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Die SED sicherte ihre Macht auf Basis von Informationen, die keineswegs alle Denunziation waren

Indiskret und abgeschöpft

25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer diskutiert die gesamtdeutsche Öffentlichkeit über die Frage, ob die Deutsche Demokratische Republik ein Unrechtsstaat war oder nicht. Während die einen für ihre Bewertung die Struktur des Staates zugrundelegen, betonen andere, dass auch die totalitäre Gesellschaft private Nischen hatte. Die Beiträge dieses November-Titelthemas widmen sich wichtigen Aspekten der Debatte.

Christian Booß14.11.2014

Anfang 1990 fiel in Rostock aus bisher ungeklärten Gründen ein Dossier von einem Aktenwagen. Mit weitreichenden Folgen. Es war die voluminöse Stasi-Akte von Wolfgang Schnur. Dieser galt auch im Westen als engagierter Anwalt der Kirche. Selbst DDR-kritische Kirchenvertreter wie der Rostocker Pastor Joachim Gauck hatten ihm vertraut, hartgesottene Oppositionelle wie Rainer Eppelmann, Ralf Hirsch, Wolfgang Templin hörten auf seinen Rat oder waren gar mit ihm befreundet. Um die Jahreswende 1989/90 stand er neben Helmut Kohl auf Wahlkundgebungen und ließ sich als der kommende Ministerpräsident der DDR hofieren. Mit der Stasi-Akte aus Rostock kam der Absturz, sie entpuppte ihn als skrupellosen Informanten des MfS, dem allem christlichen Getue zum Trotz, nichts heilig schien.

Der Fall Schnur brachte den Umschwung. Die Meisten forderten nun die Aufdeckung von Verstrickungen. Zu groß schien die Gefahr, dass sich unter den Erneuerungskräften in Ostdeutschland viele befanden, die in Wirklichkeit Kollaborateure der alten Mächte waren. Der IM, der das Vertrauen seiner Mitmenschen erschlich, schien der Gipfel an Intrige. Noch heute wird der IM in der Medienrezeption wie die Inkarnation des Bösen in der DDR dargestellt.

Selbst die Wissenschaft geriet in diesen Sog. Dort wurde dem IM schnell das Etikett „Denunziant“ aufgeklebt. Zu schnell, wie mein Kollege Müller-Enbergs und ich meinen. Der „klassische“ Denunziant wendet sich aus eigenem Antrieb an die Obrigkeit, um Mitbürger anzuschwärzen: Im Vormärz wurde dieser Typus von Republikanern verachtet, der Nationalsozialismus stützte sich in bestimmen Phasen geradezu auf die Denunziation der Volksgenossen gegen Andersdenkende und Andersrassische. In der SED-Diktatur, die im Unterschied zum NS nie eine wirkliche Massenbasis hatte, war das anders. Nur selten dienten sich die IM der Stasi selber an. Die wiederum betrieb einen aufwändigen Apparat, um Bürger zur Bespitzelung zu gewinnen. Sicher waren Karrieredenken, auch Angst dabei, wenn es gelang; äußerst selten Erpressung und Geldzahlungen. Die Initiative ging aber meist vom Staat aus. Schon insofern ist zu fragen, ob es richtig ist, den IM nach dem geflügelten Wort von Hofmann von Fallersleben pauschal als den schlimmsten Hund im ganzen Land anzusehen.

Ohnehin ist IM nicht IM. Bundesdeutsche Verwaltungen haben nach der deutschen Einheit bei individuellen Überprüfungen einen nicht geringen Teil von Überprüften „mit Akte“ weiter im Amt belassen. Die Akten spiegeln ein Spektrum vom ängstlichen Verweigerern, der eine Verpflichtung unterschrieb und sich dann unter allerlei Vorwänden entzog, bis zum geradezu neurotisch wirkenden Dauerberichterstatter – wie z.B. Wolfgang Schnur.


Angemessene Bewertung

Es geht jedoch nicht nur um Differenzierung, es geht auch darum, den IM die ihnen angemessene Rolle zuzuweisen. Stasi-Chef Mielke hat sie als seine „Hauptwaffe“ bezeichnet. Auch das hat den Mythos verstärkt. In Wirklichkeit stützte sich das SED-Regime auf ein viel dichteres Netz an sozialer Kontrolle und Integrationsmaßnahmen. Berichte und Einschätzungen über Kollegen, die deren Wege mitbeeinflussten, wurden viele geschrieben – in der Schule, der Universität, im Betrieb. Es waren ja nicht nur die sowjetischen Panzer und die Stasi, die den Laden 40 Jahre lang zusammenhielten. Die Stasi hatte deutlich mehr Informanten und Kontakte, auf die sie sich stützte, um die Gesellschaft zu überwachen und mit der SED und dem Staatsapparat zu steuern. Das verdeutlichen zwei Gruppen: die Auskunftspersonen und die offiziellen Gesprächspartner des MfS, insbesondere die Nomenklaturkader der SED.

Das MfS hatte gegen Ende der DDR zu ca. jedem zweiten Staatsbürger ein Personendossier, insgesamt mehrere Millionen. Zu fast jedem dieser Dossiers gehörte ein Ermittlungsbericht aus dem Wohnumfeld. Diese Berichte „vom Hörensagen“ basierten auf sogenannten Auskunftspersonen (AKP). In einem Überwachungsdossier heißt es etwa über einen Juristen: Er sei ein braver SED-Genosse mit anständiger Arbeitsmoral. Dann folgen Angaben zu Alkoholkonsum, seiner finanziellen Lage, seinen Kontakten zum Westen, zu der Beziehung zu seinen Kindern, der Arbeitseinstellung seiner Frau. Details zum Privatleben des Genossen. Diese indiskrete Charakteristik stammt von „Auskunftspersonen“ der Stasi. In diesem Fall von einer Nachbarin, Frau H., die sich im Babyjahr befand. Sie hatte offenbar genügend Zeit für ihre Beobachtungen; ebenso wie das Ehepaar S., das im Gesundheitswesen tätig war. Der Ehemann, ein SED-Mitglied, war auch in der Hausgemeinschaftsleitung (HGL), einer Struktur zur sozialen Kontrolle, aktiv.

Auskunftswillige Nachbarn

Die AKP sind bisher wenig erforscht. Erhalten sind vor allem AKP-Karteien aus einzelnen Regionen. In ihnen hielt die Stasi fest, wer in einem Haus als Ansprechpartner infrage kam, wen sie auf der Straße problemlos befragen konnte, wenn sie Leumund oder Gewohnheiten von DDR-Bürgern ausforschen wollte. Statistisch ausgewertet wurden jetzt zwei Regionen – Rostock und Saalfeld. Wenn sie typisch für die DDR sein sollten, übertrifft die Zahl der AKP die der IM deutlich. Die durchschnittliche IM-Zahl wird mit ca. 1 Prozent der Bevölkerung angegeben. Im kleinstädtisch-ländlich geprägten thüringischen Kreis Saalfeld führte das MfS im Jahre 1989 5,7 Prozent der Einwohner als AKP, mehr als 3.000 im Vergleich zu ca. 750 IM. Das sagt einiges über die Art der sozialen Kontrolle in der DDR und die soziale Atmosphäre in den Kiezen aus.

Allerdings dürfen die AKP und die IM auf keinen Fall gleichgesetzt werden, auch nicht mit dem Denunzianten. AKP wurden in der Regel mit einer „Legende“ angesprochen. Stasi-Leute wiesen sich beispielsweise als Mitarbeiter der Stadtverwaltung, oder des Zolls, der Polizei aus. Auch die Zahl der Berichte ist sehr unterschiedlich. In einer Saalfelder Straße reichte ein Bericht für den Eintrag in die Kartei, der Straßenrekord lag bei zehn Befragungen. Mangels genauerer Quellen und Untersuchungen lässt sich bisher nur vermuten, dass die Palette des Kooperationsverhaltens mindestens eben so breit war wie bei den IM: von Geflissenheit bis zu latenter Verweigerung und dem Vorenthalten wesentlicher Informationen.

Vorschnelle Assoziationen wie „Blockwart“ oder „Denunziant“ verbieten sich. Auch die AKP wurden nicht von sich aus aktiv, die Legende sollte sie täuschen und gesprächig machen. Bestimmte Gruppen, die öfter angesteuert wurden – wie Offiziere und Polizisten –, fühlten sich durch ihren Eid oder gesetzliche Regelungen, Parteimitglieder durch die SED-Statuten verpflichtet. Freiwillige Helfer der Volkspolizei oder Hausbuchführer, die notierten, wer sich länger in einem Haus aufhielt, konnten sich teilweise auf staatliche Verordnungen berufen. Auch wenn der Beitrag des Einzelnen sehr unterschiedlich war, in der Summe sind jedoch hunderttausende von Spitzeldossiers entstanden, die im Zweifel Karrierewege versperrten, Reisen verhinderten, im schlimmsten Fall zu weiterer Überwachung oder gar Kriminalisierung führten.

Weil solche Berichte in hohem Maße indiskret sind, sind sie durchaus im Rahmen des Denunziationskomplexes zu untersuchen. Es gibt fein abgestufte Unterschiede, von der legitimen Anzeige (was der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „denunziare“ entspricht) bis zur eigentlichen Denunziation. Beide Pole befinden sich in einem Spannungsfeld eher privater ethischer Normen und staatlicher Erwartungen. Die Informationsbereitschaft des Einzelnen ist bei Mord, Kindesmisshandlungen etc., in der Regel eine andere als bei neugierigen Fragen einer autoritären Obrigkeit.

Zuträger in Schlüsselpositionen

Auch Betriebe oder staatliche und gesellschaftliche Institutionen wurden keineswegs nur durch IM kontrolliert. Das MfS hielt hier „offiziellen“ Kontakt zu Partnern in „Schlüsselpositionen“. Man traf sich nicht im konspirativen Objekt, sondern meist im Büro. Aber was da besprochen wurde, war in der Regel nicht minder vertraulich. Besonders zu den Kadern der Nomenklatura pflegte das MfS derartige „parteikameradschaftliche“ Beziehungen. Die über 300.000 Spitzenkader der Nomenklatur waren das eigentliche Rückgrat des Systems. Unabhängig davon, bei welcher Institution sie fachlich angebunden waren, unterstanden sie politisch einem Vorgesetzten der oberen SED-Nomenklatur.

Erich Mielke hatte in der geheimen Ablage unter dem Codewort „rote Nelke“ Akten über die obersten Nomenklaturkader angelegt. Man erkennt Personalpolitik der SED im Zusammenspiel mit dem MfS. Bevor Funktionäre in hohe Ämter aufstiegen, ließ der SED-Apparat diese Kader von der Stasi überprüfen. Geheimes Wissen, manchmal sogar höchst Kompromittierendes über das Spitzenpersonal der SED, lag also in den Regalen des MfS: Selbst zur Ehefrau von Generalsekretär Honecker oder zu Kadern, die mit Mielke im obersten Steuerungsgremium der DDR, dem Politbüro, saßen wie zum Wirtschaftslenker Günter Mittag und dem Außenpolitiker Herrmann Axen. Weil die Akten über sie angelegt wurden, gelten sie datenschutzrechtlich als „Betroffene“, ein unglücklicher, die Wirklichkeit verzerrender Umstand, über den es gilt, nachzudenken. Denn nicht wenige der obersten Funktionäre hatten schon vor ihrem Aufstieg als IM mit dem MfS kooperiert. Es gehörte offenbar zum Berufsbild, dass die Zusammenarbeit mit dem MfS weiter gepflegt wurde. Das Wort „offizieller“ Kontakt verschleiert mehr als es erklärt. Bei solchen Treffs wurden auch vertrauliche Informationen ausgetauscht. Doch im Unterschied zum IM trafen die Nomenklaturkader nach der Beratung mit dem MfS Entscheidungen.

Über den langjährigen Reichsbahnchef Otto Arndt hieß es, er hätte zunächst inoffiziell „zur erfolgreichen Liquidierung“ von zwei Spionagevorgängen beigetragen. (Im Stasijargon bedeutete das schlicht, aber mehrdeutig Unschädlichmachung.) Auch in der folgenden offiziellen Zusammenarbeit hätte Arndt „großes Verständnis“ für die „Forderungen“ des MfS, er hätte bei der Umsetzung von „negativ aufgefallenen Kadern“ mitgewirkt. Im Gegensatz zu den bloßen Informanten des MfS waren diese Topfunktionäre die eigentlichen Machthaber in der SED-Diktatur, doch als Denunzianten kann man sie gerade wegen dieser Einbindung ins System schwerlich einordnen.

Der klassische Denunziant und der IM waren nur eine Form, mit der die SED ihre Gesellschaft unter Kontrolle und ihre Herrschaft aufrecht erhielt. Doch die indiskrete Gesellschaft stützte sich auf weit mehr und schwieriger zu bewertende Informanten.

Christian Booß
Dr. Christian Booß ist Projektkoordinator beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU). Zuletzt erschien das zusammen mit Helmut Müller-Enbergs verfasste Buch: „Die indiskrete Gesellschaft. Studien zum Denunziationskomplex und zu inoffiziellen Mitarbeitern“ (Verlag Polizeiwissenschaft 2014). www.bstu.bund.de