Titelthema
Griff nach den Sternen
Die Sammlungen naturkundlicher Museen sind eine Art Versicherungspolice für die Menschheit. Hier lagern die Antworten auf die wichtigsten Fragen der Gegenwart – und der Zukunft.
Was hat der Hai, von dem es auch in der Sammlung des Museums für Naturkunde Berlin beeindruckende Exemplare gibt, für Sie, ja für Sie liebe Leserinnen und Leser getan? Hier drei Beispiele aus dem Alltag: Der Hai hat die moderne Kunst beflügelt. Wie man einen Hai präpariert und ausstellt, hat Damien Hurst in einem Naturkundemuseum gelernt. Sein erstes Meisterwerk wurde zwölf Jahre nach seiner Entstehung 2004 für mindestens acht Millionen US-Dollar verkauft. Das ist nicht alles. Der Hai inspirierte Innovationen in Sport und Verkehr. Der Haihaut verdanken (Leistungs-)Sportlerinnen und -Sportler Schwimmanzüge, die sie schneller durch das Wasser gleiten lassen; Flugzeuge Tragflächen, die den Windwiderstand und so den Kerosinverbrauch senken; Schiffen einen umweltfreundlichen Antifouling-Anstrich, der sie vor unerwünschten Mitreisenden und den Ozean vor noch mehr Gift bewahrt. Oder der Gesundheitsbereich: Haiproteine werden erprobt, um Alzheimer zu bekämpfen oder das Eindringen von Corona-Viren zu verhindern. Doch nicht nur Haie tragen zu unserer Gesundheit bei. Etwa 50 Prozent aller modernen Arzneimittel basieren auf Naturprodukten.
Was für ein Reichtum! Und welcher Reichtum wartet da noch – wenn wir mehr um die Kraft und das Innovationspotenzial der Natur wüssten und dieses verantwortlich zu nutzen verständen?
Doch selten handeln wir, der selbst sich als Homo sapiens bezeichnende Mensch, so. Die ungebremste Zerstörung der Umwelt hat mit zur Covid-19-Krise beigetragen. Die ganze Menschheit leidet unter den Folgen, nicht zuletzt unsere Wirtschaft. Gleichzeitig sehe ich in der Krise eine riesige Chance. Die Chance besteht darin, den Reichtum der Natur zu ergründen und mit der Innovationskraft der Natur ein gutes Leben mit allen und für alle Menschen auf der Erde zu gestalten. Die Natur stellt Inspirationen, Anleitungen und Grundlagen für den längst überfälligen Umbau unseres Wirtschaftens und Konsumierens zur Verfügung – wir müssen nur voller Neugier und tiefer Demut von ihr lernen. Seit vielleicht zwei Millionen Jahren leben Menschen auf der Erde – Leben auf unserem Heimatplaneten gibt es seit 3,8 Milliarden Jahren. Die Natur, sie ist das Einzige, was uns täglich trägt, uns Nahrung, Gesundheit und Glück schenkt. Wir haben das Wissen, die kreativen Köpfe, die Infrastruktur, die Wirtschaft, das Geld und die technischen Fähigkeiten, um Neues entstehen zu lassen – das Zeitalter der Ausbeutung hinter uns zu lassen.
Bisher hat die Coronakrise der (westlichen) Welt wenigstens 30 Billiarden an neuen Schulden gebracht. Das ist ein Anwachsen der globalen Schulden um mehr als zehn Prozent. Diese neuen Schulden wurden in weniger als einem Jahr akkumuliert, von den sozialen Folgen ganz zu schweigen. Und gleichzeitig ist klar: Für einen Bruchteil dieser Summen können wir die Natur allumfänglich verstehen lernen. Aber nicht nur das: Wir können ein Modell der belebten Welt in all ihrer Vielfalt und Interaktion bauen.
Es gibt die technischen Voraussetzungen. Mittels Methoden der Künstlichen Intelligenz, Digitalisierung, Genetik, Genomik, Biodiversitäts- und Klimadaten können wir ein digitales Modell bauen, um zu verstehen, wie diese Welt funktioniert, wie die Natur unser (Über-)Leben ermöglicht. Auch wenn es noch Datenlücken zu schließen gilt.
Das gilt vor allem für die unsichtbare Biodiversität – allen voran Kleinstlebewesen, die Mikroben. Von ihnen, die in den Wolken und auf unserer Haut, in Kernreaktoren und auf dem Grund des Ozeans, in Salzkristallen oder antarktischem Eis leben und unsere Böden lebendig halten, wissen wir immer noch viel zu wenig.
Gleichwohl können wir schon jetzt mit einem digitalen Zwilling der Geo-Biosphäre eine solide Basis schaffen, um globalen Katastrophen und Pandemien zu begegnen, um das menschengemachte sechste Massenaussterben zu verhindern und einen Friedensvertrag mit der Natur zu schließen. Es ist eine Vision – aber war das die Mondlandung oder die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes nicht auch? Deutschland hat alles, was es braucht, um diesen Weg erfolgreich einzuschlagen: Wissenschaft, Wirtschaft, Geld, Zivilgesellschaft und Demokratie. Der Griff nach den Sternen, er muss hier auf Erden gelingen – eine zweite Erde, eine zweite Heimat haben wir Menschen nicht. Glauben Sie niemandem, der Ihnen das einreden will.
Genau hier will sich das Museum für Naturkunde einbringen. In unseren Sammlungen schlummern die Daten, um den Bau eines solchen digitalen Zwillings der Geo-und Biosphäre zu befördern. Hier liegen jahrhundertealte Informationen über die Natur, die Antworten auf die dringendsten Fragen der Gegenwart geben können – und auf die, die noch gar nicht gestellt sind. Unsere Sammlungen sind eine Art Versicherungspolice – in ihnen können wir nachschauen, wie sich der Wandel vollzogen hat, was das Leben, unser Leben bedroht. Wir werden mit unserem Wissen, unserer Sammlung und mithilfe des großzügig durch Bund und dem Land finanzierten Zukunftsplans wesentliche Beiträge und Impulse setzen. Wir werden zum „Moon Shot“ beitragen. Und ich verspreche Ihnen, dieser Weg wird sich, wie bei der Sequenzierung des menschlichen Erbgutes, vielfach auszahlen und er wird allen Menschen auf dieser Erde ein gutes Leben eröffnen.
Als Forschungsmuseum der Leibniz-Gemeinschaft nehmen wir unsere wissenschaftliche und unsere gesellschaftliche Verantwortung wahr. Wir verbinden Forschung und Wissenstransfer mit Integration, Öffnung und Teilhabe. Deshalb entwickeln wir unsere Sammlung zu einer sprudelnden Quelle fundierten Wissens, ökonomischer Wertschöpfung, Teilhabe und Inspiration für Nutzende unterschiedlicher Herkünfte weiter. Unsere Sammlung ist die Grundlage für die gesellschaftlich hochrelevante Forschung zum natürlichen und kulturellen Erbe in einer globalisierten Welt sowie zu Fragen des Umganges mit dem gemeinsamen Erbe (Shared Heritage) der Menschheit und dessen respektvoller Nutzung heute. Wir wollen in diesem Prozess Raum schaffen, um mit einer Vielfalt von Stimmen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen, geografischen Bereichen im Gespräch Forschungsfragen und gut durchdachte Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu finden. Indem wir einen integrierten und offenen Ansatz realisieren, der neuartige, multiperspektivische Formen des Forschens und des Wissenstransfers ermöglicht, erschließen und öffnen wir diese Quelle für neue Perspektiven und die Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Um eine nachhaltige und gerechte Entwicklung zu beflügeln, muss das Lernen aus der Natur-und Kulturgeschichte noch mehr in den Mittelpunkt politischer Debatten gerückt werden. Mit ihnen eröffnen sich Chancen und Herausforderungen, die im Licht von Nachhaltigkeit und globaler Gerechtigkeit gemeinsam mit Menschen unterschiedlicher Herkünfte erforscht und gestaltet werden müssen. Wissenschaftliche und wirtschaftliche Chancen müssen realisiert werden und gleichzeitig muss sorgfältig erkundet werden, welche unerwünschten oder zunächst unerwarteten Nebenwirkungen mit zunächst positiv wirkenden Innovationen verbunden sind.
Eine nachhaltige Zukunft oder die Fortführung der Ausbeutung der Natur mit elenden Folgen für den Mensch liegen dabei eng beieinander – Covid ist der erste Bote. Wir haben die Chance, uns selbst, die Welt und die biologische Vielfalt neu zu entdecken und im globalen Dialog nachhaltig zu gestalten. Ob die Luft zum Atmen oder sauberes Trinkwasser, Nahrung oder Kleidung, Brennmaterialien oder Baustoffe, saubere Meere oder Medikamente – auf der großen Vielfalt an natürlichen Ressourcen, die uns die Natur zur Verfügung stellt, basiert unser Leben. Sie ist das Fundament einer guten Lebensqualität. Der Verlust an biologischer Vielfalt und der Klimawandel sind somit die größten auch gesundheitlichen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Ungebremst werden die Folgen vor allem ein gesundes Aufwachsen der Kinder, die heute geboren werden, gefährden.
Nicht Greenpeace, sondern das Weltwirtschaftsforum listet den "Verlust der biologischen Vielfalt" als eines der Top drei der globalen Risiken auf; nicht der WWF, sondern die Schweizerische Rückversicherungs-Gesellschaft SwissRe schätzt, dass 20 Prozent aller Länder vom Zusammenbruch des Ökosystems bedroht sind, da die biologische Vielfalt abnimmt. Diese Berichte sind nur zwei, die verdeutlichen, dass der Verlust der biologischen Vielfalt kein akademisches Problem ist; er ist eine große Bedrohung für die deutsche, die europäische, die globale Wirtschaft, für die Gesundheit aller Menschen und den gesamten Planeten. Die ungehemmte Ausbeutung der Natur bringt Pandemien, der Verlust an biologischer Vielfalt verstärkt den menschengemachten Klimawandel lokal und regional, er verschärft die quälende Ungerechtigkeit auf dieser Welt.
Unsere Heimat, die Erde, zu verstehen, ist der Schlüssel für ein gutes Leben aller Menschen auf diesem Planeten. Bitte helfen Sie uns diese Vision zu verwirklichen, bitte wirken Sie daran mit!
Professor Johannes Vogel, Ph.D., ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde in Berlin und Professor für Biodiversität und Public Science an der Humboldt-Universität zu Berlin.
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