Gruppenbild ohne Dame
Die Kanzlerin in der Flüchtlingskrise und die Haltung der österreichischen Politik
Worte und Bilder und ihre Schicksale. Ende August 2015: Wiens Kardinalerzbischof Christoph Schönborn lässt beim Gedenkgottesdienst für 71 in einem ungarischen Schlepper-LKW erstickte Flüchtlinge im Dom zu St. Stephan seinem empörten Gewissen freien Lauf: „Es ist genug! Genug des Sterbens, genug des Leides und der Verfolgung. Wir können nicht mehr wegschauen.“ Dazu läuten die Glocken der katholischen Kirchen des ganzen Landes. Angela Merkel gibt in Berlin gleichsam nebenbei eine geschichtsträchtige Devise aus: „Wir schaffen das!“ Im Klartext bedeutet das: die Aufnahme und mögliche Integration von Schutz- und Hilfesuchenden aus dem Nahen und ferneren Osten. Wenige Tage danach geht das Foto des ertrunkenen dreijährigen Aylan Kurdi am Strand von Bodrum um die Welt. Es wird zur Ikone des Millionenelends, des Skandalons der Gegenwart.
Der Sozialdemokrat Werner Faymann an der Spitze der Wiener Koalitionsregierung und die CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel ziehen an einem Strang. Eine ziemlich plötzliche Entente Cordiale. Gewiss, der in der Folge allseits gebrandmarkte Brauch des Durchwinkens ist für die österreichischen Behörden nicht unpraktisch - solange fast alle ins gelobte Merkel-Land oder nach Schweden wollen. Mit unverhohlenem Abscheu blickt man auf Viktor Orbáns Budapester Regime, das Menschenrechte bewusst negiert, zu Stacheldraht an den Grenzen keineswegs als ultima ratio greift, sondern als bequemstem Mittel der Abschottung und zum Schüren nationalistischer Ressentiments: Ungarn den Ungarn und niemandem sonst! Unfreundliche Botschaften zwischen Österreich und Ungarn, immerhin Bruderstaaten in der seither ziemlich verblichenen Europäischen Union und einst kakanisch verbunden, werden ausgetauscht.
Wer die Ausstellung eines Totenscheins für ein vereintes Europa für übertrieben und voreilig hält, mag sich mit einer optimistischeren Diagnose begnügen: Die Medizin nennt derlei einen multimorbiden Zustand aufgrund vielfältigen Organversagens. Gleichwohl: Die Welle der Hilfsbereitschaft, die nicht zuletzt von der Generation Facebook und Twitter getragen wird, ist auch in Wien beeindruckend: Die Zivilgesellschaft beweist, wozu sie im Notfall imstande und womit die unvorbereitete öffentliche Hand überfordert ist.
Damit beginnt der Herbst einer deutsch-österreichischen „Willkommenskultur“. Ein Unwort, das dort landen dürfte, wo die Diffamierung „Gutmensch“ ihren Ausgangspunkt nahm: auf der Müllhalde der Geschichte. Das Selbstverständliche, der Impuls humanitären Engagements, die Fähigkeit zur Empathie angesichts einer internationalen Katastrophe bedürfen keinerlei Kostümierung als modischer Trend. Denn genau diese Selbstverständlichkeit treibt Angela Merkel in einer Ausnahmesituation zu ihrem Entschluss: die deutschen Grenzen zu öffnen und auch dann noch offen zu halten, als sich immer stärkere Opposition dagegen formiert..
Die Stimmung kippt
Aus Flüchtlingen und Ayslanten wurden im Diskurs der buchstäblichen Massenmedien zusehends und pauschal Immigranten, also fast Schmarotzer oder Marodeure innerhalb einer abzuwehrenden neuen Völkerwanderung. Hatte das Flaggschiff der österreichischen Boulevardpresse, die Neue Kronenzeitung, anfangs noch auf Human-Touch-Stories gesetzt, verschwanden diese allmählich zugunsten von Bedrohungsszenarien unter Einschluss hetzerischer Falschmeldungen. Bereits vor den scheußlichen Übergriffen in der Kölner Silvesternacht war die Stimmung in der Bevölkerung am Kippen, auch und gerade durch die Pariser Terroranschläge. Dass Angela Merkel im Dezember 2015 vom Time Magazine zur „Person of the Year“ und vom österreichischen Nachrichtenmagazin Profil zum „Menschen des Jahres“ gewählt wurde, wirkte schon im Augenblick der Drucklegung überholt: wie eine Reminiszenz aus sehr vergangener Vergangenheit. Die von der Bundeskanzlerin als „alternativlos“ verfochtene europäische Lösung der Flüchtlingskrise scheiterte bis dato nicht bloß an der Weigerung der Visegrád-Gruppe (Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei), auch nur die mickrigsten Aufnahmequoten zu erfüllen.
Selbst enge und engste Verbündete verhalten sich, jenseits wohlfeiler Lippenbekenntnisse, reserviert bis ablehnend. Jedenfalls spiegeln die ritualisierten Familienschnappschüsse der Staats- und Regierungschefs bei den europäischen Gipfeltreffen etwas vor, was es so nicht mehr gibt: Längst hat das Brüsseler Gruppenbild mit Dame einem ohne sie Platz gemacht. Dass aktuell gültige Gespensterfoto zeigt Betrüblicheres: Angela Merkel allein im auseinanderbrechenden europäischen Haus. Gendermäßig unkorrekt ausgedrückt: Sie ist der einzige Staatsmann unter lauter Politikern. Keine angenehme Vorstellung, weder für Deutschland noch für Europa. Furcht, persönlich unterzugehen, hat Angela Merkel jedoch offenkundig nicht. Es scheint ihr sogar herzlich egal zu sein. Die Pfarrerstochter kennt die Bibel, kennt ihren Luther: Hier sitze ich, ich kann nicht anders („stehe“ wäre übrigens auch nicht authentisch, hat sich allerdings in der Überlieferung eingebürgert).
Populismus vor Humanismus
Unzweifelhaft sandte das offizielle Berlin, unter dem Druck der Macht des Faktischen und absehbarer Überlastung, eine Menge widersprüchlicher Signale aus. Diese freilich sind nichts als der Ausdruck der verzweifelten Weltlage und von deren unberechenbaren Folgen, somit einer globalen Hilflosigkeit. Was sich derzeit abspielt und anbahnt, stellt die größte Herausforderung nicht nur dieses Kontinents und seiner Gesellschaften seit Ende des Zweiten Weltkriegs dar.
Die in ihrer hölzernen Phrasenhaftigkeit quälenden Stellungnahmen von Österreichs ÖVP-Innenministerin Johann Mikl-Leitner konnte man so lange nicht als gefährliche Drohung ernst nehmen, wie die den Bundeskanzler stellenden Sozialdemokraten mehr oder minder geschlossen dagegen hielten. Aber das ist Schnee von gestern. Kanzler Faymann schwenkte aus Angst vor den in Umfragen stetig zulegenden Rechtspopulisten von Straches FPÖ auf den Kurs seines in der Flüchtlingsfrage immer rigideren Koalitionspartners ÖVP ein.
Werner Faymann, der zumindest kurzfristig Bedächtige, auf sozialdemokratische Traditionen Bedachte, hat sich – das Kinn energisch vorgestreckt – flugs in den lautstarken Hardliner verwandelt, der Kritik von außen entschlossen abwehrt, wofür ihm der Beifall des Publikums und der reflexartige Schulterschluss der Stammtischpatrioten sicher sind: „Ich bleibe hart!“ Mit der Einführung von Obergrenzen für die Zahl von Asylanträgen; mit der Errichtung eines Grenzzaunes, der nicht so heißen darf; mit der Rechtens als „Wiener Kongresschen“ (Gustav Seibt) charakterisierten „Westbalkankonferenz“ unter Ausschluss von Griechenland und Deutschland positioniert sich Wien im Leading Team der angeblichen Realisten unter Europas Entscheidungsträgen.
Und in der Tat: Die Balkan-Route ist geschlossen. Dass es sich dabei um blanken Zynismus handelt, der Abschreckung - wienerisch: die Vergrausungsmethode - zum Prinzip erhebt, ist die Kehrseite der Medaille, die sich jene ans Revers heften, die behaupten, die Stimme der Vernunft gepachtet zu haben. Deren Logik: Schreckliche Bilder sind nützlich und umso besser, je weiter südlich sie entstehen. Die Probleme werden an die griechisch-makedonische Grenze abgeschoben. Aus den Augen, aus dem Sinn. Proteste - wie die von Dutzenden österreichischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern verhallen ungehört. Federführender Mitarchitekt der altehrwürdigen Festung-Europa-Strategie ist mittlerweile Österreichs jugendfrischer Außenminister Sebastian Kurz, der Hoffnungsträger der ÖVP. Alert, smart, ein Kommunikator, für den sich kein Pressesprecher zu genieren braucht. Das Gros von Österreichs Journalisten ist über ihn nur scheinbar geteilter Meinung: Die einen nennen ihn „Prinz Eisenherz“, die anderen – auf Patricia Highsmiths netten Mörder Mr Ripley anspielend - „Der talentierte Sebastian Kurz“. Mit Heinrich Heine zu sprechen: Denk‘ ich an dies Europa in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht.