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Karpfenangeln als Lebenseinstellung

Titelthema - Karpfenangeln als Lebenseinstellung
Bis zu diesem Moment erfordert es viel Ausdauer. Für den perfekten Fang können Wochen, sogar Monate an Vorbereitung vonnöten sein. © Florian Läufer

Sie bereiten stundenlang Köder zu, füttern tagelang den Angelplatz an und geben viel, viel Geld für ihr Hobby aus. Über Karpfenangler und ihre Passion

Gregor Bradler01.08.2020

Wenn der gefangene Karpfen für ein Erinnerungsfoto in die Kamera gehalten wird, hat der Karpfenangler sein Ziel erreicht. Das Fangfoto ist besonders wichtig, denn es gilt als Erfolgsnachweis. Und deshalb wird penibel darauf geachtet, dass möglichst alles perfekt ist: Hintergrund und Ausleuchtung müssen stimmen und der Fisch befindet sich im Mittelpunkt, am besten (fast) bildfüllend. Dann wird das Foto verschickt an Angelkollegen, heutzutage meist per E-Mail oder noch beliebter per WhatsApp, oder man lädt es bei Facebook und Instagram hoch. Die Likes, Kommentare, Glückwünsche und Fragen lassen nicht lange auf sich warten: Wie schwer war der Karpfen, hatte er zehn, 20 oder sogar 30 Kilo?

Die Suche nach dem großen Fang

Es könnte nun leicht der Gedanke aufkommen, dass Karpfenangeln lediglich eine etwas skurril anmutende Jagd nach (Gewichts-)Rekorden sei. Das trifft sicherlich teilweise auch zu, denn viele Karpfenangler sind permanent bestrebt, ihren persönlichen Gewichtsrekord, gemeint ist hierbei das des gefangenen Karpfens, zu überbieten. Aber dieser Erklärungsansatz greift zu kurz. Denn Karpfenangeln ist eine Lebenseinstellung. Wer sich dieser Leidenschaft verschrieben hat, macht sie zum Mittelpunkt seines Lebens. Einen großen Karpfen oder einen neuen

PB (die Abkürzung steht für „Personal Best“) bekommt man nicht nebenbei an den Haken. Das liegt daran, dass es nicht in jedem Fluss oder See große Karpfen gibt. Und so recherchiert der Karpfenangler ständig nach Gewässern mit Großfischpotenzial: Magazine, Social-Media-Plattformen, Online-Gruppen und Foren werden durchstöbert, immer auf der Suche nach Indizien oder Beweisen, die auf Seen oder Flüsse schließen lassen, in denen große Exemplare schwimmen. Dass diese Gewässer manchmal mehrere Tausend Kilometer entfernt liegen, ist kein Hindernis. Dann wird eben der Jahresurlaub investiert, um dorthin zu reisen. Und wer nun glaubt, dass man diese Fische mit dem klassischen Regenwurm und einer einfachen Angel an den Haken bekommen könnte, ist auf dem Holzweg. Für den Karpfenfang gibt es nämlich einen speziellen Köder. Er heißt Boilie. Diese Bezeichnung leitet sich aus dem Englischen „to boil = kochen“ ab. Bei einem Boilie handelt es sich um eine gekochte Teigkugel. Das mag nach einem simplen Köder klingen – aber falsch gedacht. Wie so häufig steckt auch hier der Teufel im Detail, in diesem Fall in den Bestandteilen des Teigs, aus dem die Kugeln hergestellt werden. Es gibt unzählige Zutaten, aus denen man Boilies herstellen kann. Und wer etwas auf sich hält in der Karpfenangler-Szene, stellt seine Boilies selbst her.

Eine anspruchsvolle Leidenschaft

Das genaue Rezept wird natürlich geheim gehalten. Wer gibt seine Erfolgswaffe schon gerne freiwillig aus den Händen? Karpfen sind gefräßige Fische, und wer häufig angelt, verbraucht mehrere Zentner Boilies pro Jahr. Die „Selbstroller“ sind also tagelang mit der Herstellung von Boilies beschäftigt: Man bestellt die Zutaten, wiegt sie grammgenau ab und stellt daraus den sogenannten „Mix“ her, der nicht selten auf Fischmehl basiert. Dann wird der Teig geknetet und gekocht, meist unter Hinzunahme von wohlklingenden Aromen wie „Monster Crab“ oder „Liver“. Häufig geschieht dies in der heimischen Küche – und da ist der Krach mit der Lebenspartnerin oder der Ehefrau programmiert. So manches tragische Ehe- oder Beziehungsaus nahm hier seinen Anfang. Man kann sich vorstellen, dass die Herstellung der Köder eine ziemlich kostspielige Angelegenheit ist. Aber dieser finanzielle Posten ist noch überschaubar, wenn man das Budget betrachtet, das der Karpfenangler in seine Ausrüstung investiert. Damit sind unterschiedliche Angelruten und Angelrollen für verschiedene Einsatzbereiche gemeint, aber noch viel mehr: Da man häufig mehrere Tage und Nächte, manchmal sogar Wochen am Wasser ist, um gute Chancen auf einen kapitalen Karpfen zu haben, werden Zelte, Liegen und Stühle benötigt. Außerdem eine Ablage, Rod Pod genannt, damit man die Angelruten nicht die ganze Zeit in der Hand halten muss. Macht sich ein Karpfen am Köder zu schaffen, wird dies von einem elektronischen Bissanzeiger gemeldet. Seit einigen Jahren muss man die Montage auch nicht mehr auswerfen. Kleine, ferngesteuerte GPS-gestützte Boote mit Funk-Echolot und Autopilot-Funktion, sogenannte Bait Boats, befördern Köder und Futter an den Angelplatz. Wer ausrüstungstechnisch up to date sein möchte, muss schon den Betrag investieren, den man für einen neuen Kleinwagen ausgibt.

Die Vorbereitung des Angelns ist ebenfalls von großer Wichtigkeit, denn die Fische müssen angelockt werden. Das geschieht durch Anfüttern. Dabei fährt man mehrere Tage oder sogar Wochen vor dem anvisierten Angeltermin ans Gewässer und wirft Futter an den ausgewählten Angelplatz – am besten immer zur gleichen Zeit. Denn so gewöhnen sich die scheuen Großkarpfen daran, dass es an dieser Stelle immer ein paar leckere Happen zu fressen gibt, und suchen ihn regelmäßig auf. Das ist aufwendig, verbessert aber die Fangaussichten ungemein.

Rechtfertigt dieser gewaltige Aufwand das Ergebnis? Diese Frage stellt man sich fast automatisch angesichts dieser Ausführungen. Jeder ernsthafte Karpfenangler wird diese Frage mit Ja beantworten. Er rechtfertigt das Gesamtpaket. Und das ist mehr als lediglich der Fang eines kapitalen Fisches. Denn Karpfenangeln hat trotz aller modernen Technik, durch die der Komfort gesteigert und die Fangchancen verbessert werden, etwas Ursprüngliches: Man ist draußen – und das nicht nur für einen Sonntagsspaziergang, sondern oft für einige Tage und Nächte. Der Karpfenangler lebt ein Stück weit in der Natur und genießt sie in vollen Zügen: Ein prächtiger Sonnenuntergang, ein farbenfroher Eisvogel, der auf der Spitze der Angelrute eine kurze Rast einlegt – das sind die unvergesslichen Momente im Leben eines Karpfenanglers. Kreischt dann noch der elektronische Bissanzeiger und merkt man kurze Zeit später, dass am anderen Ende der Schnur ein starker, kapitaler Karpfen kämpft, der die Angelrute bis ins Handteil krümmt, weiß der Karpfenangler: Ich habe das beste Hobby der Welt.


Buchtipp

 

 

Gregor Bradler

Karpfen: mehr Fisch, weniger Technik

Müller Rüschlikon, 2015,

160 Seiten, 24,90 Euro

paul-pietsch-verlage.de

Gregor Bradler

Gregor Bradler angelt seit seiner Kindheit und spezialisierte sich schon in seiner Jugend auf den Fang von Karpfen. Als Redakteur und Chefredakteur von Angelmagazinen machte er seine Leidenschaft zum Beruf. Heute ist er als PR- und Marketing-Berater für mehrere Unternehmen in der Angelbranche tätig und betreibt den Youtube-Channel „Big Fish Media“, eine der größten Filmplattformen für Angelpraxis im deutschsprachigen Raum.