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Gewinner und Verlierer

Titelthema - Gewinner und Verlierer
Arbeit: Tausende indische Wanderarbeiter sind zu Fuß auf dem Weg in ihre Heimat. © Alistair Berg/Getty Images

Wie Ungleichheit die Globalisierungserfahrung prägt – Überlegungen zur Corona-Pandemie im globalen Süden.

Shalini Randeria01.06.2020

Globalisierung ist seit den frühen 1990er Jahren ein zentraler Begriff der Wissenschaft wie der öffentlichen Debatte. Dennoch herrscht oft Unklarheit darüber, was sie genau umfasst und inwieweit sie ein Novum ist oder eine Kontinuität mit alten imperialen Macht- und Ausbeutungsstrukturen darstellt. In vielen postkolonialen Ländern wird gegenwärtigen Prozessen zunehmender Verflechtung eine historische Tiefe zugeschrieben. Denn der Kolonialismus war im globalen Süden für die Herausbildung eines Bewusstseins, Teil eines globalen Systems zu sein, von entscheidender Bedeutung, wogegen in Westeuropa die Entwicklung der eigenen Wirtschaft als sui generis und ohne Verknüpfung mit den Kolonien wahrgenommen wurde.

Gegensätzliche Wahrnehmungen

Nicht selten wird unter Globalisierung eine Vielzahl gegenläufiger, aber miteinander verknüpfter wirtschaftlicher, sozio-kultureller und politischer Prozesse subsumiert, die kein einheitliches Bild ergeben. Dieses heterogene Globalisierungsbild wird nachvollziehbar, richtet man das Augenmerk auf Strukturen der Ungleichheit zwischen den Ländern und innerhalb jeder Gesellschaft, die unterschiedliche Erfahrungen und Verständnisse der Globalisierung aufkommen lassen. Im globalen Norden werden unter Globalisierung in der Regel Prozesse weltweiter Vernetzung und uneingeschränkter Mobilität verstanden, die die Welt zusammenrücken lassen. Neue Technologien ermöglichen Kapital, Waren, Informationen, und Menschen, sich mit sehr hoher Geschwindigkeit über nationalstaatliche Grenzen hinweg zu bewegen. Dieses im globalen Norden gängige Globalisierungsverständnis steht in einem eklatanten Widerspruch zu den Erfahrungen von Millionen von Menschen in Ländern des globalen Südens, insbesondere in Afrika. Hier wird Globalisierung mit Abkoppelung assoziiert und als Zurückweisung von fairer Teilhabe an der Welt erfahren. Nicht nur hat der Verkehr zwischen vielen Staaten Afrikas und den Metropolen des Nordens quantitativ eher abgenommen, vielerorts waren die Auslandsinvestitionen vor dem Zweiten Weltkrieg sogar höher als heute. Niemals war (die Festung) Europa für Menschen aus Afrika oder dem Nahen Osten so schwer erreichbar wie in den letzten Jahrzehnten. Ungleiche Positionen in dem globalen Wirtschaftssystem wie auch innerhalb einer Gesellschaft bedingen daher unterschiedliche Globalisierungserfahrungen.

Die uneingeschränkte Privatisierung von Bereichen, die bisher in der öffentlichen Hand waren oder als Gemeingut galten, bildet einen Kern der neoliberalen Globalisierung. In vielen Ländern des globalen Südens wurden beispielsweise Sonderwirtschaftszonen für den Export errichtet, in denen Arbeits-, Umwelt- und Steuerrecht quasi außer Kraft gesetzt wurden. Die Landwegnahme durch den Staat zu diesem Zweck hat zu massiver Verarmung durch Enteignung, Zwangsumsiedlung und Zerstörung der Existenzgrundlage von Millionen von armen Menschen geführt. Zudem eröffnen die neuen geistigen Eigentumsrechte die Möglichkeit, Patente auf das von Bauern des Südens seit Jahrhunderten gepflegte und vermehrte Saatgut anzumelden und geringfügig gentechnisch manipuliertes Saatgut wie im Falle des indischen Basmatireises zum Privateigentum von mächtigen multinationalen Konzernen zu erklären. Einerseits wird dadurch die Artenvielfalt zerstört, andererseits geraten Bauern in Dauerabhängigkeit und Verschuldung. Protektionismus kennzeichnet dagegen die Agrarpolitik der USA sowie der EU, die mit etwa 60 Milliarden Euro jährlich die eigene Landwirtschaft subventioniert. Die Abschirmung des EU-Agrarmarktes geht mit billigen EU-Fleischexporten nach Afrika einher, die die Preise dort verzerren und die einheimischen Märkte durch unfairen Wettbewerb zerstören. Diese globalen Asymmetrien tragen nicht nur zur Verarmung bei. Sie lassen auch ein Gefühl der Ungerechtigkeit gegenüber dem Westen aufkommen, der Import- und Einreisebeschränkungen für Menschen aus dem Süden verhängt, während umgekehrt Bürger aus Europa und den USA im Süden alle Reise- und Handelsprivilegien genießen.

Arbeit ja, Absicherung nein

Die Liberalisierung der Märkte hat zwar Millionen von Menschen in Indien aus der Armut verholfen, aber die Früchte dieser Entwicklung sind ungleich verteilt. 80 Prozent der indischen Arbeiter und Arbeiterinnen sind heute im informellen Sektor beschäftigt und können auf kein Sicherheitsnetz zurückgreifen. Zwar haben sie auf dem Bau, in den Restaurants und Shopping Malls der boomenden Städte Arbeit gefunden, aber lediglich unter unsicheren Arbeitsbedingungen. Diese zunehmende Prekarisierung der Arbeit betrifft heute alle Länder. Die Kluft zwischen Armen und Reichen ist in jeder Gesellschaft infolge der neoliberalen Globalisierung größer geworden, auch wenn die Ungleichheit zwischen manchen Ländern verringert wurde. Der renommierte Ökonom und Ungleichheitsforscher Branko Milanovic hat berechnet, dass 80 Prozent des Einkommens einer Person durch die Faktoren Geburtsland (60 Prozent) und Einkommenssituation der Eltern (20 Prozent) erklärt werden können. Lediglich die restlichen 20 Prozent entfallen auf Leistung oder Glück.

Nimmt man die Corona-Pandemie als globale Herausforderung wahr, kommt man nicht umhin, die Frage nach der Ungleichheit zu stellen. Wie wird sich die monatelange Schließung der Schulen auf Kinder aus bildungsfernen Familien auswirken? Vergessen wir nicht, dass 114.000 obdachlose Kinder in der Stadt New York zurzeit von philanthropischen Organisationen mit Essen versorgt werden, und dass zwei Millionen britische Schulkinder ihre einzige warme Mahlzeit in der Schule bekommen. Welche Verantwortung tragen weltweit agierende multinationale Konzerne für die Lohnfortzahlung der Beschäftigten in ihren Zuliefererbetrieben in den Sonderwirtschaftszonen im fernen Südostasien? Während die indische Mittelschicht die Eindämmung der Pandemie durch den jäh verordneten totalen Lockdown durch die Regierung begrüßt hat, sind die Hauptleidtragenden dieser Maßnahme die Armen. Eine Möglichkeit zu „social distancing“ in den städtischen Slums, wo fließendes Wasser fehlt und Familien in beengten Wohnverhältnissen leben, besteht ohnehin nicht. Hunderttausende Wanderarbeiter in den indischen Metropolen haben sich seitdem zu Fuß und ohne Proviant auf den Weg zurück in ihre Heimatdörfer gemacht. Denn ohne Arbeit, ohne Tageslohn oder Ersparnisse und ohne staatliche Hilfe können sie in den Städten nicht überleben. Tagelöhner im informellen Sektor, die 80 Prozent der Arbeitnehmer ausmachen, sind eher vom Hunger als von der Pandemie bedroht.

Hundert Staaten des globalen Südens haben sich für finanzielle Hilfe an den Internationalen Währungsfonds gewandt – das hat es nie zuvor gegeben. Ihre Währungen verlieren aufgrund der Pandemie ihren Wert und eine Kapitalflucht hat eingesetzt. Ihre gegenwärtige Not ist auch ein Ergebnis der jahrzehntelang von internationalen Kreditgebern verordneten Austeritätspolitik. Die öffentlichen Gesundheitssysteme sind an den meisten Orten der Welt unterfinanziert, weil aufgrund von Kreditbedingungen rigide Sparmaßnahmen durchgesetzt wurden. In Mali kommen auf eine Million Menschen drei Beatmungsgeräte. In Kenia kommt auf 71.000 Menschen ein Arzt. Es wäre wichtig, eine globale Institution aufzubauen, die rasch einen Schuldenerlass für die Entwicklungsländer erwirkt. Unter den gegenwärtigen Pandemiebedingungen muss statt der Tilgung von Auslandsschulden Investitionen in das Gesundheitssystem Vorrang eingeräumt werden. Es wird in unserem eigenen Interesse sein, armen Ländern und verarmten Bevölkerungsschichten weltweit einen fairen Zugang zu dem zu entwickelnden Covid-19-Impfstoff zu gewähren.

Shalini Randeria

Shalini Randeria ist Rektorin des Instituts für die Wissen- schaften von Menschen (IWM) in Wien und Professorin für Soziologie und Sozialanthropologie
am Graduate Institute in Genf.

iwm.at