https://rotary.de/gesellschaft/in-der-welt-sein-a-10777.html
Titelthema: Tradition

In der Welt sein

Auf welchen geistigen Fundamenten steht unsere Gesellschaft? Ein Plädoyer für die humanistische Bildung.

Konrad Paul Liessmann01.06.2017

Ist gegenwärtig von Bildung die Rede, denkt niemand mehr an die neu­humanistischen Ideale, die mit diesem Begriff einst assoziiert und von Wilhelm von Humboldt formuliert worden waren: Bildung als proportionierliche Entfaltung der Anlagen und Möglichkeiten eines Menschen, Bildung als souveräne Beherrschung der grundlegenden Kulturtechniken, Bildung als Fähigkeit, sich ela­boriert auszudrücken, Bildung als Aneignung von und Auseinandersetzung mit Kultur, Kunst, Wissenschaft und Religion, Bildung als wissensbasierte Reflexions- und Kritikfähigkeit, Bildung als Schulung der ästhetischen Urteilskraft und der mo­ralischen Sensibilität, Bildung als letzte Aufgabe unseres Daseins.

Bedeutungsverschiebung

Im gegenwärtigen Diskurs fungiert „Bildung“ in der Regel als Sammelbegriff für all jene Lern- und Trainingsprozesse, de­­nen sich die Menschen unterziehen müssen, um im Kampf um die knapper und an­spruchs­­voller werdenden Arbeitsplätze mithalten zu können. Die Wettbewerbs­rhetorik spielt deshalb im Bildungsdiskurs mittlerweile eine entscheidende Rolle, wie die Individuen stehen auch die Bildungsinstitutionen in einem Konkurrenzverhältnis, das durch künstliche Maßnahmen wie periodische Tests, Evaluationen und Rankings noch verschärft wird.

Die Nützlichkeit erworbenen Wissens und angeeigneter Kompetenzen für berufliche Karrieren einerseits und für die Erfordernisse einer dynamischen globalisier­ten Wirtschaft andererseits werden zum entscheidenden Gesichtspunkt, an dem sich letztlich die Lehrpläne von Volksschulen ebenso zu orientieren haben wie die Curricula universitärer Studiengänge. Man spricht zwar noch von „Bildung“, for­dert aber in aller Regel eine an den Erfordernissen der Ökonomie orientierte, effizient und kostengünstig gestaltete „maßgeschneiderte“ Qualifizierung von Menschen (Arbeitskräften), also ihre „Ausbildung“ und die Schulung diverser „Kompetenzen“.

Gleichzeitig verstehen sich aber vor allem primäre und sekundäre Bildungseinrichtungen zunehmend als Orte, an denen es weniger um Wissen und Qualifikation, sondern um soziale Integration und die Herstellung gerechter Verhält­nisse gehen soll. Schule soll dann die Defi­zite der Gesellschaft ausgleichen und für Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit sorgen. Bildungsinitiativen und Bildungsreformkonzepte aller Art scheinen gegenwärtig ungeachtet allfälliger ideologischer Differenzen in einem einig zu sein: Im Zentrum aller Bildungsanstrengung muss das Kind stehen, seine Talente sollen zum Blühen gebracht werden, für alle sollen die gleichen Chancen gelten und niemand darf zurückbleiben. Individualisierung und In­klusion sind deshalb die zentralen Schlagworte, die mittlerweile den Charakter von Glaubenswahrheiten angenommen haben, die keinen Widerspruch mehr erlauben.

Wer gegen Individualisierung und gegen Inklusion argumentieren wollte, machte sich sofort verdächtig, ungerechte Verhältnisse fortschreiben und die Chancen von Menschen beschneiden zu wollen. Diesem Vorwurf kann und will sich natürlich nie­mand aussetzen. Dass es einmal Aufgabe von Schulen gewesen war, eine – im Ideal­fall an den kognitiven Leistungen des Ein­zelnen orientierte – soziale Selektion vorzunehmen und damit Bildung wirklich zu einem entscheidenden Kriterium für beruflichen und sozialen Erfolg zu machen, kann dann nur als Relikt einer finsteren Epoche gewertet werden.

Druck von zwei Seiten

Die klassische Idee von Bildung gerät also von zwei Seiten unter Druck: durch die Forderung nach Nützlichkeit und Anwend­barkeit sowie durch die strikte Ausrichtung an den Bedürfnissen, Interessen und Launen der Kinder und Jugendlichen. Die­ser Prozess lässt sich an zahlreichen Indizien ablesen.

Die große Bedeutung, die Lebensnähe, Praxisorientierung und Verwertbarkeit in unterschiedlicher Ausprägung auf allen Ebenen gewonnen haben, spricht eine ebenso deutliche Sprache wie die Verdrängung von Inhalten und Fächern, die dem Verdacht ausgesetzt sind, nur totes, nutzloses oder bestenfalls luxuriöses Wissen zu vermitteln, dass mit der Lebenswelt von Jugendlichen nichts zu tun hat und auf das deshalb verzichtet werden kann.

Alte Sprachen, die musischen Fächer, aber auch Mathematik und Geschichte sowie die Grundlagen- und Geisteswissenschaften sehen sich so ständig unter dem Damoklesschwert nicht einlösbarer Nützlichkeits­erwartungen. Aber auch die Konzeption, Schule als Lebens- und Experimentierraum zu deuten und jeden Bildungsgang eher als interdisziplinäres, praxisnahes Projekt denn als diszipli­nierten, geistigen Aneignungsprozess zu initiieren und zu organisieren, zollt diesem Anspruch ebenso ihren Tribut wie die flächendeckende Ersetzung von präzisem Wissen durch Kompetenzen aller Art.

Konrad Paul Liessmann
Prof. Dr. Konrad Paul Liessmann ist Professor für „Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik“ an der Universität Wien. Seit 2018 ist er offiziell im Ruhestand - übt seine Tätigkeit aber noch bis Ende 2020 weiter aus. Zuletzt erschienen „Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung“ (Piper, 2016) und „Bildung als Provokation“ (4. Auflage, Paul Zsolnay Verlag, 2017). univie.ac.at