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Titelthema

Gemeinwesen statt Abhängigkeit

Titelthema - Gemeinwesen statt Abhängigkeit
Flaggenhof: Die Vereinten Nationen demonstrieren in Genf Geschlossenheit © Getty Images / Greg Adams Photography

Die alten Systeme von Globalisierung und Global Governance passen nicht mehr zusammen. Zeit für einen Aufbruch ins neue 21. Jahrhundert.

Antonio Negri01.06.2020

Vor 20 Jahren verlangten wir von der Globalisierung eine neue Weltordnung. Die Tatsache, dass sich der Produktionssektor im Handel mit Industriegütern und dem Verkehr von Arbeitskräften, dem Austausch von Wissen vereint und zunehmend stärker transparente und kooperierende ökonomische und politische Systeme zusammenbringt, erschien den allermeisten (nach einem Jahrhundert heißer und kalter Kriege) als ein großer Fortschritt, der allen Vorteile bringen würde.

Aber heute fragen wir uns, ob die Globalisierung nicht zu Ende geht oder ob sie von Grund auf geändert werden muss, um zu vermeiden, dass sie nicht vollständig verschwindet. In der Corona-Krise, die die Wirtschaftsstrukturen aller Industrienationen auf den Kopf stellt, können wir nicht umhin, uns diese dramatische Frage zu stellen.

Auf Gedeih und Verderb verwoben

Eine Frage, die sich allerdings nicht durch die Pandemie stellte, sondern dadurch eher noch dringlicher wurde. Die Frage war bereits in den letzten Jahren aufgeworfen worden. Etwas Neues war passiert. Was genau? Ich habe versucht, es mir auszumalen, indem ich mir zwei einzelne Kugeln vorgestellt habe, die sich ineinander drehen. Auf der einen Seite die globalen Netze der sozialen Produktion und Reproduktion, und auf der anderen die Bildung einer Global Governance: zwei Kugeln, die sich zunehmend asynchron bewegen.

Die innere Kugel, das globale Netz der sozialen Produktion und Reproduktion, besteht aus immer komplexeren und immer enger miteinander verflochtenen Kommunikationsnetzen, materiellen und immateriellen Infrastrukturen, Luft-, See- und Landtransportverbindungen, interozeanischen Kabeln und Satellitensystemen, sozialen und finanziellen Netzen und einer Vielzahl an Interaktionen zwischen Ökosystemen des Menschen und anderer Spezies. Die Lokalisierung traditioneller Formen der Wirtschaftsproduktion wie Landwirtschaft und Bergbau bleiben weiterhin im Inneren dieser Kugel, sie werden jedoch zunehmend absorbiert, in Bewegung gesetzt, neu definiert und in vielen Fällen durch diese internationalen Kreisläufe bedroht. Auch die Beschäftigung wird in das globale Netz der Märkte, der Infrastrukturen, der Gesetze und der Grenzregime, mit denen sie verknüpft ist, hineingezogen. Die Valorisierungs- und Ausbeutungsprozesse werden durch ein sehr differenziertes, jedoch integriertes globales Fließband gelenkt. Auch wenn die Institutionen der sozialen Reproduktion und die Stoffkreisläufe im Ökosystem zwar lokal bleiben, so hängen sie schließlich von zunehmend ausgedehnteren dynamischen Systemen ab – und werden oftmals von ihnen bedroht.

Unter dem Brennglas

Diese globalen Systeme umfassen und schließen direkt oder indirekt zahlreiche soziale Praktiken der Produktion und Reproduktion durch eine hohe Vielfalt an Räumen und Temporalitäten ein. Der Umstand, dass diese Kugel so heterogen ist, aus Grenzen und Hierarchien auf verschiedenen Ebenen – Wohnung, Stadtviertel, Metropole, Staat, Nation, Region, Kontinent – besteht, darf uns nicht daran hindern, sie als kohärentes, wenngleich ausgesprochen differenziertes Gebilde zu erkennen, nämlich als ein einziges, dichtes, globales Ganzes. Diese Verbindungen werden vielleicht leichter wahrnehmbar, wenn wir uns mit unserer gemeinsamen Verletzlichkeit auseinandersetzen. Bereits die nukleare Zerstörung oder der katastrophale Klimawandel stellte zum Beispiel eine Bedrohung für das gesamte Netz der Lebewesen und ihrer Interaktionen oder das Technologienetz dar. Die augenblickliche Corona-Pandemie hat diese gegenseitige Abhängigkeit, die auch eine Gemeinsamkeit darstellt, auf die Spitze getrieben.

Der Widerspruch wird deutlicher

Diese Kugel der sozialen Produktion und Reproduktion wird von einer zweiten Kugel umschlossen, die aus politischen und Rechtssystemen besteht, die wiederum auf verschiedenen Ebenen miteinander verflochten sind: nationale Regierungen, internationale Rechtsabkommen, supranationale Institutionen, Unternehmensnetze, besondere Wirtschaftsräume und vieles mehr. Dies ist kein globaler Staat. Während die Ansprüche auf die nationale Souveränität fallen – oder zunehmend karikaturistische Züge annehmen –, treten hingegen transnationale Lenkungsstrukturen zunehmend in den Vordergrund. Diese sich ergänzenden und/oder überlagernden Strukturen bilden eine merkwürdige Mischverfassung, die es zu analysieren gilt. Aber auf der Oberfläche dieser Kugel liegen die Zügel der Lenkung in den Händen der Politik, die häufig mit der Wirtschaft verflochten ist, und jedenfalls stets von der Finanzelite und den Medien vertreten ist.

Wenn wir nun das Bild dieser beiden Kugeln verlassen, können wir nun leicht erkennen, wie diese in unserer realen Entwicklung zueinander in Widerspruch stehen. Und dieser Widerspruch wird von Tag zu Tag deutlicher und verschärft sich zusehends. Allerdings gründet sich dieser Widerspruch nicht auf die Produktionsrealität einer globalisierten Geschäftswelt – er ist vielmehr aus dem Blickwinkel des Politikers zu betrachten: Die Global Governance steckt in einer Krise.

Vor zwanzig Jahren hatte ich mit dem Begriff des Empire ein Weltordnungsmodell für die globalisierte Welt ausgearbeitet, das unter amerikanischer Herrschaft stand – von Washington die souveräne Militärherrschaft, von New York die Wirtschafts- und Finanzherrschaft, von Los Angeles die Herrschaft über die Kultur ausgehend. Bei der Aufstellung dieses Rahmens hatte ich nie die alten Kategorien des „Imperialismus“ im Sinne, sondern ein viel flexibleres und offeneres Modell wie dasjenige, das Polybios benutzte, um das Römische Reich zu beschreiben. Eine Mischverfassung, sagte ich: eine Monarchie im Zentrum, dem eine Aristokratie entsprechen würde, ein globaler Senat, der die untergeordneten Mächte und die großen multinationalen Konzerne vereinigen würde, und schließlich eine demokratische, tribunizische Schicht, in der Instrumente der sozialen Demokratie und Nichtregierungsorganisationen funktionieren würden. Heute steckt dieses Modell in einer großen Krise. Nach 9/11 hatten die Vereinigten Staaten keine unangefochtene globale Führungsrolle mehr inne, ihre monarchische Figur war in erheblichem Maße geschwächt worden. In den 20 Jahren, die seither vergangen sind, setzte China darauf, aus einem Weltlaboratorium selbst zur Supermacht zu werden – während Europa seine Rolle als großer politischer und kultureller Vermittler zwischen unterschiedlich entwickelten Ländern allmählich abtritt. Auf diese Weise entfällt die Globalisierung auf der Seite der Governance.

Die Krise kommt gerade zu einem Zeitpunkt, in dem nicht nur die Umwandlung und Vertiefung der Produktionsweise Strukturen der dynamischen Vereinigung der Systeme (Internet und Plattformen stellen ideale Modelle dieses Prozesses dar) in zunehmendem Maße bestimmen, sondern auch zu einem Zeitpunkt, in dem die Corona-Pandemie zeigt, wie sehr der Zustand des Überlebens der Menschheit mittlerweile allen gemeinsam ist. Wie sehr er gemeinsam ist, das heißt, wie sehr er von gegenseitigen Abhängigkeiten geprägt ist und wie sehr er von allen geteilt wird.

Bedingungslose Solidarität

Dieser Moment ist für uns alle entscheidend. Die Entscheidung liegt bei uns, ob wir ein „neues Jahrhundert“ wollen oder ob wir wieder in das alte 20. Jahrhundert eingegliedert werden wollen, in das Jahrhundert, das im Jahr 1914 mit Brüderkriegen begann und sich bis hierher in tödlichen Teilungen fortsetzte. Das 20. Jahrhundert mit einem gemeinsamen Kampf gegen die Pandemie zu beenden, könnte ein gutes Zeichen für globale Gesundheit und globalen Frieden für die Zukunft bedeuten. Aber dazu müssen wir unsere Verletzlichkeit durch eine Form der bedingungslosen Solidarität ersetzen, und wir müssen außerdem in der Lage sein, die gegenseitige Abhängigkeit, die uns verletzlich macht, in ein Gemeinwesen umzuwandeln, das uns umformt und stärker macht.


Buchtipp


Über das Kapital hinaus

Dietz Berlin, 2019

264 Seiten, 29,90 Euro

dietzberlin.de

Antonio Negri
Antonio Negri war Direktor des Instituts für Politikwissenschaft der Universität Padua und einer der Führer des sozialen und politischen Protests in den 1960er und 1970er Jahren in Italien. Seine Arbeit widmet sich sowohl der politischen Philosophie wie der Globalisierung, zu der er gemeinsam mit dem amerikanischen Wissenschaftler Michael Hardt vier Bücher publizierte.