August Hermann Francke als Vollender der Reformation
In der Nachfolge Luthers
Vor 350 Jahren wurde der Theologe und Pädagoge August Hermann Francke in Lübeck geboren. 1698 gründete er in Halle ein Waisenhaus und legte damit – nach dem Motto „Weltveränderung durch Menschenveränderung“ – den Grundstein zu einem einzigartigen Sozial- und Bildungswerk.
Der lutherische Pfarrer und Universitätsprofessor August Hermann Francke (1663–1727) sah sich ganz in der Nachfolge Martin Luthers und machte es sich von Halle aus zur Aufgabe, das reformatorische Erbe zu vollenden. Francke nahm als Pietist konstitutive Elemente der Reformation auf und stellte sie in das Zentrum eigener Projekte und Initiativen. So spielte etwa das Wort in gesprochener und geschriebener, gedichteter, übersetzter und gesungener Form, verarbeitet zu Traktaten, Tagebüchern, Briefen und Predigten, eine zentrale Rolle im Halleschen Pietismus. Das war eine unmittelbare Fortführung der Traditionen Martin Luthers, der abseits seiner theologischen Werke vor allem im Bereich der deutschen Sprache und im Umgang mit dem Wort grundlegende kulturelle Wirkungen entfaltet hat. Bis tief in unsere aktuelle Lebenswirklichkeit wirken auch andere Impulse der Reformation noch nach. So geht etwa die starke Individualisierung, von der heute unsere Gesellschaft so sehr geprägt ist, in besonderem Maße auf Martin Luther zurück. Dessen religiöse Erneuerung beruhte wesentlich darauf, den Einzelnen in eine direkte Beziehung zu Gott zu setzen und ihn dadurch hervorzuheben und von der Masse abzugrenzen.
Der Hallesche Pietismus setzte diesen Weg fort, indem er auch in der Pädagogik das Individuum in den Blick nahm, um jeden Einzelnen gemäß seiner persönlichen Begabungen und Möglichkeiten zu bilden und zu fördern mit dem Ziel, aus ihm ein verantwortungsvolles Mitglied der Gesellschaft zu machen. Diese Ideenlinien führen direkt bis in das moderne bürgerliche Selbstverständnis unserer Tage, das die Selbstbestimmung und Eigenverantwortlichkeit zur Grundlage der gesellschaftlichen Teilhabe erhebt.
Durch seine Tatkraft und seine vielfältigen Talente, aber auch aufgrund günstiger politischer Rahmenbedingungen in Brandenburg-Preußen sowie nicht zuletzt dank des technischen Fortschritts verhalf erst Francke 200 Jahre nach dem Beginn der Reformation vielen ihrer Forderungen zum Durchbruch. Ohne die Leistungen des Halleschen Pietismus und der Stiftungen August Hermann Franckes müsste die Reformation in vieler Hinsicht als unvollendet gelten. An einigen ausgewählten Beispielen soll diese Feststellung im Folgenden kurz belegt werden:
- Schulwesen
- Lehrerbildung
- Bibliotheken
Im Zuge der reformatorischen Bildungsoffensive wurde die Gründung zahlreicher öffentlicher Bibliotheken angeregt. Diese waren oft einer lutherischen Kirchengemeinde angegliedert, waren öffentlich zugänglich und dienten dem Zweck der breiten Volksbildung. August Hermann Francke nahm auch diesen Impuls auf. Er legte bereits 1698 eine Büchersammlung für seine Anstalten an. Diese wuchs so rasch, dass sie über Jahrzehnte hinweg weit größer war als die Hallesche Universitätsbibliothek. 1726 ließ er ein eigenes Bibliotheksgebäude in den Franckeschen Stiftungen errichten, das heute als ältestes erhaltenes profanes Bibliothekszweckgebäude in Deutschland gelten kann. Ganz in der reformatorischen Tradition machte er die Bibliothek des Waisenhauses unentgeltlich öffentlich zugänglich. Das wird bis heute so gehandhabt.
- Musik
Erst durch Martin Luther wurde der Gemeindesang in den Gottesdienst eingeführt. Die evangelischen Kirchenlieder der letzten 500 Jahre sind zu einem konfessionellen Grundstein geworden und haben darüber hinaus weitreichende kulturelle Identität gestiftet. Noch stärker gilt das für die evangelische Kirchenmusik, die durch so große Namen wie Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann geprägt ist. Auch der Hallesche Pietismus hat auf musikalischem Gebiet seine eigenen Prägungen hinterlassen. Regelmäßig fanden zur Stärkung des gemeinschaftlichen und spirituellen Erlebnisses sogenannte Singestunden in den Anstalten statt. Musik war ein reguläres Unterrichtsfach an Franckes Schulen. Johann Anastasius Freylinghausen, Mitdirektor und Schwiegersohn Franckes, gab 1704 ein eigenes Gesangbuch heraus, das im 18. Jahrhundert allerhöchste Auflagen erzielte und bis heute nachwirkt. So geht nicht nur das erste Lied im aktuellen Evangelischen Kirchengesangbuch „Macht hoch die Tür“ auf Freylinghausen zurück. Die Franckeschen Stiftungen sind inzwischen wieder zu einem musikalischen Bildungszentrum geworden: der fast 900 Jahre alte Stadtsingechor Halle, eine freie Musikschule sowie der hervorragende Musikzweig des Landesgymnasiums Latina „August Hermann Francke“ sind hier ansässig und prägen das musikalische Leben der Stiftungen und der Stadt in vielfältiger Weise.
- Sozialreformen
Die Reformation hatte auch grundlegende Reformen des Sozialwesens angestoßen. August Hermann Francke trug in diesem Sinne zu Beginn des 18. Jahrhunderts ebenfalls zu grundlegenden Sozialreformen bei und nahm Einfluss auf eine modernisierte preußische Sozialgesetzgebung. Francke gründete eine Waisenanstalt, in der aus christlicher Nächstenliebe elternlose Kinder aufgenommen und versorgt wurden. Das Waisenhaus war eng mit den Schulen Franckes verzahnt. Er nahm damit eine grundlegende Idee der Reformation auf, den sozial Schwachen durch eine gute Schulausbildung die Grundlagen für ein selbstverantwortliches Leben zu verschaffen. Aus den Initiativen Franckes entstand die evangelische Diakonie, als deren Ursprungsort heute allgemein die Franckeschen Stiftungen angesehen werden. Heute betreiben die Franckeschen Stiftungen selbst mehrere sozialpädagogische Einrichtungen, darunter das Kinderkreativzentrum „Krokoseum“, ein Familienkompetenzentrum für Bildung und Gesundheit sowie einen Pflanzgarten mit Zugang für alle Altersgruppen und Bildungsschichten.
- Bibelverbreitung
Gemäß dem reformatorischen Grundsatz „Sola Scriptura“ bestand eine zentrale Forderung Martin Luthers in einer flächendeckenden Verbreitung der Bibel. Möglichst jedermann sollte unmittelbaren Zugang zum Bibelwort erhalten, um sich selbst damit auseinanderzusetzen. Flankierend dazu entstand die Forderung nach einer allgemeinen Schulbildung, als Voraussetzung dafür, die Bibel lesen zu können. August Hermann Francke gründete mit dem preußischen Baron Carl Hildebrandt von Canstein die erste Bibelanstalt der Welt, um von Halle aus dieses reformatorische Ziel der Bibelverbreitung Wirklichkeit werden zu lassen. Nach modernstem technischem Standard und unter hohem Kapitaleinsatz entstand eine Bibeldruckerei mit eigenen Gebäuden und Magazinen in den Franckeschen Stiftungen, die ab 1712 jedes Jahr das Neue Testament und eine Vollbibel in handlichem Format auf preiswertem Papier zu geringem Preis in hoher Auflage produzierte. Die Cansteinsche Bibelanstalt setzte erstmals diese wichtige Forderung der Reformation sehr erfolgreich um. Bis zum 20. Jahrhundert verließen mehr als 10 Millionen Bibeln die Franckeschen Stiftungen und wurden weltweit verbreitet.
- Bibelübersetzung
Wer heute dem musealen Rundgang durch das Leben Martin Luthers im Lutherhaus zu Wittenberg folgt, wird zum Abschluss an drei Vitrinen mit der pointierten Frage konfrontiert, was von Luther geblieben ist. Neben dem Kirchenlied und der Schulbildung wird hier als zentrales Erbe die Bibelübersetzung angeführt. Auch in dieser Hinsicht hat der Hallesche Pietismus die Tradition fortgeführt und eigene starke Akzente gesetzt. In den Anstalten August Hermann Franckes befasste man sich eingehend mit Fragen der Bibelübersetzung. Hier erschien 1720 die Biblia Hebraica, es folgten eine Bibel in polnischer und in tschechischer Sprache, die mehrere Auflagen erfuhr. Geplant waren außerdem eine Bibel in sorbischer und in russischer Sprache. Die Missionare Franckes übersetzten die Heilige Schrift, aber auch den Kleinen Katechismus Luthers und liturgische Texte der lutherischen Kirche in die indischen Sprachen Tamil und Telugu und leisteten so einen erheblichen Kulturbeitrag zur Weiterentwicklung der südindischen Schriftsprachen.
So sind August Hermann Francke und seine Stiftungen – samt ihren einzigartigen Bauten und ihren wertvollen historischen Sammlungen – bis heute ein lebendiges und eindrucksvolles Zeugnis dafür, dass die Reformation nicht allein als ein historisches Phänomen des 16. Jahrhunderts zu verstehen ist, sondern als ein lang anhaltender Prozess, in dessen Verlauf erst wesentliche Forderungen und Ziele nach und nach erreicht und eingelöst wurden, die dann weltweite Wirkungen entfaltet haben und bis heute spürbar sind.
Dr. Thomas Müller-Bahlke (RC Halle-Georg Friedrich Händel) ist seit 2003 Direktor der Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale und seit 2015 Honorarprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Zu seinen Büchern gehören u.a. „Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen“ (Harrassowitz, O; 2. Auflage, 2013).
francke-halle.de