Buchempfehlung
Journalist Arno Luik stellt seine besten Interviews zusammen
Arno Luiks Interviews beginnen oft mit provozierenden Fragen, schon mit der ersten Antwort wird der Leser in diese Gespräche hineingezogen – und liest Dinge, die er anderswo nicht gelesen hat. Arno Luik verführt seine Gegenüber von Beginn an zu einer erstaunlichen Offenheit und schafft es, Brisantes aus ihnen herauszukitzeln.
Luiks Gesprächsband „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna. Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit“ ist eine faszinierende Zeitreise, in der sich Geschichte auf eine mitreißende Weise entfaltet: anekdotisch, politisch, intim. Sie zeigt, warum wir wurden, wer wir sind: eine zerrissene, eine verstörte, manchmal trotzdem schöne Welt – um die es sich lohnt, zu kämpfen. Als Paradebeispiel aus dem nun im Westend Verlag erschienenen Buch hier ein Interview mit dem US-amerikanischen Schriftsteller und Politiker Gore Vidal:
Im Frühjahr 2000 treffe ich den US-Schriftsteller Gore Vidal, damals 74-jährig, zum Gespräch in seinem feudalen Landsitz, es ist ein Schloss oberhalb der Amalfi-Küste – unbezahlbarer Blick übers Mittelmeer. Ich kannte einige seiner Bücher, schätzte seine Polemiken gegen die Regierenden. Sein Essay„Ewiger Krieg für ewigen Frieden“, das vor permanenten Militäraktionen durch die USA warnte, hat mich beeindruckt – spannend, dass ein Mitglied der US-Elite ihr eloquentester Kritiker war. Ich treffe ihn, weil ein naher Verwandter von ihm US-Präsident werden will: Al Gore. Zu gern hätte, so erzählt er, die Familie Gerhard Schröder in diesem Sommer in seinem weitläufigen Anwesen den Urlaub verbracht, „aber ich hätte für Ihren Kanzler ja alles aufräumen müssen, das wollte ich nicht.“
„Ich hab mehr Einfluss als die amerikanischen Präsidenten“
Mr. Vidal, Ihr Cousin Al Gore, der jetzt amerikanischer Präsident werden möchte, scheint mächtig Angst vor Ihnen zu haben.
Wieso? Wie kommen Sie denn da drauf?
Immerhin hat er aus dem fernen Washington einen Emissär hierher zu Ihnen nach Süditalien geschickt, damit Sie vor den Wahlen nichts Abfälliges über ihn sagen.
Es war ein Herr aus Washington hier bei mir in Ravello, das stimmt, er saß da, wo Sie nun sitzen, seinen Namen habe ich schon wieder vergessen, und es war mit ihm, wie es bei Politikern eben ist: Er hat viel geredet, aber nichts gesagt.
Aber die Botschaft war klar: Sie sollen …
… ich soll gar nichts, und ich muss nichts. Ich werde jetzt nichts über Al sagen. Es ist einfach so, dass ich weiß, wie die Menschen ticken, die die Macht haben. Ich war einer von ihnen, ich komme aus der herrschenden Schicht. Die Gores kontrollierten mal fünf Südstaaten. Mein Großvater hat – aus einer Laune heraus – den Staat Oklahoma erfunden, ich war auf den richtigen Schulen, die die Führer für „Corporate America“ erziehen.
Sie sollten Präsident werden, so sah es der Familienplan vor. Doch Sie haben versagt.
Jetzt erfüllt halt Al die Bestimmung der Familie. Na und? Ich stand mal an der Weggabelung: Literatur oder Politik? Ich habe mich fürs Schreiben entschieden. Doch mir geht es wie Perikles, der zu Sophokles sagte: „Für wen Politik kein Thema ist, der hat gar keines.“ Ich habe mich deswegen mit meinen Büchern in die Politik eingemischt, auch wenn sie versucht haben, mich totzuschweigen.
Sie meinen, Sie wurden boykottiert?
Sie wollten mich ausradieren. Die New York Times hat von mir keine Bücher besprochen, und wenn ich vor Tausenden aufgetreten bin – kein Wort gab es darüber. So ging das zehn Jahre, Time und Newsweek haben ebenfalls mitgemacht. Ich habe das überlebt. Später war ich dann doch noch auf dem Cover von Time – wie mein Großvater und mein Vater vor mir. Jetzt bin ich alt, aber ich hatte und habe mehr Einfluss auf die Gesellschaft als die Präsidenten, mit Ausnahme unserer Kriegspräsidenten.
Kann es sein, dass Sie sich da ein wenig überschätzen? Ihre Präsidenten sind …
… ja, was denn? Was ist denn ein Präsident? Er ist das Sprachrohr der Konzerne – und sonst gar nichts. Richard Nixon hat mal gesagt, für die Innenpolitik brauche man gar keinen Präsidenten, die Konzerne würden schon alles richten. Deswegen interessieren sich alle Präsidenten für die Außenpolitik, da können sie Spuren hinterlassen, Bomben auf eine Aspirinfabrik im Sudan werfen, einen kleinen Krieg hier, einen größeren Krieg da anzetteln – das ist ihr Job. Seit Dezember 1941 haben wir keinen Krieg mehr erklärt, doch seither über 150 geführt. Immer in schlechter Absicht, aus Eigennutz heraus. Wir sind keine Demokratie mehr. Wir haben unsere Verfassung schon längst aufgegeben.
Sie sind frustriert und zynisch.
Nein. Das Militär befiehlt dem Präsidenten: Wir brauchen mehr Geld, und der Präsident gehorcht. Unsere Polizei ist außer Kontrolle. Millionen werden abgehört. Zwei Millionen sitzen in den Gefängnissen. Wir bereiten uns auf einen neuen Hitler vor. Wir leben in einem faschistischen Staat.
Das ist doch Unsinn.
Meinen Sie? Ihr Europäer habt doch keine Ahnung von Amerika! Aber Deutschland war ja schon immer unsere loyalste Provinz. Schröder, Fischer? Treue Untertanen. Ihr seht unsere Filme und denkt, das ist die Realität. Wir beherrschen die Werbung, wir wissen, wie man Images schafft. Die moderne Diktatur kommt nicht mit braunen oder schwarzen Uniformen daher. Wir machen das mit Unterhaltung, mit Fernsehen, mit Spaß, Spaß. Und einer Erziehung, die verdummt.
Wie? Die Amerikaner sind doof?
Ich mag Verallgemeinerungen nicht, aber wir sind das ignoranteste Volk der westlichen Welt. Neulich sollten College-Studenten Amerika auf einer Weltkarte bestimmen – 80 Prozent fanden unser Land nicht. Und nicht wenige votierten für Panama, weil es so schnuckelig daliegt in der Landenge zwischen Nord- und Südamerika. Und ganz nebenbei haben sich in den letzten 15 Jahren allein in Kalifornien mehr als 10 000 Jugendliche gegenseitig abgeschossen. Der Rapper lce Cube freut sich in einem Song über den Tag, an dem niemand starb, den er kannte: „Nobody I know got killed today, in South Central LA, it was a good day.“
Ein sehr romantisches Lied. Die Schauspielerin Joanne Woodward sagte unlängst, Sie hätten sich aus dem Mainstream der Gesellschaft entfernt: Sie würden immer noch rumteufeln wie die Radikalen der 60er und 70er Jahre.
Die 60er interessieren mich nicht. Wenn sich jemand aus dem Leben zurückgezogen hat, dann sind das Woodward und ihr Mann Paul Newman. Vielleicht passe ich auch nicht in das Bild, das sich Joanne vom Leben macht: dass man heiratet und Kinder hat. Ich mische mich ins Leben ein, mache im Wahlkampf mit. In Los Angeles stand bei einer Versammlung mal eine Frau auf und sagte: „Mr. Vidal, ich habe zwei Fragen. Erstens: Was kann ich als amerikanische Hausfrau tun, um den Kommunismus zu bekämpfen? Zweitens: Was ist Kommunismus?“ Das fragt sie gut gelaunt, und dann geht sie ab in den nächsten Film. Viel Spaß, gute Unterhaltung.
Sie selbst haben Filme für Hollywood geschrieben. Ihr „Ben Hur“ ist auch nicht gerade ein Werk, das die Massen aufklärt.
Es ist ein schlechter Film, lustig ist allenfalls, dass Charlton Heston nicht mal gemerkt hat, dass ich ihm schwule Szenen reingeschrieben habe. Er ist ein Depp, aber gefährlich, er ist Chef der Waffenlobby. Tja, Schauspieler! Hätte ich damals Ronald Reagan eine Rolle in meinem Film „The Best Man“ gegeben, er wäre nie Präsident geworden. Er wäre in Hollywood geblieben.
Aber Sie selbst drängten ins Weiße Haus. Sie waren doch stolz, im Beraterstab von John F. Kennedy zu sein?
Stolz? Ich würde eher sagen: Es hat mir die Augen geöffnet, an seinem Hof zu sein. Im August 1961, während der Berlin-Krise, stand die Welt am Rande des Atomkriegs. Diese Tage verbrachte ich mit Jack, wie er bei uns hieß. Jede Nacht schrieb ich mit, was ich bei ihm erlebte. Dort drüben sind die Blätter. Ich hatte ja erwartet, Kennedy würde diese Tage im Weißen Haus verbringen, aber er war mit Jackie …
… Ihrer Stiefschwester …
… auf seinem Landsitz „Hyannisport“. Damals lief es mir kalt über den Rücken, dass unser Leben in den Händen von Jack und Bobby lag. Jack wollte nicht bloß Kalten Krieg spielen, er wollte Kriege gewinnen, egal wo, irgendwo. Er dachte immer an seinen Ruf. Deshalb Kuba, das Abenteuer Schweinebucht, die unzähligen Versuche, Fidel Castro zu töten. Er war mit dem ganzen Kalter-Krieg-Dreck aufgezogen worden, er war römisch-katholisch, aus irischer Familie, und das heißt: Er war rechts. Er wollte einen sicheren Krieg, bei dem nicht die ganze Welt auseinanderfliegt. Er wollte Ruhm. Deshalb Vietnam. Tausend Tage war er an der Macht, und in dieser kurzen Zeit stieg der Rüstungshaushalt um sieben Milliarden Dollar. Nochmals tausend Kennedy-Tage, und wir wären alle tot gewesen.
Sie mögen die Kennedys nicht.
Ach, sie mögen mich nicht, weil ich ihren Plan aufgedeckt habe, dass sie eine Dynastie errichten wollten: Jack, Bobby, Teddy und so weiter. Jack war immerhin ein bisschen zivilisiert, hatte ein paar Bücher gelesen, aber Bobby – mein Gott, er war ein Barkeeper, er wollte Leute zusammenschlagen, er war ein ungehobelter Wilder. Als Bobby 1968 niedergeschossen wurde und im Sterben lag, hat eine seiner Schwestern bei der Mutter Rose angerufen. Und was sagte die liebe Mutter?„Jetzt muss Teddy ran!“
In Ihrer Autobiografie schreiben Sie wirklich Unfreundliches über John F. Kennedy, zum Beispiel so etwas: „Ich weiß noch, dass er es gern in heißem Badewasser machte, mit der Frau oben wegen seiner Rückenverletzung. Einmal hatte er eine Schauspielerin, die ich kenne, plötzlich zurückgestoßen, bis ihr Kopf unter Wasser war, was ihr einen Scheidenkrampf und ihm einen Orgasmus bescherte.“
Was ist daran unfreundlich? Ich habe es geschrieben, weil es über den Menschen Kennedy etwas aussagt. Und über die Macht. Außerdem habe ich auch über mich geschrieben, dass wir damals – und dazu gehörten auch Marlon Brando, Tennessee Williams und noch einige andere – nichts anderes wollten als möglichst viele Orgasmen mit möglichst vielen Partnern.
Angeblich hatten Sie ja schon mit 25 über tausend Beziehungen – mit Männern und Frauen, mit Anais Nin und Jack Kerouac …
Es war Sport, ein Spiel, nicht Liebe. Kennedy war schwer krank, er bekam ständig Cortison, und sein Arzt, ein rechter Quacksalber war das, hat ihm auch noch Speed verschrieben. Er war manchmal gar nicht richtig bei sich – aber Cortison stimuliert wohl. Seymour Hersh, der über die Kennedys schrieb, hat mir eine Geschichte erzählt, die ihm unglaublich vorkam. Er hatte sie von einem Sicherheitsbeamten. Dessen Job war es, für Jack Prostituierte zu besorgen. Dann waren sie in der Wanne, sie lag auf dem Präsidenten, und der Agent musste, wenn Jack so weit war, von hinten den Kopf der Frau unters Wasser drücken.
Solche Geschichten erwartet man von römischen Kaisern. Unsere Präsidenten sind Imperatoren.
Und die denken so: Ich bin der mächtigste Mann der Welt, ich kann tun, was ich will. Denken sie so?
Nein, so denken sie nicht. Normalerweise haben sie einfach eine große Paranoia. Sie denken: »Die da draußen, die wollen mich kriegen!« Die da. Es sind immer „die da“. Sie werden ständig beobachtet, sie fühlen sich stets gefährdet. Es sind die gleichen Ängste, wie sie die Cäsaren früher in Rom hatten. Der römische Kaiser Domitian wurde belächelt, weil er sich von seiner Sicherheitsgarde so heftig beschützen ließ, sich kaum aus seiner Villa oben auf dem Berg raustraute. Und er sagte: „Die meisten meiner Vorgänger sind ermordet worden, und deshalb ist es doch klar, dass ich ständig an Attentat, Mord und Totschlag denke.“ Er wurde dann ja auch ermordet. Das beschreibt genau den Seelenzustand unserer Präsidenten.
Und doch wollen Gore oder Bush ganz verzweifelt genau das werden: Präsident.
Ja, es ist wie mit den Spielern in Las Vegas: Sie sind süchtig. Du weißt genau: Du kannst Geld verlieren, dein Leben – aber du kannst das Spiel nicht sein lassen. Und dazu kommt noch: Das Weiße Haus ist etwas Besonderes. Es verändert jeden, es holt den Macho aus einem raus: Man kann Herr über Leben und Tod sein. Der amerikanische Präsident ist, wie gesagt, ein Imperator. Er ist der Oberbefehlshaber der mächtigsten Armee der Welt. Wenn er auftritt, entfaltet sich mit großem Pomp eine riesige Zeremonie. Das beeindruckt.
Und für diese Show nimmt man in Kauf, unter ständiger Belagerung zu leben.
Ja. Vor einiger Zeit war ich bei Hillary Clinton im Weißen Haus. Zwei Tage vorher hatte ein Verrückter mit einem Maschinengewehr die ganze Front des Hauses mit Kugeln aufgeschossen, Maler waren gerade dabei, Farbe über die Löcher zu pinseln. Ich wollte Hillary zum Essen einladen. Sie war völlig verdutzt, schüttelte den Kopf und sagte, sie habe erst neulich mit einem Sicherheitsbeamten gesprochen, das sei unmöglich, spontan so etwas zu tun. Den Sicherheitsleuten wäre es am liebsten, meinte sie, sie würde nur im Panzer durch die Stadt fahren und im Bunker wohnen.
Sie gehen am 7. November zur Wahl?
Ja. Es macht mir Spaß zu beobachten, wie die Menschen gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Wie sie die Flaggen hochhalten, um blind und treu wie christliche Soldaten gemeinsam übers Kliff zu gehen. Ich mag das, das ist schwarzer Humor. Ihr Deutschen habt dafür ein schönes Wort: Schadenfreude. Vielleicht stimme ich dem Clan zuliebe ja für Al, ich weiß es nicht.
Mit ihm wird alles besser?
Wieso denn? Das ist doch keine Wahl. Die Menschen wissen, dass sie betrogen werden. Wie viele wählen denn noch? Das System ist tot. Die zwei Kandidaten sind Vertreter einer Partei mit zwei rechten Flügeln. Beide sind Südstaatler, beide aus alten Dynastien, beide werden dem Militär noch mehr Geld geben. Bush ist unerträglich: Sein Staat ist Weltmeister bei Exekutionen, amerikanischer Meister in der Umweltverschmutzung.
Und Al Gore?
Ach, der kleine Al? Little Al. Ich weiß nicht, was er will. Er ist ehrgeizig. Seinen Namen hat Albert verkürzt, damit er volkstümlicher klingt. Wir Gores sind immer witzig und charmant, wir können Frauen und Männer betören. Al hat offenbar hart daran gearbeitet, dass man von all dem nichts bei ihm merkt. Er hat ein Buch über die Umweltkrise geschrieben: langweiliger Stil, und er kriegt das heraus, was jeder herauskriegt, der über das Thema nachdenkt. Er war für Reagans Angriffe auf Grenada, Libyen, er war mit einer Hand voll demokratischer Abgeordneter für Bushs irrsinnigen Irak-Krieg. Er hat die richtige Frau geheiratet, er hat die richtigen Kinder – und sie sehen besser aus als im Gore-Clan üblich. Das steht fest: Er wird sich im Oval Office nie an jemand ranmachen. Und das Gute ist: Niemand wird sich an ihn ranmachen. Politisch wird er nichts bewirken.
Der spanische Schriftsteller Jorge Semprún klagt über eine beklemmende Ausweglosigkeit: Einerseits seien die Gesellschaften „unüberwindlich“, andererseits aber„unerträglich“. Dennoch müsse man das Unmögliche versuchen: sie „überwinden“.
Er hat recht. Ich schreibe, obwohl ich weiß, dass immer weniger Menschen lesen, dass kaum noch jemand nachdenkt. Ich bin ein Gegengeschichtsschreiber, und ich will die Wahrheit über dieses Land aufschreiben, der Wahrheit zumindest nahekommen. Ohne Hoffnung hoffe ich. Es gibt keinen Winterpalast, den man angreifen kann. Und dass ich weitermache, hat wohl mit meiner DNS zu tun. Ich muss es auf Deutsch sagen: Ich kann nicht anders.
Mr. Vidal, Sie sind wahrscheinlich einer der wenigen, die jemals nackt im US-Kongress rumgerannt sind.
Ach, das ist lange her, eine völlig andere Zeit, damals fuhr der Präsident noch selber im Auto durch die Gegend. Washington war einfach eine kleine Südstaatenstadt, verschlafen. Es gab damals noch keine Klimaanlagen. Es war fürchterlich heiß, ich war zehn und bei meinem Großvater, er war blind, ich habe ihm immer die Akten vorgelesen, und dann sind wir in den Senat marschiert. Auf dem Flur kam uns der Vizepräsident John Garner entgegen, und der meinte: „Senator, der Kleine ist ja nackt!“ Aber das stimmte gar nicht, ich hatte noch eine Badehose an.
Warum haben Sie eigentlich mit Ihrer Klasse gebrochen?
Mein Großvater wollte, dass ich in die Politik gehe. Ich sollte in den Senat. Alles war abgesprochen, mit den wichtigen Gouverneuren, der ganzen politischen Maschinerie. Aber ich bin zum Schreiber geboren, ich konnte dagegen nichts machen. Ich bin also nach Mexiko und habe das Buch Geschlossener Kreis geschrieben. Damit bin ich ausgestiegen, seitdem bin ich dazu verurteilt, Außenseiter zu sein, das schwarze Schaf meiner Familie.
Mit dem Roman "Geschlossener Kreis" lösten Sie einen Skandal aus, für die damalige Zeit schrieben Sie sehr offen über Homosexualität und …
… und es hatte Wirkung, damals wurde ja noch gelesen. Es hat Thomas Mann dazu gebracht, seinen Felix Krull zu Ende zu schreiben. Ich habe das erst vor ein paar Jahren erfahren, aber das freut mich sehr.
In seinen Tagebüchern lobt er ganz „ergriffen“ Ihr Werk „als ein wichtiges, menschliches Dokument, von ausgezeichneter und belehrender Wahrhaftigkeit“.
Er war 75, als er das geschrieben hat, ich 25, und es bewegt mich sehr, weil ich von Thomas Mann beeinflusst bin, ich habe fast alles von ihm gelesen. Ohne ihn hätte ich nie historische Novellen geschrieben. Und Hans Castorp, der Held aus dem Zauberberg, war Vorbild für viele meiner literarischen Helden.
Aber Mann kritisierte Sie auch, ihn störte „das Sexuelle, die Affairen mit den diversen Herren“. Die seien ihm „eben doch unbegreiflich. Wie kann man mit Herren schlafen?“
Dass er das Wort „Herr“ benutzt, ist doch interessant. Es zeigt seine Unsicherheit, aber ich denke, dass er Herren, wahrscheinlich eher Jungen, schon zugetan war und es mit ihnen wohl auch getan hat.
Sex zwischen Männern, meint der deutsche Filmemacher Rosa von Praunheim, sei wie eine Droge, eine Art Kampf: „Die Brust des Mannes ist wie ein Panzer, etwas Ebenbürtiges, dem ich mich dann entgegensetze.“
Ja? Ich sehe das eher von der technischen Seite. Ein Bekannter von mir meinte, der wirkliche Unterschied sei der: Männer haben mehr Haare auf den Beinen.
Sie klingen unromantisch.
Ja, so ist es aber.
Und deswegen stellen Sie manchmal deprimiert fest, dass „ich vergessen habe, Vorkehrungen für den Sex heute zu treffen“.
Ja. Aber die Tragik des Satzes steckt in dem Wörtchen „vergessen“. Das ist das Alter. Mein Kurzzeitgedächtnis lässt mich im Stich.
Alt werden ist nicht schön.
Nein, mein Körper zerfällt. Der Genuss lässt nach. Meine Zunge spürt nicht mehr alles, ich kann nicht mehr so viel Wodka trinken, wie ich möchte. Alles verschwindet.
Im Blick zurück: Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie erreicht haben?
Ja. Aber ich wäre gern Cäsar gewesen, um die Republik zu retten. Hätte ich gewusst, dass ich so alt werde, hätte ich als junger Mann nicht so viel geschrieben; ich schreibe alles von Hand, alles oft vier-, fünfmal. Aber ich klage nicht. Es ist schön hier.
So schön, dass Kanzler Schröder voriges Jahr seinen Urlaub in Ihrer Villa verbringen wollte.
Es gab eine Anfrage der italienischen Regierung. Man bot mir viel Geld, aber ich hätte für Herrn Schröder ja alles aufräumen müssen, das wollte ich nicht. Ich weiß nicht, ob Ihr Kanzler weiß, dass das Haus historisch vorbelastet ist: Der letzte italienische König war hier ein paar Stunden vor seinem Rücktritt.
Nochmals, sind Sie zufrieden?
Ich agiere. Ich bin jetzt 74, in ein paar Tagen wird am Broadway mein Stück „The Best Man„ wieder aufgeführt, ich fliege morgen nach Los Angeles, treffe Ralph Nader, den Außenseiter im Wahlkampf. Wissen Sie übrigens, dass ich gerade zum bestbezahlten Fotomodell der Welt avanciert bin?„Absolut Wodka„ haben mich für ihre Werbekampagne von Annie Leibovitz fotografieren lassen, sie haben mir ein Vermögen bezahlt. Das ist alles nett, aber trotzdem: Meine Uhr läuft ab.
Sie haben sich Ihre Grabstelle ja schon ausgesucht.
Ja, und es beruhigt mich zu wissen, wo ich beerdigt sein werde. In Washington, auf dem Friedhof Rock Creek Park, in der Abteilung E, Reihe 293, Grabstätte zwei.
Bert Brecht wünschte sich für seinen Grabstein die Inschrift: „Er hat Vorschläge gemacht, wir haben sie angenommen“.
Wie? Das ist doch größenwahnsinnig! Meine Grabplatte ist schon fertig, da ist nur mein Name drauf. Man muss nur noch den Todestag einmeißeln. Ich werde da liegen zwischen Jimmy Trimble
… Ihrer im Weltkrieg gefallenen Jugendliebe …
… ja, und neben meinem Lebensgefährten Howard Austen und dem Historiker Henry Adams, zwischen Gefühl und Geist also. Auch George McGovern, der 1972 Präsident werden wollte, hat sein Grab dort ausgesucht. Es ist ein wunderschöner Platz – man hat einen herrlichen Blick Richtung Weißes Haus.
Buchhinweis: Dieses und weitere spannende Interviews von Arno Luik sind nachzulesen im gerade erschienenen Buch „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna. Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit mit Ferdinand von Schirach, Ina Müller, Yanis Varoufakis, Barbara Schöneberger, Jean Ziegler, Roland Kaiser, Sahra Wagenknecht uvm“, 288 Seiten, Westend Verlag, 24 Euro
Die Vita von Gore Vidal: Er wurde am 3. Oktober 1925 in die amerikanische Machtelite geboren: Sein Großvater war Senator, sein Vater Mitbegründer der US-Luftfahrt. Vidal war verwandt mit Jimmy Carter, Jackie Onassis und Al Gore. Er lebte im italienischen Ravello und in Los Angeles. Vidal war Redenschreiber und Berater für die US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower und John F. Kennedy, zu dessen Hofstaat er gehörte. Zweimal bewarb er sich für die Demokraten um einen Sitz im Kongress, 1970 war er Mitbegründer der linksliberalen People’s Party. Vidal hat mehr als 60 Bücher geschrieben, darunter den Skandalroman Geschlossener Kreis (1948) und den Weltbestseller Myra Breckinridge (1968). Außerdem: Stücke für den Broadway, Drehbücher für Hollywood („Ben Hur“). 2012 starb Vidal in seinem Haus in den Hollywood Hills. Sein Vermögen in Höhe von 40 Millionen Dollar vermachte er der Harvard Universität.
Arno Luik, geb. 1955, war Reporter für Geo und den Berliner Tagesspiegel, Chefredakteur der taz, Vizechef der Münchner Abendzeitung und langjähriger Autor der Zeitschrift Stern. Gespräche von „Deutschlands führendem Interviewer“ (taz) sind in mehr als zwei Dutzend Sprachen übersetzt worden. 2008 wurde Luik vom Medium Magazin als Kulturjournalist des Jahres ausgezeichnet. Vor dem nun auf dem Markt befindlichen Buch „Als die Mauer fiel, war ich in der Sauna. Gespräche über den Wahnsinn unserer Zeit“ erschien von ihm der Spiegel-Bestseller „Schaden in der Oberleitung – Das geplante Desaster der Deutschen Bahn“, Westend Verlag 2019, 296 Seiten, 20 Euro.