Eisen- und Stahlindustrie mit dem Ruhrgebiet als Zentrum, verloren seit dem Ende der 1950er Jahre an Glanz und Bedeutung und wurden nach und nach aufgegeben. Hingegen boomten die Elektrotechnik, die Chemie, der Maschinenbau und die Feinmechanik und Optik, um nur diese Beispiele zu nennen, die zudem davon profitierten, dass viele ost- und mitteldeutsche Unternehmen sich in Westdeutschland neue Standorte suchen mussten. Diese fanden sie zumeist in Süd- und Südwestdeutschland: Das Rhein-Main-Gebiet, der Rhein-Neckar-Raum und der Großraum München lösten die alten Zentren in Berlin, Sachsen und an der Ruhr ab. Neue Unternehmen und Produkte spielten eine gewaltige Rolle.

Erste Exporterfolge

Das Öl, preiswert auf den deutschen Markt gedrückt, verdrängte die Kohle als Energieträger und Rohstoff; in der chemischen Industrie entstanden neue, sehr leistungsfähige Produktionsbereiche. Auch die Automobilindustrie, deren Wurzeln vor dem Ersten Weltkrieg lagen, begann ihren Siegeszug, namentlich der VW-Käfer brachte es zum Symbol des Wirtschaftswunders, das er auch insofern verkörperte, da er frühzeitig zum Exportschlager wurde. Die Rückkehr auf die Weltmärkte war neben dem großen, recht preiswerten Arbeitskräftepotenzial zweifellos einer der Erfolgsfaktoren jener Jahre. Zwar noch weit davon entfernt, Exportweltmeister zu sein, erzielte die westdeutsche Industrie früh große Exporterfolge. So gelang es schließlich, die Handelsbilanz auszugleichen und damit auch der D-Mark im internationalen Währungssystem von Bretton Woods eine stabile Stellung zu verschaffen. Diese Erfolge profitierten von einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die neben der strikten Stabilitätsorientierung vor allem auf die Begünstigung von Investitionen setzte, die steuerlich zeitweilig massiv gefördert wurden. Das bedingte, angesichts der Mängel des deutschen Kapitalmarktes infolge des Krieges, eine Investitionsfinanzierung durch einbehaltene Gewinne und/oder enge Bankverbindungen – eine Konstellation, die bei der Entstehung der Deutschland AG, der Überkreuzbeteiligung von Unternehmen, Banken und Finanzinstitutionen, Pate stand.

Neuausrichtung

Bis in die frühen 1970er Jahre war dieses Modell überaus erfolgreich. Dann lief die Rekonstruktionsphase aus und die normalen konjunkturellen Zyklen kehrten zurück. Als 1973/74 die Ölpreiskrise ausbrach und den konjunkturellen Abwärtstrend verstärkte, hatte sich auch die Weltwirtschaft geändert. In den 1970er Jahren trat sie in eine neue Phase ein. Insbesondere Anbieter aus dem Fernen Osten lieferten jetzt Industrieprodukte zu Preis und Qualität, denen die europäische Konkurrenz in bestimmten Bereichen wenig entgegenzusetzen hatte. Ganze Industriezweige verschwanden in wenigen Jahren oder wurden auf kleine Bereiche reduziert, angefangen bei der Textilindustrie über die Unterhaltungselektrotechnik und den Schiffbau bis hin zur Spielwarenherstellung. Andere, wie der Automobilbau, gerieten unter erheblichen Druck.

In dieser schwierigen Zeit gelang es der westdeutschen Industrie, sich gleichwohl zu behaupten, auch wenn viele wenig produktive Bereiche aufgegeben werden mussten und die Arbeitslosigkeit anstieg. Hilfreich war wiederum die Wirtschafts- und Finanzpolitik vor allem der Bundesbank, dann auch der Bundesregierung, die die Inflation jener Zeit niedrig hielt (im internationalen Vergleich) und die D-Mark stabilisierte, die nach den Ölpreisschocks deutlich aufwertete. Die Flucht in den Billigexport war damit verstellt. Insbesondere die Erneuerung der Automobilindustrie konnte nur durch striktes Kostenmanagement einerseits und Produktinnovationen andererseits gelingen, was so auch für andere Bereiche, etwa den Maschinenbau, galt. Und das gelang. Der spektakuläre Aufstieg bestimmter deutscher Autohersteller und die Herausbildung umfassender industrieller Cluster in ihrem Umfeld markieren diesen Wandel, der Ende der 1970er Jahre einsetzte und im Grunde bis vor Kurzem anhielt. Gestützt durch die strikte Orientierung an einer produktivitätsorientierten Lohnpolitik und die Sicherstellung eines Zugriffs auf günstige Energie (vor allem Öl, Atomenergie und zuletzt Erdgas), gelang es gegen den internationalen Trend, eine relativ starke industrielle Position zu halten, ja in vielen Bereichen deren internationale Bedeutung sogar noch auszubauen. Die große Anzahl sogenannter „hidden champions“, Technologieführer im Bereich kleiner und mittlerer Unternehmen, ist hierfür der eindrucksvollste Beleg. Das Festhalten an der Industrie wurde zwar viel belächelt, war jedoch einer der Gründe, weshalb die große Finanzkrise 2007/08 im deutschen Fall vergleichsweise glimpflich verlief.

Seither scheint das Land allerdings wie erstarrt. Viele der alten Erfolgsfaktoren der deutschen Wirtschaft gibt es nicht mehr oder sind verblasst, wie das Ausbildungsniveau der Arbeitskräfte, die Lohnhöhe im internationalen Vergleich, die niedrigen Energiekosten, die gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur. Der Staat ist zwar vom Umfang größer als je zuvor und hat auch so viel Geld zur Verfügung wie nie in werner plumpe ist Professor em. für Wirtschaftsund Sozialgeschichte. Von 1999 bis 2022 lehrte er an der GoetheUniversität Frankfurt am Main. der Geschichte, doch wird es unproduktiv verwendet. Öffentliche Investitionen sind selten, die Steuerlast ist enorm und der bürokratische Druck gewaltig. Die Unternehmen halten sich mit Investitionen zurück oder verlagern gleich ihre Standorte ins Ausland. Die sogenannte ökologische Transformation ist teuer und wenig effektiv; nicht einmal die mit ihr angestrebten Klimaziele werden auch nur annähernd erreicht. Zugleich verliert das Land an Wettbewerbsfähigkeit. Seine alte Rolle als zuverlässiger Lieferant hochwertiger Industriegüter ist noch nicht dahin, aber die Konkurrenz ist gewaltig. Soll es besser werden, hilft es, sich an historisch gelungene Beispiele zu erinnern: Nicht um diese nachzumachen, das ist unmöglich. Aber der Wiederaufbau nach dem Krieg, vor allem die technologischen Entwicklungsschübe seit den späten 1970er Jahren geben eine klare Richtung vor, nämlich eine technologieorientierte industrielle Erneuerung zu betreiben, die sich an zentralen Markterwartungen orientiert. Neben den Anstrengungen der Unternehmen ist dafür ein anderes wirtschafts- und finanzpolitisches Umfeld entscheidend. Der Staat muss effizienter, kleiner, preiswerter werden, seine Allzuständigkeitsansprüche aufgeben, die Grenzen von Wirtschaft und Politik akzeptieren und darauf verzichten, Industriepolitik gegen die Märkte zu betreiben.

Auf die neue Regierung kommen also große Herausforderungen zu. Erfolg wird und kann sie haben, wenn sie die Schwäche des Standorts endlich zur Kenntnis nimmt und mutig gegensteuert, auch unter Aufgabe von teuren und wenig effizienten Maßnahmen, die in der Vergangenheit die Lage eher noch verschlimmerten. Manchmal kann nur ein Bruch helfen, doch wird die weltwirtschaftliche Konstellation wenig anderes zulassen. Der Mut zum Bruch ist daher nur zu wünschen.


Meilensteine der deutschen Wirtschaftsgeschichte

1947
Marshallplan
Die USA vergeben Kredite und liefern Waren, Rohstoffe und Lebensmittel. Zwischen 1948 und 1952 werden insgesamt rund 12,4 Milliarden Dollar bereitgestellt. Davon fließen 1,5 Milliarden Dollar nach Westdeutschland.

1948
Währungsreform
Mit der Einführung der D-Mark am 21. Juni 1948 werden Löhne, Gehälter und Mieten im Verhältnis 1:1 umgewertet. Damit ist ein wichtiger Schritt zur Marktwirtschaft eingeschlagen. Im Osten werden die alten Reichsmarkscheine zunächst mit Coupons beklebt.

1957
EWG
Im März 1957 gründeten sechs Staaten die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Das Ziel war die europäische Integration durch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik.

1950 - 1970
Wirtschaftswunder

Die Zeit zwischen 1950 und 1970 wird als zweites deutsches Wirtschaftswunder bezeichnet. Um 1970 war die Phase des Wiederaufbaus weitestgehend abgeschlossen.

2008
Weltfinanzkrise

Im Jahr der Finanzkrise verliert Deutschland seinen Status als Exportweltmeister, den es seit 2003 innehatte. Heute liegt Deutschland hinter China und den USA auf Platz 3.