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Gehört Russland zu Europa?

Titelthema - Gehört Russland zu Europa?
Aleksandra Jegorowa zu Hause bei ihrer Tochter Elena, der Dorfärztin von Buduschee. Das Dorf, dessen Name übersetzt „Zukunft“ bedeutet, liegt genau in der Mitte zwischen St. Petersburg und Moskau. Aleksandra wärmt sich auf und trägt dabei die für Russland typischen Walenki (Filzstiefel). © Frank Herfort

Ob Russland zu Europa gehört, hängt ganz wesentlich von Russland selbst ab. Solange es in Tradition erstarken will und europäische Werte ablehnt, wird das Verhältnis schwierig bleiben.

Ulrich Schmid01.01.2021

Wie sonst nur Großbritannien hadert Russland mit seinem schwierigen Verhältnis zu Europa. Bis heute erhitzt die Frage „Gehört Russland zu Europa?“ die Gemüter der Intellektuellen. Neben das faktische Problem tritt das normative. Ebenso intensiv wird die Frage „Soll Russland zu Europa gehören?“ diskutiert. Virulent wurde das Problem in Russland mit den petrinischen Reformen. Peter der Große (1672-1725) revolutionierte das alte Ständesystem, indem er die Rangtabelle für den Staats- und den Militärdienst einführte. Damit wurden die sozialen Hierarchien nicht mehr durch Familientraditionen, sondern durch bürokratische Beförderungssysteme definiert. Gleichzeitig hielt die westeuropäische Kultur Einzug in Russland – am augenfälligsten waren die Neuerungen in der Mode und in der Architektur. Wohlgemerkt betrafen diese Änderungen nur den Adel. Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte ein aristokratischer Russe mehr mit seinem französischen Standesgenossen gemein als mit einem russischen Bauern.

Wie ein „Schuss in dunkler Nacht“

Erst Napoleons Moskaufeldzug führte in Russland zur Ausarbeitung einer eigenständigen Nationalkultur. Allerdings stieß die Forcierung der russischen Kulturautonomie bald auf vehemente Kritik. Am deutlichsten äußerte sich der Philosoph Pjotr Tschaadajew (1794-1856), der in der russischen Kulturgeschichte nichts Eigenes und nur einen Abklatsch westlicher Vorbilder erblickte. Die Publikation von Tschaadajews „Erstem Philosophischen Brief“ im Jahr 1836 wirkte wie ein „Schuss in dunkler Nacht“, wie es Alexander Herzen (1812-1870) in einer berühmten Formulierung festhielt. Tschaadajew wurde wegen seiner radikalen Russlandkritik von den zaristischen Behörden sogar für verrückt erklärt. Diese Kontroverse steht am Anfang der sogenannten Slawophilen-Westler-Debatte, die das gesamte 19. Jahrhundert beschäftigte. Die Spätfolgen wirken noch in den heutigen Diskussionen nach.

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Diese Aufnahme vom Siegesplatz in Nowy Urengoi in Sibirien ist bei minus 42 Grad entstanden. Fotograf Frank Herfort erinnert sich: „Nach sieben Minuten ging gar nichts mehr, auch mit mir, und für ein zweites Bild reichte es nicht mehr“. © Frank Herfort 

Die Slawophilen und die Westler sind nur auf den ersten Blick eingeschworene Gegner. Wie komplex die ideologischen Positionen sind, zeigt etwa die Tatsache, dass eine berühmte slawophile Literaturzeitschrift den Titel Der Europäer trug, während ein einflussreiches westliches Organ Vaterländische Aufzeichnungen hieß. Beide Seiten verstehen sich als russische Patrioten und treffen sich in der Diagnose, dass Russland reformbedürftig sei. Uneinig sind sie sich nur in der Therapie: Die Slawophilen rufen zur Rückkehr zu den eigenen Wurzeln auf, während die Westler den Anschluss an das fortgeschrittene Europa fordern. Für die Slawophilen wird dabei gerade die kulturelle Rückständigkeit zum Vorteil: Das „alte“ Europa hat bereits den verderblichen Weg des Rationalismus, Individualismus und Kapitalismus eingeschlagen, während das ungeformte Russland noch bereit ist, sich seiner höheren Berufung zu stellen. Am detailliertesten hat Nikolai Danilevski (1822-1885) diese Theorie ausgearbeitet. In seiner umfangreichen Untersuchung Russland und Europa (1869) identifiziert er zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur „germanisch-romanischen Kultur“ der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor: Es stellt die letzte Synthese dar, die alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte zusammenführen und abschließen wird.

Aus dieser Perspektive erscheint Russland in einer Doppelrolle: Es erlebt erstens eine eigene Heilsgeschichte jenseits westlicher Ideale. Dadurch wird es zweitens zum erlösenden Vorbild für das fehlgeleitete Europa. Der russische Messianismus gehört zu den romantischen Denkfiguren, die sich im 19. Jahrhundert auch bei Tjutschew oder Dostojewski nachweisen lassen.

Europas Untergang, der nicht kam

Die Dichotomie Russland – Europa wurde in den Augen der Zeitgenossen historisch durch den Krimkrieg (1853-1856) bestätigt. Russlands militärischer Versuch, den Bosporus zu kontrollieren, war in den europäischen Hauptstädten so inakzeptabel, dass sich sogar die Erzfeinde Großbritannien und Frankreich gegen Russland verbündeten. Zar Nikolaus I. war ursprünglich fest davon überzeugt gewesen, die christlichen Großmächte für eine Aufteilung des Osmanischen Reichs gewinnen zu können. Eine ähnliche Konstellation wiederholte sich während des Berliner Kongresses 1878, als Russland seine Interessen auf dem Balkan nicht durchsetzen konnte. Vor dem Ersten Weltkrieg ging Russland wechselnde Allianzen ein, die aber zu keinem nachhaltigen europäischen Bündnis führten.

Kurz nach dem Oktoberumsturz 1917 und der Machtkonsolidierung der Bolschewiki schien das Problem „Russland und Europa“ zumindest ideologisch gelöst zu sein. Lenin und Trotzki gingen davon aus, dass in den industrialisierten Ländern Europas Schlag auf Schlag Revolutionen folgen werden. Die alten Nationalstaaten würden untergehen und neuen sozialistischen Gesellschaften Platz machen. Pikanterweise erfuhr der traditionelle russische Messianismus hier eine marxistische Umdeutung: Die russische Revolution sollte den Befreiungskampf der Proletarier aller Länder einleiten. Der Stalinismus wurde in zeitgenössischen Zeugnissen ganz unterschiedlich kodiert: Die forcierte Industrialisierung wurde als „europäisch“ präsentiert, Stalin selbst erschien dagegen als „asiatischer“ Herrscher.

In der russischen Exilphilosophie blieben die Deutungskategorien „Russland“ und „Europa“ weiterhin produktiv. Nikolai Berdjajew (1874-1948) konstatierte in seinem einflussreichen Essay „Das neue Mittelalter“ (1924) den Untergang des aufgeklärten Europa und kündigte ein neues, postdemokratisches Mittelalter an. In Russland sah er eine „Sowjet-Monarchie“ am Entstehen, die einen neuen, faschistisch geprägten Aristokratismus begründen würde. Die Oktoberrevolution nahm Berdjajew als tragisches metahistorisches Ereignis wahr, das einem neuen russischen Kulturbewusstsein zum Durchbruch verhelfen würde. Trotz seiner Gegnerschaft zur bolschewistischen Weltanschauung war Berdjajew von Lenins und Stalins demiurgischer Schaffenskraft fasziniert.

Der Dissident Alexander Solschenizyn (1918-2008) ist als scharfer Kritiker des Sowjetstaats, der Geheimdienste und des Gulag berühmt geworden. Nach seiner Ausweisung im Jahr 1974 wurde er im Westen als mutiger Widerstandskämpfer gegen den Kommunismus gefeiert. Allerdings war Solschenizyn alles andere als ein Fürsprecher von Demokratie und Marktwirtschaft. In seiner berühmten Commencement-Rede (1976) an der Harvard-Universität geißelte Solschenizyn das westliche Wertesystem und schloss es explizit als Vorbild für ein postkommunistisches Russland aus. 1990 meldete sich Solschenizyn mit der Schrift Wie sollen wir Russland umgestalten? zu Wort. Er regte die Einsetzung eines autoritär-regierenden „Rats der Weisen“ an. Mit dieser Broschüre, die in einer Auflage von 27 Millionen in Russland verteilt wurde, verstärkte sich die Entfremdung zwischen Solschenizyn und seinem westlichen Publikum: Er äußerte tiefe Skepsis gegenüber der Demokratie, den Massenmedien und dem Wirtschaftswachstum und trat für einen christlichen Patriotismus ein. Nach seiner Rückkehr nach Russland im Jahr 1994 kritisierte Solschenizyn den Raubtierkapitalismus unter Präsident Jelzin. Große Hoffnungen setzte Solschenizyn pikanterweise auf Putin. Er empfing den ehemaligen KGB-Offizier zwei Mal bei sich zu Hause und nahm sogar einen mit 150.000 Euro dotierten Staatspreis aus den Händen des russischen Präsidenten an.

Das ungleiche Paar teilt die Vision einer nationalen Wiedergeburt Russlands als neuer Großmacht, überdies kämpfen beide gegen den Verfall der traditionellen Werte und stemmen sich gegen die drohende Verwestlichung ihres Vaterlandes.

Keine Verhandlungen mit Brüssel

In der Ära Putin ist im staatsnahen Diskurs eine wachsende Abgrenzung von Europa zu beobachten. Auch akademische Philosophen beschäftigen sich etwa mit der Frage, warum eine europäische Ideologie wie der Liberalismus für Russland schädlich ist. So weist der Petersburger Politikwissenschaftler Vladimir Gutorov in einer langen Einleitung zu einem Band mit dem Titel Liberalismus. Pro et contra (2016) darauf hin, dass liberale Politiker in der provisorischen Regierung 1917 und unter Jelzin in den 1990er Jahren „die russische Staatlichkeit an die Grenze zur Katastrophe“ gebracht hätten. Der europäische Liberalismus wird in diesem Buch offen als „soziokultureller Aspekt der nationalen Sicherheit Russlands“ bezeichnet. In der Tat taucht die Ablehnung der europäischen Kultur auch in offiziellen Dokumenten wie den „Grundlagen der Kulturpolitik der Russländischen Föderation“ (2015) auf. Die „Erhaltung eines einheitlichen Kulturraums“ wird als oberstes Ziel genannt. Explizit heißt es: „Keine Formexperimente können Inhalte rechtfertigen, die den für unsere Gesellschaft traditionellen Werten widersprechen, oder das Fehlen jeglichen Inhalts überhaupt. [...] Die Ideologie des Multikulturalismus, deren verderblicher Einfluss Westeuropa bereits erfasst hat, ist nichts für Russland.“

Diese Abwehrhaltung wird auch philosophisch unterfüttert. Der langjährige Chefideologe des Kremls, Wladislaw Surkow, veröffentlichte im April 2018 in der regierungsnahen Zeitschrift Russia in Global Affairs einen programmatischen Artikel mit dem Titel „Die Einsamkeit des Halbblutes (14+)“. Die Klammer bezieht sich auf das Jahr 2014, das laut Surkow eine neue Ära der globalpolitischen Einsamkeit Russlands einläutete. Surkow blickt auf die longue durée der russischen Geschichte und stellt fest, dass sich Russland 400 Jahre lang nach Osten und 400 Jahre lang nach Westen ausgerichtet habe. Weder unter dem Mongolenjoch noch in der petrinischen Europäisierung habe Russland sein Heil gefunden. Jetzt gehe es darum, einen „dritten Weg“, einen „dritten Zivilisationstypus“, ein „drittes Rom“ zu finden.

Mittlerweile ist Surkow entmachtet worden. Die neuesten politischen Entwicklungen legen aber nahe, dass Russland sein distanziertes Verhältnis zu Europa, vor allem zur Europäischen Union, auf absehbare Zeit fortführen wird. Dabei legt der Kreml Wert darauf, mit den einzelnen Mitgliedsländern bilaterale Beziehungen aufzubauen. Die Brüsseler Zentrale existiert nicht auf der politischen Landkarte der Moskauer Führungsriege. Dafür pflegt Putin opportunistische Partnerschaften mit der Türkei und China, die allerdings keine Wertegemeinschaften sind. Letztlich gilt für Putin das Diktum seines Lieblingszaren Alexander III.: „Russland hat nur zwei Freunde, die Armee und Flotte.“

Ulrich  Schmid
Prof. Dr. Ulrich Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Zu seinen Schriften gehört u.a. „Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur“ (Suhrkamp Verlag, 2015). unisg.ch

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