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Die Kulturellen Aspekte der Ökonomie

Gehört das Wachstum uns allen?

Tomas Sedlacek02.04.2012

Plato glaubte an gemeinsames Eigentum, genau wie die frühe Kirche und in jüngerer Zeit auch die Kommunisten (wie dieser religiöse und spirituelle Glaube zu einem weltlichen Gedanken wurde, ist ein anderes, ziemlich spannendes Thema). Aristoteles brachte die Befürwortung des Privateigentums auf und zeigte sie an einer der ältesten Wirtschaftstheorien, der sogenannten „Tragedy of the Commons“, im Deutschen als „Tragik der Allmende“ bezeichnet. Wenn eine Sache (zum Beispiel eine Viehweide) ein Allgemeingut ist, wird sie überbeansprucht und die Pflege vernachlässigt.

Allgemeine Tragödie
Dies klingt wie eine Kritik am Gemeinschaftseigentum und ist es in gewisser Weise auch; man sollte diesen Gedanken jedoch nicht nur oberflächlich betrachten, das Argument geht weit mehr in die Tiefe: Manche Dinge können nur das Gemeinschaftseigentum aller (oder vieler) sein. Die Frage lautet, wie sich hier zu verhalten und was zu tun ist; und wenn ein solches Allgemeingut erforderlich ist, wie die Tragödie zu vermeiden oder zu minimieren ist.

Luft ist beispielsweise ein Allgemeingut aller Menschen. Hier tritt eine Überbeanspruchung auf (Luftverschmutzung), und es muss damit umgegangen werden. Beim Auftreten eines solchen Problems sind die klassischen Wirtschaftstheorien ziemlich hilflos – während eine Arbeitsteilung einigermaßen gut funktioniert (mit allen ihren Nebenwirkungen), ist dies bei einer Aufteilung der Verantwortung – ganz zu schweigen von einer flächendeckenden Verteilung – nicht der Fall. Auch wenn dies stellvertretend zum Beispiel bei den Kohlendioxidemissionen erfolgen kann, ist doch der Preis für die Emissionen „künstlich“, er entstammt nicht dem Marktinneren, sondern muss von außen (von der Politik) festgelegt (und vereinbart) werden. Es gibt jedoch noch mehr interessante Fälle von Allgemeingut. Beispielsweise ist schon die Idee eines Marktes, der den Preis bestimmt und in einer Rolle eines (besseren oder schlechteren) Koordinators menschlicher Aktivitäten handelt, eigentlich ein Allgemeingut. Man kann nicht vom Markt ausgeschlossen werden, außer aufgrund eines Gesetzesbruchs. Der Markt sind wir, und wir sind der Markt. Wer diesen gemeinsamen Koordinator lenkt, der dazu neigt, ein Eigenleben zu besitzen, ist eine Fragestellung, zu der wir später zurückkehren.

Das Internet stellt ebenfalls einen interessanten Fall dar. Hier nimmt der Wert nicht mit steigender Nutzung ab, wie dies bei den meisten Gütern üblich ist, sondern er steigt sogar mit der Menge der Nutzer. Der Schlüssel hierzu liegt in dem Umstand, dass das Internet niemanden gehört. So wie Bowling kein Sport für eine Einzelperson ist, kann es kein Internet nur für eine Person geben. Je mehr Menschen es nutzen, desto größer wird sein Wert. Geld zeigt im Prinzip eine ähnliche Eigenschaft. Es scheint „uns“ zu gehören; wenn es jedoch nur uns gehörte, wenn ich der Einzige wäre, der Geld benutzt, hätte es für mich überhaupt keinen Nutzen. Der entscheidende Punkt ist hier, dass Geld von allen Mitgliedern der Gesellschaft respektiert und akzeptiert werden muss. Geld ist ein gemeinsamer Pakt zwischen den Menschen einer gegebenen Kultur – nicht mehr, allerdings weitaus entscheidender, aber auch nicht weniger. Das Wesentliche an Geld ist das Vertrauen: der ungeschriebene gesellschaftliche Vertrag, dem wir alle implizit zustimmen, den wir aufs Höchste schätzen, und dieses Vertrauen ist ein öffentliches Gut. Es kann nicht privat sein. Während Geldbeträge und -summen auf unseren (wiederum vollständig virtuellen) Bankkonten (die sich auf magnetische binominale Verzeichnisse von Nullen und Einsen belaufen) liegen, sind sie nur „unser”, weil jeder diese Vereinbarung respektiert und akzeptiert. Wenn jemand damit beginnen würde, dies nicht zu akzeptieren und diese Einstellung sich verbreitete, würde dies zum Kollaps führen und Geld nur für diejenigen funktionieren, die daran glauben. Es ist dieser allgemeine Glaube, der Geld „echt” werden lässt und ihm seinen Wert verleiht. Und dieser Glaube ist so tief verankert, dass wir davon nicht einmal als einem Glauben denken, sondern ihn als gegeben, als eine Tatsache betrachten.

Sprechen wir über Geld, so müssen wir hier realisieren, dass die Geldpolitik  anders als die Fiskalpolitik nicht zum echten demokratischen Interessensbereich gehört, auch wenn dies eine der Säulen der demokratischen Gesellschaften ist. Der Leiter der Zentralbank wird, obwohl er über ein „Gemeinschaftsgut" entscheidet, nicht in demokratischen Wahlen gewählt, sondern er wird ernannt. Können Sie sich vorstellen, wie die Wahl eines Leiters der Zentralbank aussehen würde? Und welche Kandidaten gewinnen würden? Dies ist übrigens ähnlich bei Richtern, einer anderen Säule der Demokratie; allerdings ist das Rechtssystem im eigentlichen Sinne nicht demokratisch. Man wählt diese Personen nicht, und es ist auf diese Weise besser geregelt. Der oberste Leiter der Zentralbank ist nur gegenüber der Verfassung verantwortlich, nicht gegenüber seinem Wahlkreis. Und so sollte der Leiter der Zentralbank eigentlich gegenüber der allgemeinen Vox populi immun sein. So gestatten wir es in manchen Gemeinschaftsbereichen noch nicht einmal, dass Demokratie (die Stimme „aller“) hier Zutritt erhält.

Wem gehört das Wachstum?
Wir neigen dazu, dem Wirtschaftswachstum nahezu messianische Eigenschaften zuzuschreiben. Wir betrachten es oftmals als das Heilmittel für beinahe alle Probleme, während ohne Wachstum all unsere Hoffnung schwindet und wir das Gefühl des apokalyptischen Zusammenbruchs haben. Wir nehmen vom Wachstum an, dass es zu einem säkularen Himmel auf Erden führt. Wir neigen sogar dazu, seit kurzem demokratischen Kapitalismus mit Wachstum zu verwechseln. Das Problem ist jedoch nicht das Wachstum an sich, sondern die Weiterverteilung des Wohlstands. Es ist interessant zu beobachten, dass diejenigen, die mit der Notwendigkeit des Wachstums argumentieren, üblicherweise mit „den Armen und/oder Arbeitslosen” argumentieren, die „vom Wachstum profitieren". Es ist, als würden wir (nahezu altruistisch) für die Armen Wachstum erreichen.

Gemeinsames Gut, gemeinsames Böse
Wenn wir uns nun tatsächlich so um die Armen sorgen, dann gibt es andere, einfachere Wege, um dies zu tun. Und es geht hierbei auch um ein ganz anderes Problem. Wir sollten also nicht die Wachstumsdebatte mit der Debatte über die Verteilung des Wohlstands verwechseln. Der „Trickle down“-Ansatz bei der Wachstumstheorie, also das sogenannte Durchsickern, könnte eine Antwort für das Problem der Armut sein, wenn auch nur eine sehr schwache. Das Problem liegt darin, dass Wachstum nicht sehr effizient zu einer Anhebung des Lebensstandards der Armen beiträgt; sie sind oft die Letzten bzw. die kleinste Gruppe, die hiervon profitiert. Mit anderen Worten ist Wachstum ein äußerst ineffizientes Hilfsmittel, wenn Armut das Problem ist. Somit stimmt es: Ja, Wachstum gehört uns allen, einigen jedoch mehr als anderen.

Ein weiterer interessanter Punkt besteht darin, dass davon ausgegangen wird, dass die „unsichtbare Hand des Marktes“ die menschliche Aktivität koordiniert und (auf nahezu magische Weise) private Laster in öffentliches Gemeinwohl verwandelt. Das berühmte Zitat aus Smiths „Wohlstand der Nationen“, dass der Metzger (wie vermutlich wir alle) „von unsichtbarer Hand geleitet wird, um einen Zweck zu fördern, der nicht in seiner Absicht stand ... Indem er seine eigenen Interessen verfolgt, fördert er oft diejenigen der Gesellschaft auf wirksamere Weise, als wenn er tatsächlich beabsichtigt, sie zu fördern.“ Wie entscheidet die unsichtbare Hand eigentlich genau, was das Allgemeinwohl ist? Wer sagt, was wir wollen? Da laut Smith das Gute in einer so unbeabsichtigten Weise auftritt – ist das Allgemeinwohl aufgrund seiner Art unbeabsichtigt, ein Nebenprodukt des eigenen Interesses? Koordiniert uns der Markt – und verändert uns nach seinem Bild? – oder koordinieren wir den Markt, bzw. die unsichtbare Hand des Marktes? Dies ist von entscheidender Bedeutung, da wir in der Wirtschaftsliteratur oft auf die unsichtbare Hand des Marktes verweisen, als wäre sie ein lebendiges, aktives Ding, das sogar über eine Persönlichkeit, eine Absicht, einen Gerechtigkeitssinn, einen Willen und – leider! – ein Eigenleben verfügt.  

Mit anderen Worten gehört und untersteht die unsichtbare Hand des Marktes uns? Und wenn dies der Fall ist, wer leitet sie an, wer führt sie? Oder gehören wir der unsichtbaren Hand des Marktes, die uns koordiniert und anführt, ohne uns zu sagen wie und wohin?n

Tomas Sedlacek
Tomáš Sedlácek lehrt an der Prager Karls-Universität, ist Chefökonom der größten tschechischen Bank und Mitglied des Nationalen Wirtschaftsrats in Prag. Während der Amtszeit des Präsidenten Václav Havel arbeitete er als dessen Berater. Zuletzt veröffentlichte er „Die Dämonen des Kapitals: Die Ökonomie auf Freuds Couch“  (Goldmann Verlag, 2017). tomassedlacek.cz