Titelthema
„Er hatte ein so großes Herz“
Getötet: Awad Darawsche (23)
Schon als kleines Kind wollte Awad Darawsche am liebten helfen. „Andere Kinder spielten Fußball. Awad spielte Arzt“, sagt sein Bruder Mohammed. Während Gleichaltrige in Bars gingen, meldete sich er sich im Gymnasium als Freiwilliger bei Magen David Adom, dem israelischen Äquivalent zum Roten Kreuz. „Wenn die Klasse einen Schulausflug machte, hatte Awad seinen Verbandskasten dabei“, sagt der 31-Jährige. „Wenn es einen Unfall gab, rannte er sofort los. So war er: Der Dienst am Menschen war Awad das Wichtigste. Er wollte helfen, wann immer es ging.“
Ursprünglich wollte der Palästinenser aus einem Dorf nahe Nazareth Arzt werden. Doch dann kam die Coronapandemie und machte seinen Plänen einen Strich durch die Rechnung. Deshalb machte er eine Ausbildung zum Sanitäter und schloss sich vor drei Jahren United Hatzalah an, einem ehrenamtlichen Rettungsdienst. Zusammen mit zwei Kollegen wurde er am 6. Oktober für einen Einsatz am Supernova-Musikfestival in der Nähe des Kibbuz Reim eingeteilt.
„Sie brachten jeden um“
„Als wir am nächsten Morgen hörten, dass das Festival mit Raketen beschossen wird, riefen wir Awad sofort an“, sagt Mohammed. „Doch er sagte: Er habe jetzt keine Zeit, er müsse einen Verletzten behandeln, der von einem Raketensplitter am Bein verletzt worden sei.“ In größter Sorge rief die Familie um 9.30 Uhr Awad erneut an. Doch der sagte: „Die Schüsse kommen immer näher. Ich muss rennen.“ Danach blieb das Telefon stumm. Fünf Tage später fanden Bergungskräfte die Leiche des 23-jährigen Sanitäters unter der Bühne des Festivals. Hamas-Kämpfer hatten ihn mit einem Kopfschuss getötet. „In seiner Hand hielt er noch Verbandsmaterial. Awad war sehr engagiert“, sagte ein Sprecher von United Hatzalah nach seinem Tod, und weiter: „Er war ein bescheidener junger Mann und sagte nie Nein, wenn jemand Hilfe brauchte, egal, wer die Person war oder woher sie kam.“
Außer dem jungen Palästinenser brachten Hamas-Kämpfer an jenem Tag 19 Beduinen um, ebenfalls Muslime. Sieben weitere nahmen sie als Geiseln. Insgesamt massakrierten die Extremisten rund um das Festival mindestens 270 Besucher und Besucherinnen. Selbst das Leben eines 16-jährigen Mädchens, das schwer behindert war und im Rollstuhl saß, war ihnen nicht heilig. „Das sind keine Verfechter des Islam“, sagt Mohammed über die Hamas. Es seien kaltblütige Mörder. „Sie brachten wahllos jeden um: Araber und Juden, Muslime, Christen und Drusen. Einfach jeden.“
„Er war ein toller Koch“
Awad war das Jüngste von vier Kindern der Da raw scheFa mi lie. Mohammed, der Älteste, passte auf, dass dem kleinen Bruder nichts passierte. „Er war so warmherzig und freundlich zu jedem“, sagt Mohammed. „Er hatte so ein großes Herz. Alle liebten ihn.“ Die Regierung hat den Muslim einen Helden genannt. Seine Kollegen hätten ihn angefleht, die Flucht zu ergreifen, als die Hamas das Festival überfiel. „Aber er blieb, um Verletzte zu behandeln.“ An der Beerdigung des Sanitäters nahmen 20.000 Trauergäste teil. Der muslimische Prediger bezeichnete ihn als „Schehid“ – einen Märtyrer, doch nicht im pervertierten Sinn der Extremisten, sondern in seiner eigentlichen Bedeutung: jemand, der ein gottgefälliges Leben geführt hat. „Wir haben einen großartigen Menschen verloren“, sagt Bruder Mohammed.
In seiner Freizeit betätigte sich der junge Sanitäter am liebsten als Koch. Im Haus der Familie richteten sie ihm deshalb eine kleine Küche ein. „Wir nannten ihn den kleinen Chef“, sagt Mohammed. „Er war ein toller Koch.“ Jede Stunde, jede Minute vermisst Mohammed seinen kleinen Bruder. „Seine Wärme, seine Liebe, sein Lachen fehlen mir so sehr.“
Inga Rogg