https://rotary.de/gesellschaft/heimat-der-vielfalt-a-16278.html
Titelthema

Heimat der Vielfalt

Titelthema - Heimat der Vielfalt
Kulturelles Erbe: die Stadtmauer von Cortona, die Kathedrale von Syrakus, die antike Stadt Pompeji © Fotoillustration: Svenja Kruse; Fotos: Andrea Pistolesi / Gettyimages, mb_photo / Alamy Stock Photo, Manuel Romaris / Gettyimages

Jede Stadt, jeder Ort hat seine Schichtung von Kulturen und Zivilisationen, historischen Momenten und Persönlichkeiten. Das ist der wahre Schatz Italiens.

Salvatore Settis01.07.2020

Vor einigen Jahren hatte ich das Glück, Cortona, eine kleine Stadt in der Toskana an der Grenze zu Umbrien, in Begleitung von Bill Viola, dem bedeutendsten US-amerikanischen Videokünstler, zu besuchen. Cortona wurde weltweit berühmt durch Frances Mayes’ Buch „Under the Tuscan Sun“ (1996), das ins Deutsche (Unter der Sonne der Toskana) und andere Sprachen übersetzt und verfilmt wurde. Cortona ist wie viele italienische Kleinstädte reich an Denkmälern, Kunstwerken, kostbaren Museen. Was Bill Viola jedoch am meisten beeindruckte, war ein Stück der mächtigen Stadtmauer: Über zwei Kilometer ist die großartige Stadtmauer der Etrusker (4. Jh. v. Chr.) aus großen Quadern erhalten, auf der die mittelalterliche Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert imponiert und schließlich die der Signoria der Medici aus dem Jahr 1550.

Wie ein lebender, auf sich selbst wachsender Organismus bewahrt Cortona Spuren verschiedener Epochen, ihrer Überlagerung, ihrer Fähigkeit, über Jahrhunderte nebeneinander zu leben. Dies ist gewiss eines der wesentlichen Merkmale des italienischen „genetischen Codes“, nämlich die Verflechtung historischer Erinnerungen und Ruinen, die den verborgenen Schatz vieler Städte darstellt: vollständig erhaltene römische Straßen, die unter den Stadtvierteln Neapels verlaufen, Dutzende von Säulen und Kapitelle aus Ostia Antica, die im Dom von Pisa wiederverwendet wurden, der griechische Tempel der Athene (5. Jahrhundert v. Chr.) in Syrakus, der auch heute noch als Dom genutzt wird. Aber dieses Zusammentreffen von Zivilisationen und Kulturen ist auch eine Metapher für eine jahrtausendealte Kreuzung von Völkern, die durch Italiens geografische Lage begünstigt wurde, das sich von den Alpen an der Schwelle zu Nordeuropa ins Mittelmeer bis fast zu den Küsten Afrikas erstreckt. Deshalb ist Italien seit Jahrtausenden ein Gebiet der Begegnung verschiedenster Kulturen: der „örtlichen“ Bevölkerung wie der Römer und Italiker, aber auch Etrusker, Griechen und Phönizier, die Städte an den Küsten Siziliens, Sardiniens, Süditaliens gründeten. Und dann die Einwanderungswellen der germanischen Völker wie der Langobarden oder der Goten, die lange Besetzung Siziliens durch die Araber, die Teile Italiens, die von byzantinischen, französischen, spanischen, österreichischen Dynastien regiert wurden, die zahlreichen Orte, wo noch heute Katalanisch (auf Sardinien), französische Dialekte (in Piemont), verschiedene Formen des Deutschen (im ganzen Alpenraum), Slowenisch, Kroatisch, Albanisch (an der Adriaküste), Neugriechisch (in Apulien und Kalabrien) gesprochen wird.

Einheit aus Verschiedenem

Oft denkt man an Italien als Ort von weitreichenden Institutionen wie das römische Reich, das über Jahrhunderte von Schottland bis zum Roten Meer und von Spanien bis zur Donau regierte; oder an das Papsttum mit seiner universalen Lehre für die Katholiken. Aber was die italienische kulturelle Tradition so besonders macht, sind nicht diese angesehenen Institutionen, und auch nicht ihre „Reinheit“ oder Kontinuität, sondern eine kontinuierliche Vermischung von Kulturen und Völkern, die auch durch harte interne Auseinandersetzungen und Kriege gekennzeichnet ist. Jede Kultur, die in Italien Fuß gefasst hat, hat dort starke Spuren hinterlassen, von der Sprache bis hin zur Küche; alle mussten gegeneinander kämpfen, um sich durchzusetzen, um von den anderen nicht verschlungen zu werden. Deshalb ist Italien die Heimat der Vielfalt, die mal durch gegenseitige Toleranz, mal durch unüberbrückbare Rivalitäten geprägt ist. In Verbindung mit den zahlreichen durch Gebirge gebildeten Barrieren (Alpen, Apennin) hat die kulturelle Vielfalt daher tief greifende Differenzen zwischen Dialekten und Kunststilen geschaffen. Deshalb unterscheidet sich die Kunst Venedigs so deutlich von derjenigen von Florenz, und die großen Meister, die in verschiedenen Städten wirkten, mussten sich mit den verschiedensten Geschmacksrichtungen messen, so etwa der aus Mailand stammende Caravaggio, der in Rom, Neapel, Sizilien und Malta wirkte.

Unter dem Schutz des Staates

Man sagt zuweilen, dass Italien das Land mit dem reichsten Kulturerbe der Welt sei, aber das ist nicht der springende Punkt. Was das italienische Kulturerbe so besonders macht, ist seine kapillare Verbreitung von den städtischen Kathedralen zu den „Pievi“ (Pfarreien) auf dem Land, von den Burgen und Schlössern des Adels bis zu den Dörfern und Bergwerksorten: Sie alle haben ihre Schichtung von Kulturen und Zivilisationen, historischen Momenten, künstlerischen Persönlichkeiten, die alle in eine vom Menschen geformte Landschaft integriert sind. Deshalb hat die italienische Verfassung (1948), die besonders von der Weimarer Verfassung (1919) inspiriert wurde, unter ihren grundlegenden Rechtssätzen des Staates den „Schutz der Landschaft wie auch des geschichtlichen und künstlerischen Erbes der Nation“ verankert.

Und doch steckt dieses Land mit seinen 60 Millionen Einwohnern, das nach dem Zweiten Weltkrieg einen hohen Grad an Wohlstand erreicht hatte, heute in einer tiefen Krise, die durch die Coronapandemie noch verstärkt wird. Die Krise der „alten“ Politik, die in den 90er Jahren mit „Mani Pulite“ (Saubere Hände), den umfangreichen juristischen Ermittlungen gegen Korruption in der Politik, zutage trat, führte zum Niedergang von Parteien wie der Democrazia Cristiana (Christdemokratische Partei) und dem Partito Socialista (Sozialistische Partei), während der Partito Comunista (die größte kommunistische Partei in der westlichen Welt) mit dem Ende der Sowjetunion stürzte. Als sich die Chance für eine Erneuerung bot, war Italien nicht darauf vorbereitet, und die neuen politischen Klassen haben sich die Macht mit Verbissenheit, aber ohne Weitsicht untereinander aufgeteilt.

Sie reagierten zwar allmählich auf die Probleme, es gelang ihnen jedoch nicht, einen Plan für die Zukunft, der Hand und Fuß hatte, aufzustellen. In den vergangenen dreißig Jahren kürzten Mitte-rechts- oder Mitte-links-Regierungen die Ausgaben für Forschung, Kultur, für die Erhaltung des Kulturerbes, für Bildung, auch die musikalische (die jahrhundertelang als höchste Tradition Italiens galt), für das Gesundheitswesen. Die Hochschulen brachten trotz unzulänglicher finanzieller Mittel weiterhin viele exzellente Akademiker hervor, aber das Land war nicht in der Lage, für sie Arbeit zu finden, und Tausende der besten jungen Leute, die in Italien und auf Kosten Italiens ausgebildet wurden, fanden in den wichtigsten europäischen Ländern, in den USA und China eine Anstellung. Die Kreativitätsrate ist deutlich gesunken, und es haben sich Skepsis und Misstrauen breit gemacht, auch weil ein Großteil der Manager und Politiker glaubt, dass Italien nicht auf kreative Aktivitäten setzen sollte, sondern auf Tourismus und Flächennutzung, auch auf Kosten der Verbauung der Küsten und der damit verbundenen Zerstörung ihrer Schönheit. Die ständige politische Instabilität, die hohe Steuerhinterziehung, die Verlagerung eines Teils der Industrieproduktion ins Ausland machen eine Krise, die heute schon durch die Pandemie verschärft wird, noch besorgniserregender.

Noch lange nicht am Ende

Dennoch hält Italien noch ausgezeichnete Energien bereit. Die Ersparnisse der Italiener sind eine wichtige Reserve, und die Ausbreitung des Virus, die in Italien vor dem übrigen Europa stattfand, führte zu einer Welle von fantasievoller Solidarität und Patriotismus. Auch wenn ein Großteil der Bevölkerung der aktiven Politik fernsteht, so verfügt er über ausgezeichnete Erfahrungen und eine erstklassige Ausbildung und wartet nur darauf, sich in den Dienst des Landes zu stellen. Das europäische Ideal ist noch weit verbreitet, trotz der Schwierigkeiten der EU. Alles hängt nun davon ab, wie das Land in dieser Phase zu reagieren vermag: Es genügt nicht, die durch die Pandemie verursachten Schäden zu reparieren, vielmehr sollte man sie als Chance nehmen, die Zukunft kreativ neu zu denken und dazu unsere kulturellen Energien zu nutzen.


Buchtipp

 

Salvatore Settis

Wenn Venedig stirbt: Streitschrift gegen den Ausverkauf der Städte Wagenbach 2019,

160 Seiten, 11,90 Euro

wagenbach.de

Salvatore Settis

Prof. Dr. Salvatore Settis ist international renommierter Kunsthistoriker, Autor und Vorsitzender des wissenschaftlichen Rates des Musée du Louvre in Paris. Seine Forschungsinteressen umfassen die Kunstgeschichte der Antike und der Renaissance.