Titelthema
Hafer, Roggen und Handwerk
Eine Studie der Uni Göttingen liefert erstaunliche Ergebnisse: Unsere Wirtschaftsstruktur ist im wahrsten Sinne des Wortes in den Böden unserer Vergangenheit verwurzelt.
Vor der Einführung moderner Technik, insbesondere der Mechanisierung und der Erfindung synthetischer Dünger in den 1960ern, waren landwirtschaftliche Erträge zum größten Teil von der Qualität der Böden bestimmt. Abgesehen von Wetterschwankungen, war die Kalorienanzahl, welche auf einem Stück Land erwirtschaftet werden konnte, langfristig relativ konstant. Regionen mit hoher Bodengüte entwickelten auf diesem Wege eine herausragende historische Bedeutung. Das ägyptische Getreide ernährte beispielsweise weite Teile des römischen Imperiums. Im 19. Jahrhundert versorgten die ostpreußischen Ländereien die sich industrialisierenden Gebiete in Sachsen und im Ruhrgebiet. Erst die bahnbrechende Transformation der Wirtschaft der vergangenen 200 Jahre sorgte dafür, dass die Landwirtschaft ihre dominierende Rolle verlor.
Der Kartoffel sei dank
Viele Studien zeigen, dass der tägliche landwirtschaftliche Arbeitsalltag die soziale Struktur des Lebens prägt. Nathan Nunn, Ökonom an der Harvard University, zeigte beispielsweise, dass die Länder, welche die Kartoffel vor dem Jahr 1700 als Nahrungsmittel einführten und deren Böden sich besonders für den Anbau der Kartoffel eignen (etwa England und Deutschland), sich wirtschaftlich deutlich schneller entwickelten als die Länder, in denen die Kartoffel erst nach 1700 eingeführt wurde. Die schnellere Entwicklung wird darauf zurückgeführt, dass Kartoffeln mehr Vitamine, Nährstoffe und Kalorien enthalten als andere Nahrungsmittel und somit einen raschen Anstieg der Bevölkerung begünstigen – was wiederum die Erfindung neuer Technologien erleichterte.
Eine andere Studie des Ökonomen Alberto Alesina stellt die These auf, dass die Länder, in denen der Pflug frühzeitig eingeführt wurde, heute eine geringere Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen aufweisen, als Länder, in denen dies später erfolgte. Der Zusammenhang beruht darauf, dass Männer aufgrund ihrer physischen Stärke den Pflug entweder selbst ziehen konnten oder die Tiere in Zaum hielten, die den Pflug zogen. Es entwickelte sich dementsprechend eine Arbeitsteilung, welche den Männern die Felder und den Frauen die Heimarbeit zuwies.
Unsere eigene Forschung an der Uni Göttingen hatte das Ziel, den Übergang von landwirtschaftlichen zu nichtlandwirtschaftlichen Produktionsweisen nachzuzeichnen. Dabei stolperten wir per Zufall in dieses Forschungsfeld. Im Rahmen eines ganz anderen Projekts fand ich heraus, dass die Zahl der Handwerker pro 1000 Einwohner in Deutschland sehr ungleich verteilt ist. Es gibt Regionen, wie die bayrischen und sächsischen Mittelgebirge, oder etwa den Nordwesten Deutschlands, in denen eine deutlich höhere Handwerkerdichte vorliegt als im Rest des Landes. Während ich versuchte die Ursachen hierfür zu ermitteln, stieß ich auf eine Landkarte der Agrarproduktion des 19. Jahrhunderts. Zu meinem Erstaunen waren Regionen mit hoher Handwerkerdichte fast identisch mit den Anbaugebieten für Hafer und Roggen. Diese beiden Getreidearten sind ein verlässlicher Indikator für eine niedrige Bodenqualität, da diese Pflanzen nur geringe Ansprüche stellen. Wir entwickelten die Hypothese, dass sich Menschen vor allem in den Gegenden von der Landwirtschaft ab- und dem Handwerk zuwandten, in denen die Böden weniger produktiv waren.
Zunächst ein Zweitgewerbe
Stellen wir uns in einem gedanklichen Modell vor, dass die Bevölkerung über die Jahrzehnte langsam ansteigt, beispielsweise nach dem Ende des 30-jährigen Krieges. Wir können davon ausgehen, dass das beste Ackerland als erstes in Besitz genommen wurde, jedes weitere Stück Land, das kultiviert wird, weist also eine immer geringere Produktivität auf. Die Bauern auf den neuen Ländereien erwirtschaften weniger Getreide als die Bauern auf den alten Ackerflächen. Sie suchen nun nach Einkommensmöglichkeiten, um die geringeren Ernten zu kompensieren. In einer vorindustriellen Welt würden sich die Menschen hauptsächlich dem Handwerk zuwenden, beispielsweise der Holz- und Metallbearbeitung oder der Büchsenmacherei. Und tatsächlich zeigt die historische Fachliteratur, dass sich das Handwerk zunächst als Zweitgewerbe, nebst der Feldarbeit, herausbildete. Und so entwickelten sich die Gegenden mit niedriger Bodenqualität schließlich zu Zentren der Handwerkskunst.
Die hohe regionale Handwerkerdichte, welche sich weit in der Vergangenheit herausbildete, besteht auch heute noch. Wie ist es möglich, dass sich die Handwerkstradition bestimmter Regionen über Jahrhunderte hinweg, trotz zweier Weltkriege und verschiedener politischer Systeme, erhalten hat? Hier kommen die Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft ins Spiel. Zum einen wissen wir aus der Forschungsliteratur, dass sich die Wirtschaftsstrukturen innerhalb von Regionen über die vergangenen 50 Jahre nie radikal änderten. Stattdessen entwickelten sich neue Wirtschaftszweige langsam aus älteren, artverwandten Wirtschaftszweigen. Nach diesen Erkenntnissen veränderte sich die chemische Industrie Deutschlands (beispielsweise Färbstoffe) weiter in Richtung medizinischer Chemie, weshalb sich heute beispielsweise auch Impfstoffentwickler in Deutschland befinden. In Bezug auf das Handwerk finden wir im sächsischen Erzgebirge heute noch Holzhandwerker, und an der bayrisch sächsischen Grenze finden wir eine lebendige Textilwirtschaft wie vor über 100 Jahren.
Es bildeten sich Cluster
Neben der langsamen Evolution der Wirtschaftszweige gibt es einen weiteren Grund für den Erhalt von regionalen Wirtschaftsstrukturen über die Zeit: der Aufbau von spezialisiertem Fachwissen und dessen Weitergabe innerhalb einer Region. Wenn eine kritische Masse an kompetenten Fachkräften vorhanden ist, dann strömen junge Menschen in diese Region, um von ihnen zu lernen. Dann werden auch neue Firmen gegründet, welche genau diese Fachkräfte anstellen wollen. Die lokalen Firmen entwickeln neue Technologien und Techniken, was es wiederum noch attraktiver macht, in diesen etablierten Firmen zu arbeiten und zu lernen. In diesem Prozess entstehen Kompetenzzentren für spezialisierte Wirtschaftszweige, die in der Forschungsliteratur auch als Cluster bezeichnet werden. Das Fachwissen wird von einer Generation zur nächsten weitergeben und weiterentwickelt. Zudem findet die Wissensweitergabe im Handwerk hauptsächlich bei der gemeinsamen Arbeit statt. Viele Techniken, die ein Handwerker erlernt, sind praktischer Natur. Sie werden durch das Zuschauen, das Üben und die Wiederholung erworben. Das Lernen erfordert den persönlichen Kontakt vor Ort, die Zusammenarbeit von Meister und Lehrling.
Zusammenfassend können wir zeigen, dass sich das Handwerk in den Regionen herausbildete, welche eine niedrigere Bodenqualität aufweisen. Die Anzahl der Mitgliedschaften in den Handwerkerinnungen im Jahr 1904 ist vor allem in den Regionen besonders hoch, in denen Hafer und Roggen angebaut wurden. Weiterhin zeigen wir, dass sich die Regionen, welche vor über 100 Jahren eine hohe Handwerkerdichte aufwiesen, auch heute noch handwerklich aktiv sind. Trotz aller Dynamik der modernen Welt und den Veränderungen vieler Jahrzehnte, zeigen sich langfristige Entwicklungspfade – und unsere heutigen Wirtschaftsstrukturen sind nicht nur metaphorisch in den Böden der Vergangenheit verwurzelt.
Dr. Petrik Runst ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ifh Göttingen. Er lehrte an der St. Laurence University, der University of Eau Claire sowie der Universität Göttingen.