Titelthema
Was ist Russland?
Föderalismus, Polittechnologien und Kulturpolitik als Garanten der Staatlichkeit
Was meinen wir, wenn wir von „Russland“ sprechen? Die russländische Föderation, die von Russen bewohnten Territorien, den Kreml oder möglicherweise nur den Präsidenten? Gerade in der aktuellen tiefen Krise der Beziehungen zwischen Russland und Deutschland ist es wichtig, sich klarzumachen, welches „Russland“ man im Auge hat – und wie sich die verschiedenen „Russland“-Konzeptionen zueinander verhalten. Im Russischen gibt es zwei Adjektive, deren Bedeutungen nahe beieinander liegen und doch ganz unterschiedliche Dinge bezeichnen: „russkij“ und „rossijskij“. „Russkij“ heißt „russisch“ in einem ethnisch-nationalen Sinn, während „rossijskij“ eine staatsbürgerliche Dimension aufweist und im Deutschen mit „russländisch“ übersetzt werden kann. Der offizielle Staatsname lautet deshalb „Russländische Föderation“ und bezeichnet ein administratives Gebilde mit 85 sogenannten Föderationssubjekten.
Der russische Föderalismus ist asymmetrisch ausgestaltet. Es gibt eine ganze Reihe von Kategorien, die von einer Teilrepublik über ein Gebiet bis hin zu „Städten von föderaler Bedeutung“ reicht. Es ist bezeichnend, dass auch die Krim im März 2014 nicht als Ganzes in den russischen Staatsverband integriert wurde, sondern in zwei Einheiten: der „Republik Krim“ und der „Stadt von föderaler Bedeutung“ Sewastopol. Die Emphase, mit der Präsident Putin in seiner Rede im März 2014 auf der historischen Wichtigkeit von Sewastopol bestand, spiegelt sich in der Tatsache, dass sonst nur noch Moskau und St. Petersburg „Städte von föderaler Bedeutung“ sind.
Föderaler Staatsaufbau
Russland ist mit seiner Arbeit am Föderalismus kein Einzelfall. Auch in Deutschland ist die Ausgestaltung der föderalen Kompetenzordnung ein vieldiskutierter Punkt. Erst die „Erfindung“ von Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen ermöglichte nach dem Zweiten Weltkrieg eine Balance der Regionen. Zuvor krankten das Deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik an einem Übergewicht Preußens.
In vielen Nachschlagewerken findet man die Information, dass knapp 80 Prozent der Bürger der russländischen Föderation „ethnische Russen“ sind. Diese Zahl verschleiert allerdings mehr als sie erklärt. Gerade die militärische Aggression Russlands in der Ukraine hat gezeigt, wie problematisch solche Kategorisierungen sind. Immer wieder wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass 60 Prozent der Bewohner der Krim und 38 Prozent der Bewohner des Donbass „ethnische Russen“ seien. Die Kategorie der Ethnizität ist allerdings hochkomplex und sollte nicht unreflektiert eingesetzt werden. Schon gar nicht lässt sich die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe auf die verwendete Sprache reduzieren.
Wie irreführend ein solches Vorgehen wäre, kann man sich leicht am Beispiel der Schweiz vor Augen führen. Das Verhältnis von Staat und Nation lässt sich dort nicht gültig beschreiben, wenn man auflistet, in der Schweiz lebten 63 Prozen „ethnische Deutsche“, 22 Prozent „ethnische Franzosen“ und 8 Prozent „ethnische Italiener“. Ebenso problematisch ist die Rede von „ethnischen Russen“ in der Ukraine oder in der „Russländischen Föderation“. Natürlich dominieren die russische Sprache und Kultur die staatliche Organisation der Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es in Russland einen stark entwickelten Regionalismus, der sich etwa in einem sibirischen Frontierstolz oder in einem tatarischen Nationalbewusstsein äußert.
Wie in andere Föderationen muss auch in Russland das Verhältnis zwischen der Hauptstadt und den peripheren Gebieten immer neu ausgehandelt werden. In der Ära Putin hat die Zentralregierung ihren Einfluss in den Regionen zunächst immer mehr ausgeweitet. Am deutlichsten zeigte sich das in einem Gesetz aus dem Jahr 2005, das es dem Kreml faktisch erlaubte, die Gouverneure in den Teilrepubliken zu ernennen. Diese Bestimmung führte zwar zu einer strafferen administrativen Ordnung, hatte aber auch gleichzeitig einen deutlichen Legitimationsverlust der Gouverneure bei den regionalen Eliten zur Folge. Deshalb ist man mittlerweile wieder zu einer autonomen Wahl der Gouverneure in den Regionen zurückgekehrt.
„Russländische Nation“
Im Jahr 2016 regte Präsident Putin die Ausarbeitung eines „Gesetzes über die russländische Nation“ an. Die Duma legte zwar einen Vorschlag vor, allerdings regte sich vor allem bei den nichtrussischen Föderationssubjekten Widerstand.
Besonders tat sich dabei die Republik Tatarstan hervor, die zum Moskauer Machtzentrum ein vielschichtiges Verhältnis hat. Einerseits gehört Tatarstan zu den loyalsten Teilrepubliken – im Frühjahr 2014 reiste der Präsident Tatarstans sogar auf die Krim, um den Krimtataren die Vorteile der Einbindung in den russländischen Staat zu erklären. Andererseits beharrt Tatarstan auf seiner kulturellen Eigenart und seinen Sonderbeziehungen zu anderen Turkvölkern – nach dem türkischen Abschuss eines russischen Jets über Syrien 2015 führte Kasan ganz im Gegensatz zu Moskau die guten Beziehungen mit Ankara weiter.
Die Schaffung einer russländischen Nation mit einem russischen Kulturkern ist heute wahrscheinlich das größte persönliche Prestigeprojekt von Präsident Putin. Damit soll ein historisches Worst Case-Szenario verhindert werden: Dass nämlich die russländische Föderation wie die Sowjetunion auseinanderbricht. Eine zentrale Bindungskraft kommt der russischen Kultur zu, die in den Fokus der innenpolitischen Aufmerksamkeit gerückt ist und nicht mehr nur einen lästigen Ausgabeposten im Staatsbudget darstellt. Die nationale Sicherheitsstrategie vom 31. Dezember 2015 widmet der Kultur ein ganzes Kapitel. Im Zentrum stehen dabei jene „geistig-moralischen Werte“, die zu spezifisch russischen erklärt werden. Das Dokument nennt als Beispiele den „Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen“, die „Familie“, die „schöpferische Arbeit“, den „Dienst für das Vaterland“, den „Kollektivismus“, die „historische Einheit der Völker Russlands“ oder die „Tradition der Geschichte unserer Heimat“.
Geistiger Belagerungszustand
In der dritten Amtszeit von Präsident Putin ist es dem Kreml gelungen, die Bürger der russländischen Föderation in einen geistigen Belagerungszustand zu versetzen. Die USA werden als böser Feind, die EU als schwacher Befehlsempfänger der USA dargestellt. Besonders am Pranger steht das westliche Verteidigungsbündnis NATO, das als Instrument des Hegemons USA diffamiert wird. Umfragen zeigen, dass das traditionell gute Verhältnis zum Westen nachhaltig gestört ist. Auch die Ukraine, die vor 2014 regelmäßig die höchsten Sympathiewerte unter anderen Nationen erreichte, wird mittlerweile in der breiten Bevölkerung sehr negativ beurteilt.
Die Polittechnologen des Kremls haben bereits kurz nach der Amtseinsetzung von Präsident Putin im Jahr 2000 begonnen, die öffentliche Meinung im Sinne der Regierung zu beeinflussen. Soziologen sprechen von einer „Berlusconisierung“ des russischen Mediensystems. Alle wichtigen Fernsehkanäle befinden sich entweder in staatlichem oder staatsnahem Besitz. Abgesehen von einigen wenigen unabhängigen Stimmen im Zeitungs- und Radiojournalismus wird dem russischen Publikum ein Propaganda-Einheitsbrei vorgesetzt.
Die öffentliche Sphäre in Russland funktioniert kaum mehr. Die Medien greifen nicht mehr politische Positionen in der Gesellschaft auf und diskutieren sie kontrovers, sondern die Gesellschaft absorbiert umgekehrt die wohlfeilen Meinungen, die ihr in den Leitmedien auf aggressive Weise angeboten werden. Die urbane Intelligenzija ist eher regierungskritisch eingestellt, sie akzeptiert aber die konservative Gesellschaftsordnung der Regierung Putin in einer resignierten Passivität. Der Kreml umwirbt aktiv in erster Linie die konservative Wählerschaft in den Provinzstädten und den ländlichen Gebieten.
Wladimir Putin genießt dank seiner aggressiven Außenpolitik einen relativ starken Rückhalt in der russländischen Bevölkerung. Das war nicht immer so. Im April 2013 wünschten sich in einer Umfrage 55 Prozent einen anderen Präsidenten. Seit der Annexion der Krim erzielt Putin hohe Zustimmungsraten über 80 Prozent. Pikanterweise kontrastieren diese Ergebnisse mit tiefen Werten für die Arbeit der Regierung und des Parlaments. Dabei hat der Präsident weitreichende Kompetenzen und kann tief in die Regierungsgeschäfte eingreifen.
Ein Präsident über den Dingen
Putin war bei den Präsidentschaftswahlen vom 18. März 2018 deutlich darauf bedacht, Abstand von der unbeliebten Regierung zu halten. Er trat als parteiloser Kandidat an. Vor den Präsidentschaftswahlen 2012 hatte Putin noch in den sieben wichtigsten Zeitungen des Landes programmatische Artikel zu seinem politischen Kurs veröffentlicht. Im Frühjahr 2018 legte er überhaupt kein Wahlprogramm vor. Die offizielle Website putin2018.ru listete nur eine Reihe von „Errungenschaften“ aus der Vergangenheit auf, die von sinkenden Hypothekarzinsen über die touristische Attraktivität bis hin zu den steigenden Verkaufszahlen für russische Autos ein geschöntes Bild der stagnierenden Gesellschaft zeigten.
In der Tat sind jene russischen Bürger, die ein drittes Mal für Putin stimmten, von keiner hehren Vision für die Zukunft ihres Landes beseelt. Sie akzeptieren den Status quo und fürchten sich vor Veränderungen, die aus ihrer Sicht immer nur Veränderungen zum Schlechten sind.
Die deutsche Öffentlichkeit reagiert eher mit Abneigung auf Putin. Eine solide Mehrheit von über 70 Prozent der Deutschen mag dem russischen Präsidenten nicht vertrauen. Zustimmung für Putin gibt es vor allem an den Rändern des politischen Spektrums in Deutschland – bei der AfD und der Linkspartei. Allerdings beruht diese Sympathie weniger auf einer genuinen Zuneigung als vielmehr auf drei Punkten, in denen sich die deutschen Protestparteien mit Russland verbunden fühlen: Antiamerikanismus, Elitenkritik und Schließung der Gesellschaft, sei es als nationale Gemeinschaft oder als geschützter Arbeitsmarkt.
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