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Titelthema

Hoffnungsträger der Energiewende

Titelthema - Hoffnungsträger der Energiewende
© Illustration: Skizzomat/Marie Emmermann

Ohne grünen Wasserstoff klappt die Energiewende nicht, und die Industrie wandert ab. Es braucht eine Technologieoffenheit und eine gemeinsame Beschaffung.

Veronika Grimm01.03.2025

Klimafreundlicher Wasserstoff und seine Derivate spielen eine zentrale Rolle auf dem europäischen Weg zur Klimaneutralität bis Mitte des Jahrhunderts. Nicht alle Anwendungen lassen sich direkt elektrifizieren, etwa durch die Nutzung von Batteriefahrzeugen oder Wärmepumpen. In bestimmten Bereichen sind daher Wasserstoff und darauf basierende Energieträger als Energiequelle oder auch als industrieller Grundstoff ein wichtiger Bestandteil der Transformation.

In welchem Umfang Wasserstoff zum Einsatz kommen wird, ist heute offen. In der Mobilität ist es bei hoher Antriebsleistung und Fahrstrecke – wie etwa im Schwerlastverkehr – vorteilhaft, wasserstoffbasierte Antriebe einzusetzen, ebenso wie im Schiffsund Flugverkehr. Für die Stromerzeugung wird Wasserstoff benötigt, da Gaskraftwerke mittelfristig klimaneutral betrieben werden sollen. In der Industrie wird Wasserstoff sowohl als Energieträger als auch in der stofflichen Nutzung zum Einsatz kommen, etwa in der Stahl-, Chemie und Zementindustrie. In der Wärmeversorgung dürften zumeist die Kosten der direkten Elektrifizierung deutlich geringer sein, allerdings kann der Einsatz von Wasserstoff – abhängig von dem Anteil der Prozesswärmenachfrage, der Einwohnerdichte und der Gebäudestruktur – eine Option sein.

Prognosen aus den vergangenen Jahren spiegeln eine hohe Unsicherheit über die künftig benötigte Wasserstoffmenge wider. Studien sehen den Wasserstoff- und Derivatebedarf für ein klimaneutrales Energiesystem in Deutschland zwischen 225 und 800 Terawattstunden (TWhH2) pro Jahr, was bei einer elektrolytischen Erzeugung in etwa einem Strombedarf von 375 bis 1333 TWhel gleichkommt. Zum Vergleich: Die deutsche Bruttostromerzeugung lag im Jahr 2024 deutlich unter 500 TWhel, es geht also in jedem Fall um erhebliche Mengen. Die bis zum Jahr 2030 notwendige Menge an grünem (oder klimafreundlichem) Wasserstoff schätzt der Nationale Wasserstoffrat auf 53 bis 90 TWhH2, die Bundesregierung geht von einem Bedarf von 95 bis 130 TWhH2 aus, wobei hier auch Wasserstoff aus fossilen Quellen (heute etwa 50 TWhH2) enthalten sein dürfte. Die Bundesregierung strebt derzeit die Installation von zehn GW Elektrolysekapazitäten bis zum Jahr 2030 an, womit sich etwa 28 bis 35 TWhH2 an Wasserstoff produzieren lassen. Das bedeutet, dass ein signifikanter Teil des Wasserstoffbedarfs durch Importe aus anderen europäischen oder außereuropäischen Staaten gedeckt werden muss.

Infrastruktur notwendig 

Damit Investitionen in die Anwendung von Wasserstoff, etwa in der Industrie, tatsächlich getätigt werden, müssen potenzielle Abnehmer erwarten können, den Wasserstoff an ihrem jeweiligen Standort zu erhalten. Ein deutsches Wasserstoff-Kernnetz mit gut 9000 Kilometern an Leitungen wurde 2024 genehmigt und soll sukzessive bis 2032 in Betrieb gehen. Der Entwurf sieht die Anbindung der großen industriellen Wasserstoffverbraucher, der potenziellen Wasserstoffverbraucher im Bereich der Stromwirtschaft, der Wasserstoffspeicher sowie der Importkorridore vor. Auch auf europäischer Ebene haben die Fernleitungsnetz-Betreiber Vorschläge für ein WasserstoffBackbonenetz inklusive Speicherinfrastruktur vorgelegt. Positiv ist, dass man ein leistungsfähiges paneuropäisches Wasserstoffnetz aus Teilen des Gasnetzes errichten kann und nach aktuellen Berechnungen nur etwa 40 Prozent der Leitungsinfrastruktur neu zugebaut werden müsste. Um die anfängliche Differenz zwischen den hohen Investitionskosten und den Netzentgelten auszugleichen, wurde ein Amortisationskonto eingerichtet, wodurch anfängliche Finanzierungslücken überbrückt und später durch Netzentgelte wieder ausgeglichen werden sollen.

Der Import großer Wasserstoffmengen ist per Pipeline oder auf dem Seeweg möglich. Pipelinetransport erlaubt den Transport von gasförmigem Wasserstoff vergleichsweise kostengünstig, insbesondere dort, wo auf bestehende Gas-Infrastrukturen aufgebaut werden kann. Neben den Importen aus mit Pipeline erreichbaren Nachbarregionen, etwa aus Norwegen, Schottland oder Algerien, wird der globale Handel von Wasserstoff vor allem schiffsgebunden in Form von Derivaten wie Ammoniak, Methanol oder Naphtha und gegebenenfalls auch über verflüssigten Wasserstoff stattfinden. Anhand geplanter Projekte ist bereits absehbar, dass in der Hochlaufphase Ammoniak eine Schlüsselrolle zufallen wird. Zum einen wird Ammoniak bereits heute weltweit gehandelt. Außerdem ist der technologische Reifegrad entlang der gesamten Wertschöpfungskette vergleichsweise hoch. Demgegenüber besteht sowohl bei den kohlenstoffbasierten Derivaten Methanol und Naphtha als auch bei verflüssigtem Wasserstoff noch Entwicklungsbedarf.

Kein echter Klimaschutz 

Aufgrund der hohen Unsicherheiten über verfügbare Mengen und Preise der für die Transformation notwendigen klimafreundlichen Moleküle stehen die energieintensiven Industrien – Stahl, Teile der Chemieindustrie, Zement, Kalk, Glas und Papier – an ihren Standorten in Deutschland und Europa vor großen Herausforderungen. Diskussionen darüber, ob und wie die Standorte erhalten werden können, sind allgegenwärtig. Unter den geltenden Klimazielen der EU und Deutschlands muss der Wasserstoff für die Transformation der Produktion in den kommenden 20 Jahren verfügbar gemacht werden, wenn die Standorte in der EU bestehen bleiben sollen. Aufgrund der langen Investitionszyklen ist dies eine überaus ambitionierte Zeitschiene. Während einige Anwendungen reinen Wasserstoff benötigen (etwa die Stahlerzeugung), ist bei anderen Anwendungen zu erwarten, dass Importe von Wasserstoffderivaten heimische Produktionen ablösen werden, etwa Ammoniak.

Da der Import von Wasserstoffderivaten bisher nicht in ausreichender Menge absehbar ist, verlagert sich die energieintensive Produktion zunehmend an Standorte außerhalb der EU. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass die Produktion an außereuropäischen Standorten kurz- bis mittelfristig klimaneutral stattfindet. Verlagern sich größere Teile der Wertschöpfungsketten, so erfolgt zum Beispiel auch die Produktion der Spezialchemie andernorts. Zahlreiche Kuppelprodukte, die heute in verschiedenen Wertschöpfungsketten – wie etwa zur Abwasserreinigung – verwendet werden, würden damit in Deutschland nicht mehr automatisch zur Verfügung stehen. Darüber hinaus würden wir vermutlich nicht auf die dann andernorts produzierten Produkte verzichten, sondern die Zwischen- und Endprodukte importieren – und eben auch den damit verbundenen CO₂-Fußabdruck.

Als Folge der Abwanderung der energieintensiven Produktion würde also einerseits der CO₂-Fußabdruck der heimischen Produktion sinken. Daher würde man durch die Deindustrialisierung scheinbar den Klimazielen näherkommen. Andererseits würde der CO₂- Fußabdruck des Konsums steigen, der sich bisher in Deutschland weitgehend gleichlaufend mit dem CO₂- Fußabdruck der Produktion entwickelt hat. Der geplante CO₂-Grenzausgleichsmechanismus der EU (Carbon Border Adjustment Mechanism – CBAM) greift nur auf den ersten Wertschöpfungsstufen und könnte dies nicht verhindern. Die Europäer würden also nur „auf dem Papier“, aber nicht tatsächlich, das Klima schützen.

Technologieoffen agieren

Daher muss es gelingen, große Mengen klimafreundlicher Energieträger wie Wasserstoff, Ammoniak oder Methanol zu importieren. Nur so wird man eine klimafreundliche Produktion in der energieintensiven Industrie in Deutschland ermöglichen und zumindest einen Teil der Produktionsverlagerungen verhindern. Um günstig große Mengen an klimafreundlichen Energieträgern zu bekommen, sollten die Beschaffung gebündelt und langfristige Bezugsverträge ausgeschrieben werden, idealerweise auf EU-Ebene oder im Rahmen einer „Koalition der Willigen“ unter den Mitgliedsstaaten. So könnte es gelingen, die Bezugsquellen zu diversifizieren, günstige Konditionen zu erreichen und privates Kapital für den Aufbau der Wertschöpfungsketten zu mobilisieren. Wettbewerb unter den potenziellen Anbietern in den Ausschreibungen dürfte dazu führen, dass Europa die gewünschten Energieträger einkaufen kann und nicht einzelne Verhandlungspartner einen größeren Teil der Wertschöpfungskette zu sich ziehen.

Von einem dynamischen Hochlauf ist Deutschland allerdings noch weit entfernt. Das liegt nicht zuletzt an zu viel unnötiger und technologiespezifischer Regulierung, die hohe Kosten und viel Erfüllungsaufwand verursacht. Diese Regelungen sollten konsequent hinterfragt werden, zum Beispiel solche, die die Nutzung von blauem Wasserstoff auf dem Weg zur Klimaneutralität erschweren oder die detaillierte Vorgaben zum Aufbau und Betrieb von Elektrolyseanlagen vorschreiben.

Veronika Grimm

Veronika Grimm ist Professorin an der Technischen Universität Nürnberg und leitet dort das Energy Systems and Market Design Lab. Seit 2020 ist sie Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Darüber hinaus ist sie in zahlreichen Gremien und Beiräten aktiv, unter anderem im Nationalen Wasserstoffrat der Bundesregierung.