Titelthema
Gelebte Utopien
Lange vor dem Ende der Monarchie erprobten Visionäre vielfältige moderne Lebensformen – von Körperkult bis Vegetarismus. Ein Zentrum dieser Bewegung war der Monte Verità.
Ernst Bloch, junger Philosoph aus Ludwigshafen, der Max und Marianne Weber in Heidelberg gerade mit einem etwas präpotenten Mundwerk schwer beeindruckt hatte, glaubte fest an seine messianische Sendung. „Wer mich ablehnt, der ist von der Geschichte gerichtet“, schrieb Bloch. Es war nur noch zu klären, ob er nun der kommende Messias war oder ob der Messias noch kommen und er sein Vorläufer sein würde. Er wäre dann ein Paraklet, so Bloch, ein Fürsprecher und Wahrheitsverkünder, ein heiliger Geist.
Zu dieser Zeit, März 1917, machte Bloch sich, zusammen mit seiner Frau Else, auf ins Tessin. Es war eine Reise ins Exil – Bloch war radikaler Pazifist –, es war eine Heilungsreise für seine kranke Frau und auch für ihn selbst, es handelte sich um eine Selbstbesinnungsfahrt. Und, meinte er, außerdem wolle er sich die pazifistischen Bewegungen der Schweiz ansehen.
Das tat er – wo sonst? – am Monte Verità. Bloch wohnte mit seiner Frau bei Hildegard Neugeboren in Monti, dem Monte Verità gegenüber. Als sie ankamen, trafen sie dort den kranken Dichter Klabund, eigentlich ein munterer, höchst begabter Verseschmied. Gerade war sein Buch „Mohammed. Roman eines Propheten“ erschienen. Sein berühmt gewordener Brief an Kaiser Wilhelm II., der im Juni 1917 in der Neuen Zürcher Zeitung erschien, wurde gerade erdacht. „... das deutsche Volk ist in den Jahren unsagbaren Leids gereift, und den Kinderschuhen entwachsen: es braucht keine Bevormundung mehr.“ Kaiser, danke ab!
Der lungenkranke Klabund war zusammen mit der kranken Brunhilde Heberle gekommen, die er im Lungensanatorium in Davos kennengelernt hatte. Sie heirateten hier Anfang Juni, Ende Oktober starb Brunhilde. Klabund trauerte ihr sein Leben lang nach. „Ich habe mich verheiratet: mit einer Frau, die ganz Tier, ganz Kind, ganz Schmetterling ist, wie die Wesen, die uns umgeben.“
Hermann Hesse war auch hier, er war oft und lange zu Gast bei den Neugeborens, und beschrieb die Atmosphäre eindrücklich: „Zu jener Zeit bewohnten wir ein sonderbares Dichterhaus, dreistöckig ragte es aus einer ständig blühenden Rosenlaube, die Poesie war hier zu Hause, aber ihre Diener dienten ihr oft boshaft und sarkastisch: ein bulgarischer Literat mit Frau, die ihrem noch ungeborenen Kind Goethe und Shakespeare vorlasen, um so früh wie möglich mit der Bildung zu beginnen, sie nannten das Fötopädagogik; ein dichtender Philosoph, der sich nur mit Eau de Cologne wusch und den Whisky ohne Wasser trank; der Tierschriftsteller Carl Soffel, der ständig mit Klabund die Wohnung wechselte ...“
So waren auf dem Anwesen der Neugeborens der kranke Hesse und seine kranke Frau Mia, der kranke Klabund und seine kranke Frau Brunhilde, Bloch und seine kranke Frau Else versammelt. Im Sommer kam der kranke Reinhard Goering mit seiner kranken Freundin dazu. Es ging, ganz offensichtlich, um Genesung.
Das Haus Neugeboren gehörte zum Umkreis des Monte Verità, einer Siedlung, Vereinigung von Aussteigern und Künstlern, einem Freiluftsanatorium. Auf dem Hügel über Ascona am Lago Maggiore standen ein paar Hütten, hier und in der Umgebung hatten sie sich angesiedelt. Hier schrieb Ernst Bloch den „Geist der Utopie“ zu Ende, das Buch, das seinen Ruhm begründen sollte. Es war ein neuer „Zarathustra“. Bloch verabschiedete den düsteren Jehova und den weichlichen Jesus und setzte einen neuen heiligen Geist ein, eben den Paraklet. Er setzte damit fort, was 1888 in Zürich mit wandernden Predigern begonnen hatte (die dann auch auf den Monte Verità kamen), was Gerhart Hauptmann vielfach beschrieben hat, was einen Gravitationspunkt des Werks von Max Weber bildete: die charismatisch-messianische Figur. Er brachte noch einmal auf den Punkt, was im Kern des Monte Verità stand, die umfassende Heilserwartung, die Hoffnung auf eine Erneuerung der Gesellschaft und des Einzelnen.
Ein Paradies für Aussteiger
Bloch hatte den Ort also nicht umsonst gewählt. Er wollte partizipieren an der utopischen Atmosphäre, die hier – wir dürfen nicht vergessen, wir schreiben die Jahre 1917/18 – immer noch herrschte. Ihn interessierten die vielen sozialen Bewegungen, die sich rund um den Monte Verità scharten und die hier, anders als sonst in Europa, immer noch existent waren.
Die Schweiz war im vom Krieg zerstörten Europa eine Insel, innerhalb der Schweiz aber war das südlich des Alpenkamms liegende Ascona mit dem Monte Verità die Insel. Nirgendwo in Mitteleuropa konnte man von Zeit, Krieg und Not so unbehelligt leben. So war es, seit der Gründung der Gemeinschaft auf dem Berg im Jahre 1900.
Der Monte Verità war ein eigentümlicher, aus der Welt gefallener Ort und gleichzeitig zentraler geistiger Bezugspunkt, er war der Lebensmittelpunkt einiger weniger, vielleicht ein paar tausend Menschen, für die Gesamtgesellschaft war er Sehnsuchtsort, Jungbrunnen, Wallfahrtsstätte. Max Weber, der visionärste Denker des ausgehenden Kaiserreichs, war zweimal am Monte Verità, um sich zu kurieren: von Schlaflosigkeit, Daseinsunfähigkeit, Impotenz, Lebensunlust. Er machte eine Diät, vor allem Orangen, und war in der freizügigen Atmosphäre auf der Suche nach erotischen Abenteuern. Der Kaiser selbst hatte zwar keine Berührung zum Monte Verità, aber auch er hatte sich mit der Insel Korfu einen verwandten Ort ausgesucht, einen Sehnsuchtsort, einen Jungbrunnen im Süden.
Keimzellen der Avantgarde
Was den Monte Verità unter verwandten Orten wie Worpswede oder der Obstbausiedlung Eden bei Berlin, Vereinigungen wie dem Blauen Reiter oder der Künstlervereinigung Brücke, künstlerischen Bewegungen wie dem Futurismus oder dem Expressionismus, sozialen Initiativen wie den Sufragetten oder dem Wandervogel so einzigartig machte: Hier versammelte sich fast alles, was es an sozialen, gesellschaftlichen, diätetischen und künstlerischen Bewegungen gab. Das machte ihn so bunt und vielfältig wie keinen anderen Ort des damaligen Europa, mit Ausnahme von Großstädten wie Paris oder Berlin. Das lässt ihn für die große Epoche der Bewegungen exemplarisch sein. 1900 waren sie aus München hergezogen, an diesen Hügel am See, und hatten auf steinigem Untergrund eine Siedlung gegründet, die dann über zwanzig Jahre wie kein anderer Ort in Europa die Erwartung geistiger Erneuerung repräsentierte.
Wenn man sich ins Gedächtnis ruft, wer und vor allem was sich hier versammelt hatte – der Glaube an die Natur, an die Heilkraft von Luft und Licht, an die Gesundheit und das Sanatorium, an die verwirklichte Utopie, an den Eigensinn in seinem allereigentlichsten Begriff, als der Besinnung auf sich selbst, dazu der Anarchismus, der Vegetarismus und der Veganismus, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Mutterrecht, ungezählte Arten von Esoterik, die Theosophie, verschiedenste Psychotechniken bis hin zu einer wilden Form der Psychoanalyse, die freie Liebe, die Nacktkultur, der Erotismus, die natürliche, erotikfreie Nacktheit, überhaupt die Natürlichkeit, Nietzscheanismus und Tolstoianismus spielten eine wesentliche Rolle, Nächstenliebe, der Expressionismus, der Dadaismus, die Sehnsucht nach dem Süden, die Kommune, die Liebe zum Bunten, zu den Farben, die Abstraktion, die Einfachheit, der Tanz, der Ausdruckstanz, die Puppe, der Primitivismus und der Katholizismus, das Prophetentum, die Einsiedelei und das Aussteigertum, Naturholzmöbel, Reformkleidung, Drogen und Weinseligkeit –, dann fragt man sich noch heute unwillkürlich: Was eigentlich hat sich seitdem geändert? Was hat es damals nicht schon gegeben?
So war es auch am Ende des Ersten Weltkrieges: Der Monte Verità stellte eine der wenigen lebendigen Verbindungen her zur Vorkriegsgesellschaft. Die verbindende Klammer waren einerseits der profane, unchristliche Messianismus von Nietzsche bis Bloch, andererseits der Vegetarismus, der die einzige halbwegs befolgte Ideologie auf dem Monte Verità war. Das ist nicht ganz so überraschend, wenn man bedenkt, dass Vegetarismus sowohl für Nietzsche als auch für Tolstoi schon 1880 zentrales Thema war. Beide, Nietzsche wie Tolstoi, waren geistige, intellektuelle und spirituelle Vorläufer.
Was auf dem Monte Verità seinen Ort fand, hatte also seine Wurzeln in einer Gesellschaft, die konservativ, schwerfällig und wenig kreativ wirkte, die aber den Keim des Neuen an vielen Stellen in sich trug. Es gab um 1900 eine Vielzahl sozialer, diätetischer, messianischer Bewegungen, die ihre Wurzeln schon in den Jahrzehnten zuvor hatten und die bis in unsere Gegenwart ausstrahlen.
Einen fundamentalen Bruch aber gab es hier auch, in den Jahren 1917/18. Bloch distanzierte sich bald radikal vom Monte Verità und seiner Umgebung. Schon im „Geist der Utopie“ konnte man lesen, dass er der Meinung war, dass nicht nur die Werte und allgemeine Moral, sondern auch vieles auf dem Berg mit Recht zerstört sei, „all die privaten Idyllen und nichts durchbohrenden Träumereien der Siedler und Sezessionisten des Sozialismus, die für sich eine schöne Nebenerde aus dem Besten der Welt heraus destillieren wollten.“
Anbruch einer neuen Zeit
Aber auch der schimpfende Bloch war Teil des Monte Verità. Er repräsentierte die neue Generation, lauter, aggressiver, großspuriger. Es war der Ton der Nachkriegsjugend. Ludwig Christian Haeusser etwa, erst Chamapagner-Baron, dann Wanderprediger, ein laut polternder Prophet und frühes Werbegenie, kam in den Monaten am Ende des Krieges nach Ascona, um sich hier für seine neue Profession zwischen Prediger und Publicity auszubilden. In der Weimarer Republik hatte er damit dann erstaunliche Erfolge. So ging die Geschichte, unter veränderten Vorzeichen, weiter.
Die ersten Interessenten in den Jahren nach 1900 hatte der Monte Verità übrigens nicht in Berlin, Paris oder Mailand – die ersten Interessenten am guten Leben in freier Natur kamen aus Kalifornien. Der San Francisco Chronicle schrieb als erste Zeitung über die Freiluftsiedlung am Monte Verità. Da zeichnete sich ab, wo die Offenheit für das Neue künftig ihren Ort haben würde.
Buchtipp
Peter Michalzik 1900. Vegetarier, Künstler und Visionäre suchen nach dem neuen Paradies, DuMont, 414 Seiten, geb., 24 EUR. dumont-buchverlag.de
Peter Michalzik ist Publizist und Hochschuldozent. Er verfasste Biographien über Gustaf Gründgens, Siegfried Unseld und Heinrich von Kleist. Michalzik arbeitet am Mozarteum Salzburg und ist Gastprofessor an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main.