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Gehen oder bleiben?

Titelthema - Gehen oder bleiben?
Mehrseitgehöft: Im Alpenvorland, hier im oberbayerischen Greiling, sind die Gebäudeteile meist miteinander verbunden © Getty Images

Die Siedlungsformen längst vergangener Tage sind Folgen regionaler Bodenbeschaffenheit. Eine kleine Kulturgeschichte der Böden Mitteleuropas und ihrer Nutzung

Hansjörg Küster01.03.2021

Mitteleuropa wurde im Lauf der Erdgeschichte immer wieder von flachen Meeren überflutet. Dort setzte sich kalkhaltiges oder sandiges Sediment ab; zu Zeiten bildeten sich große Sümpfe, in denen Torf entstand. Schicht blieb über Schicht liegen, die Sedimentpakete wurden immer schwerer und pressten alles zusammen, was darunter lag. So entstanden Gesteine: Aus Kalk wurde Kalkstein, aus Sand Sandstein, aus Torf Kohle.

Die Kontinentalmassen verschoben sich auf der Erdoberfläche, zerbrachen und kollidierten. Die afrikanische Erdplatte traf auf die europäische, beide Platten überschoben sich, die Alpen entstanden. Anderswo wurden Gesteinsschichten schräg gestellt. An ihren Bruchkanten ragen die Schichten steil auf und bilden Gebirge, die an der anderen Flanke flach abfallen. So entstand die Schwäbische Alb.

Im Eiszeitalter, in den vergangenen zwei bis drei Millionen Jahren, sank die Temperatur mehrmals um etwa zehn Grad ab. Dann bildeten sich über Nordeuropa und den Alpen große Gletscher, die den Fels unter sich abschürften und zermahlten. Das Eis schob Schutt zu Moränen zusammen. Schmelzwasser riss lockeres Material mit sich. Es blieb liegen, wenn die Kraft des Wassers erlahmte. Sand und feinere Partikel trockneten ab und wurden vom Wind verweht: An den Flüssen entstanden Dünen, feinere Gesteinsbestandteile wurden als Löss weiter verweht.
Er blieb in den Senken vor und zwischen den Gebirgen liegen. Von den Bergen wurde er wieder abgespült, auch dort beseitigt, wo Bäche kleine Täler schufen.

Nach dem Schmelzen des Eises entstanden Grasländer, dann einförmige Wälder, die fast alles Land überzogen. Doch nun begannen Menschen, Wälder zu roden und Landwirtschaft zu betreiben. Sie brauchten Bau- und Brennholz, auf den Lichtungen legten sie Felder an, um Kulturpflanzen anzubauen. Tiere wurden auf die Weide getrieben und auch in den Wald, wo es ebenfalls nahrhafte Pflanzenteile gab. Das sind schon fast alle Gemeinsamkeiten, die man über Menschen berichten kann, die hierzulande Landwirtschaft betrieben. Böden auf Löss, Kalk oder Sandstein erfordern eine unterschiedliche Bewirtschaftung – es gibt trockene und feuchte Gebiete, milde und kühle. Die Unterschiede der Agrarlandschaften und deren Bewirtschaftung wurden im Lauf der Zeit eher größer als kleiner, die Gehöfte wurden so gebaut, dass man sie optimal nutzen konnte, und das Land wurde von ihnen geprägt. Es gibt so zahlreiche Entwicklungen, dass man sie kaum kurz beschreiben kann. Daher werden einige Aspekte hervorgehoben – sie sind Beispiele dafür, wie unterschiedlich man mit dem Boden umging und umgeht, um Landwirtschaft so zu betreiben, dass alle Menschen satt werden.

7000 Jahre Ackerbau auf Lössböden

In dem riesigen Gebiet von Westungarn und Ostösterreich bis zum Nordrand der Mittelgebirge wählten die Menschen zuerst diejenigen Böden zum Ackern, die sich leicht bearbeiten ließen. Das waren die Lössböden, in denen es fast keine Steine gab. In den Senken war das Klima relativ warm, und im Sommer gab es häufig eine Trockenperiode, in der Korn reifte und geerntet werden konnte. Die Lössgebiete waren schon vor mehr als 7000 Jahren die Kernregionen des Ackerbaus und sind es bis heute geblieben, weil sich herausstellte, dass man die Böden nicht nur gut pflügen konnte, sondern dass im feinen Löss auch vielfältige Mineralstoffe enthalten waren, die Pflanzen gut wachsen ließen. Lössgebiete sind die Börden am Nordrand der Mittelgebirge, die sich vom Pariser Becken bis in die Ukraine entlangziehen, und die kleineren intramontanen Gebiete, die man vielerorts Gäu- oder Gaulandschaften nennt. Die dortigen Bauernhöfe bestehen typischerweise aus mehreren Gebäuden, die im rechten Winkel aneinanderstoßen: Dreiseit- und Vierseithöfe. Man brauchte ein Wohnhaus, einen Stall und eine Scheune, auf dem Innenhof wurde zum Beispiel gedroschen. Die Tiere weideten in den Tälern, wo unter abgespültem Löss härteres Gestein zum Vorschein kam, das man schlecht pflügen konnte. Im nahen Bach kam das Weidevieh jederzeit an Wasser. Hirten trieben die Tiere auch in umliegende Wälder.

Fast ebenso fruchtbar sind die Böden, die die Gletscher in der letzten Eiszeit, vor etwa 20.000 Jahren, zu Moränenhügeln zusammengeschoben hatten. Dort setzte der Ackerbau wenig später ein als in den Lössgebieten: im Alpenvorland und im Land an der Ostsee. Auch hier gibt es heute Mehrseitgehöfte, deren Wohnhäuser und Ställe in Schleswig-Holstein und Mecklenburg locker aneinanderstoßen, in Oberbayern und im österreichischen Alpenvorland miteinander verbunden sind. Am Rand der Alpen konnte man so den Schnee abwehren, und man kam in den Gebäuden oder unter ihren Vordächern trocken von einem Betriebsteil zum anderen.

Alles anders in den Kalkgebieten

In den Alpen siedelte man erstmals um 4000 vor Christus, vielleicht sogar noch ein wenig früher, und im Prinzip tat man das ähnlich wie heute. In den breiten Tälern, die einst Gletscher geschaffen hatten, betrieb man Ackerbau. Heu als Winterfutter schnitt man an Eschen, Linden, Ulmen oder Ahorn. Sie trieben nach dem „Lauben“ wieder aus. Später gewann man mehr Grasheu auf Wiesen als Laubheu von den Bäumen. Das Vieh verbrachte mit den Hirten oder Sennen den Sommer auf der Alm: Durch die Wälder an den steilen Hängen der vom Eis geschaffenen Täler trieb man die Tiere in die natürlicherweise waldfreien Höhenlagen, wo sie kräftiges Gras und Kräuter fraßen. Milch konnte nicht jeden Tag ins Tal gebracht werden; so machte man haltbaren Käse, aß ihn entweder im Winter selbst oder verkaufte ihn in die Städte.

Etwa zur gleichen Zeit ist der älteste Ackerbau in den trockenen Geestgebieten Norddeutschlands nachweisbar, die in früheren Eiszeiten entstanden und während der letzten Eiszeit großenteils eingeebnet worden waren. Oft war nur unfruchtbarer Sand zurückgeblieben. Man konnte den Boden gut bearbeiten, weil er nur wenige Steine enthielt. Man sammelte die Findlinge als kostbares Baumaterial und baute vor Jahrtausenden Großsteingräber, im Mittelalter aber Feldsteinkirchen; später pflasterte man Straßen mit den bunten Steinen, die das Eis aus unterschiedlichen nördlichen Regionen herangeschoben hatte. Bei guter Düngung kann man heute auch gute Erträge auf Geestböden erzielen.

Ganz anders funktionierte Landwirtschaft in den Kalkgebirgen, etwa der Schwäbischen und Fränkischen Alb, wo man vor etwas mehr als 4000 Jahren die ersten Äcker anlegte und Vieh hielt. Kalk ist wasserlöslich; daher versickert Regenwasser und bildet im Untergrund Höhlen. Nur in Senken ist genug Wasser vorhanden, um Äcker anzulegen. Dort gibt es auch Hülen, Dorfteiche. Um die Wasserbecken herum entstanden Siedlungen. Platz für Wiesen gibt es vielerorts nicht. Das Weidevieh, vor allem Schafe, weidet auf steinigen Böden oberhalb der Siedlungen. Im Winter ziehen Schäfer mit den Tieren in die Senken, treiben sie über abgeerntete Felder, wo noch karge Reste von Pflanzen vorhanden sind. Nachts stellt der Schäfer einen Pferch auf; der Kot der darin gehaltenen Tiere düngt den Boden.

In der Eisenzeit, in den letzten Jahrhunderten vor Christi Geburt, vielerorts auch erst in der Römerzeit oder im Mittelalter, gelang es, auch steinige Mittelgebirge zu besiedeln, wo feine Decklehme längst abgespült worden waren. Dort brauchte man zum Pflügen eisernes Gerät, und man musste Grasheu für die lange Zeit der Winterfütterung im Stall gewinnen: Im Bergland dauert der Winter länger und es regnet häufiger. Die Stallhaltung bringt einen großen Vorteil mit sich: Man gewinnt Dünger für die Äcker, um die Erträge zu verbessern. Viel Ackerland in den Bergen wurde in den vergangenen Jahrzehnten aufgegeben, vielerorts findet man nur noch Grünlandbetriebe mit Viehhaltung. Die Bauernhöfe im Gebirge sind typischerweise Einhaushöfe, in denen man unter einem Dach mit dem Vieh lebt. So kann man auch dann in den Stall kommen, wenn draußen der Schnee meterhoch liegt. Ein Beispiel für ein solches Gebäude ist der Schwarzwaldhof.

Zwei verschiedene Siedelweisen

Auch in Norddeutschland baute man Einhaushöfe, Niederdeutsche Hallenhäuser, in denen Menschen und Tiere unter einem Dach lebten. Sie entstanden nicht nur auf der Geest, sondern auch in den Nordseemarschen, zunächst auf Warften, künstlichen Hügeln, dann hinter dem Deich, um sie vor hohen Meeresfluten zu schützen. In den baumlosen Marschen musste Holz mühsam herbeigeschafft werden, so dass man sparsam damit umging. Dennoch entstanden Höfe von imposanter Größe, beispielsweise die Haubarge von Eiderstedt. Wenige Baumstämme, oft aus Skandinavien importiert, stützen die gewaltigen Dächer.

Im Lauf der Zeit gab es zwei grundsätzlich verschiedene Siedelweisen. Entweder bestanden Siedlungen nur für einige Jahrzehnte und wurden dann aufgegeben und verlagert. Oder die Siedlungen blieben an Ort und Stelle bestehen. Ortsfeste Siedlungen gab es um Christi Geburt nur im römisch besiedelten Gebiet; sie breiteten sich nach Norden aus. Erst im hohen Mittelalter kam die Bildung ortsfester Siedlungen nach Osten voran. Dort wohnten sowohl Slawen als auch Deutsche, die sich im Osten neu ansiedelten. Adlige legten große Gutshöfe an, vielerorts florierende Unternehmen. Unter sozialistischem Einfluss wurden viele Güter zu Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften riesigen Ausmaßes. Und nach der Wende übernahmen etliche Agrarunternehmer die großen Landbesitzungen. Sie sind wirtschaftlich erfolgreich – auch im Westen besteht die Tendenz, Landbesitz auszuweiten und größere Betriebe zu bilden. Das hat nicht nur Vorteile, sondern begünstigt auch die Bodenerosion: Es kommt immer wieder zu Staubstürmen, vor allem in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg.

Landwirtschaft ist aber immer erfolgreich gewesen in Mitteleuropa, erstaunlicherweise erfolgreicher als im Herkunftsgebiet des Ackerbaus, im Nahen Osten. Mitteleuropa ist seit Jahrtausenden eine der wichtigsten Agrarregionen der Welt, von der die Ernährung der Menschheit abhängig ist. Es ist essenziell, dass das so bleibt. Daher ist es so wichtig, auf den Boden zu achten – in all den vielfältigen Regionen, in denen man eigene Formen von Landwirtschaft in den vergangenen Jahrtausenden gefunden hat.


Buchtipp

 

Hansjörg Küster

Die Alpen: Geschichte einer Landschaft

C.H. Beck 2020,

127 Seiten, 9,95 Euro

chbeck.de

Hansjörg Küster

Prof. Dr. Hansjörg Küster ist seit 1998 Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz Universität Hannover. Seine Arbeitsgebiete sind vor allem Grundlagen von Ökologie und Landschaft sowie Landschaftsgeschichte. Außerdem ist Küster Präsident des Niedersächsischen Heimatbundes. Zuletzt erschien „Nordsee. Die Geschichte einer Landschaft“, (Wachholtz Verlag, 2015).

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