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Geld und Leben
Er war der Entdecker und Beobachter von so ziemlich allem, was der Moderne einen Sinn gibt. Zum 100. Todestag von Georg Simmel
Welcher Soziologe hat eigentlich den „immer ausgedehnteren Ersatz der Zigarre durch die Zigarette“ bemerkt und, zurück aus dem Urlaub, die Alpenreise als „den Großbetrieb des Naturgenusses“ beschrieben? Wer hat die Mode als die Ausdifferenzierung der „feinen Unterschiede“ analysiert? Und welcher Philosoph hat aus der minimalistischen Betrachtung eines Henkels das Wesen des Kunstwerks entfaltet? Luhmann, Bourdieu und Heidegger? Fehlanzeige! Es war Georg Simmel (1858-1918), der Entdecker und Beobachter von so ziemlich allem, was der Moderne einen Sinn gibt.
Dieser Soziologe vor der Soziologie ist zwar längst kein Geheimtip mehr, aber immer noch viel zu wenig gelesen, obwohl er in einer hervorragend edierten Gesamtausgabe greifbar ist. Das mag an der vertrackten Genauigkeit seiner Beschreibungen liegen, die sich nicht in bequeme „Thesen“ zusammenfassen lassen, sondern denen man geduldig folgen muss, indem man „von dem unmittelbar Einzelnen, dem einfach Gegebenen das Senkblei in die Schicht der letzten geistigen Bedeutsamkeiten“ schickt. Eine so freie Methode eines so freien Kopfes zog sich naturgemäß auch Kritiker zu.
Wenn der Privatdozent in Berlin vor einem überfüllten Auditorium die gespannte Ambivalenz von fließender Dynamik des modernen Lebens und ihrer statischer Verhärtung in objektiven Gebilden an der feinen Tuschzeichnung einer chinesischen Porzellanschale demonstrierte, dann kam das bei einem Philosophen wie Adorno eher schlecht an: Simmel sei eben ein „geistreicher Entertainer“, der mit einer spätidealistisch geprägten „Scheinphilosophie“ seine Spiele treibe.
Allerdings sind heutige Leser nicht mehr, wie Walter Benjamin, entzückt von Simmels „Kulturbolschewismus“, sondern vielmehr über seine „hemmungslose Sensibilität“, die man damals an ihm tadelte. Und dabei hat er, wie Karl Mannheim in seinem Nachruf schrieb, „wunderbare Dinge gesehen; was er ansah, drehte sich um seine eigene Achse und zeigte nicht das gewohnte starre Bild“. Simmels „Sensibilität reagiert aufhorchend auf jede Sache und jeden Gedanken. Alles bedeutet etwas für ihn und allem wächst neuer Sinn zu“ – von den frühen „Fragen an das Jodeln“ bis zum Tod.
Doch was war der Grund für Simmels fast manisches Interesse an Goethe, bei einem Denker immerhin, der so zukunftsträchtige Begriffe wie „Lebenskunst“, „Durchschnittlichkeit“ des Alltäglichen und nicht zuletzt das Zauberwort „Differenzierung“ prägte? Auch dafür gibt der Nachruf Mannheims einen Hinweis. Simmel habe seine Zeit deshalb nicht übertroffen, „weil die Grundskepsis seiner Generation auch in ihm vorhanden war und er nicht mit seinem Glauben dem folgen konnte, was ihm schon zu sehen gegeben war“. Doch wenn Simmel Leben und Werk Goethes beschreibt, dann beschreibt er reine Gegenwart. Das Genie Goethes ist auch sein eigenes Genie. Und so hebt Simmel am Weimarer Klassiker gerade die „spielende“ Methode des „anschauenden Denkens“ hervor, die jeder Erstarrung, also jeder „Profession“ entgegengesetzt ist.
Der Mensch der Moderne
Entsprechenend dem Grundzug seines Denkens, nämlich der Balance zwischen Liquidität und Erstarrung, ist es gerade der geglückte Umgang mit dieser Ambivalenz bei Goethe, die Simmel dem paradoxen Gefühl des modernen Menschen entgegenhält, „er habe nicht genug gearbeitet, wenn er nicht zuviel gearbeitet hätte“. „Dass in den Lebensintentionen so vieler gegenwärtiger Menschen eine bürokratische Reguliertheit und eine anarchische Formlosigkeit unorganisch verwachsen“, schreibt Simmel hellsichtig, „geht auf die Entzweiung zwischen der subjektiven und der objektiven Bedingtheit des Tuns zurück – während aus ihrer Einheit heraus Goethe eine sozusagen pausenlose und intensive Arbeit ‚spielend‘ vollbrachte“.
Auch wenn wir uns den Menschen der Moderne heute schwerlich als eine Gemeinschaft von Genies vorstellen können, so enthalten doch Simmels Beschreibungen noch unausgeschöpfte Gedankenpotentiale, mit dem Sinn unseres Tuns umzugehen. Von höchster Aktualität sind jedenfalls Simmels Gedanken über den „Mammonismus“, diesen „Idealismus der Geldwertung“ in seinem Vortrag über „Deutschlands innere Wandlung“, den er zwei Jahre vor seinem Tod hielt. Auch wenn Simmel mit seiner Diagnose, dass „das jetzige Zusammenschmelzen unserer Wirtschaft“ das Urteil über die Anbetung des Geldes vollstrecken werde, nicht recht behalten hat, so hat er sich in einem bis heute nicht getäuscht: „Niemand betet das Geld aufrichtiger und hingebender an, als wer es sich nicht verdient hat“.
Damit erledigt sich im Grunde die alte, von Nestroy gestellte Frage, warum denn die Phönizier, die angeblich das Geld erfunden haben, davon so wenig erfanden. Geld, sagt Simmel, ist immer genug vorhanden, nur in bezug auf unsere „Sehnsucht“, es haben zu wollen, ist es immer zu wenig. Wenn man denn Simmels Denken mit seiner „Philosophie des Geldes“, die bis heute ohne Nachfolgerin geblieben ist, in einer „These“ zusammenfassen wollte, so bietet Simmel selbst eine Formel an, die Dynamik und Problematik des modernen Lebens auf den Begriff bringt: „Geschäfte – das ist das Geld der anderen“.
Prof. Dr. Christoph von Wolzogen