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Schwaben in Berlin

Titelthema  - Schwaben in Berlin
Luxus für Sparfüchse: Viele Stuttgarter fahren zum Shoppen in die Designer-Outlets nach Metzingen © Dennis Orel und Benjamin Tafel

Schwaben haben es nicht leicht in Berlin, die Berliner haben es aber auch nicht leicht mit den Schwaben. Über Widersprüche, Differenzen und Gemeinsamkeiten

Achim E. Ruppel01.11.2021

Schwaben irritieren, nicht nur in Berlin, neuerdings auch in Stuttgart. Zu eigensinnig seien sie, mal kauzig, verhockt und unbelehrbar. Aber sind sie nicht auch zuweilen weltgewandt und manchmal im Denken voraus? Zugegeben, die Schwaben sind nur schwer unter einen Hut zu bekommen. Verhockt sind die Schwaben schon einmal nicht, denn offenbar treibt es sie massenhaft aus dem Ländle, und doch können sie davon nicht lassen. Zu viele Widersprüche vereinen sich im schwäbischen Charakter, wobei Ausnahmen die Regel bestätigen. Was oder wie ist eigentlich „der“ Schwabe?

Berlin ist voll mit Schwaben, man spricht davon, es sei die größte Gruppe der Zugezogenen dort. Vor einigen Jahren wurden sie in Berlin sogar zum Feindbild. „Kauft nicht bei Schwaben“, „Tötet Schwaben“, „Schwabe go home“ und ähnliche Aufforderungen waren an Berliner Hauswände gesprüht. Die anfänglichen Hinweise „Nach Stuttgart 635 km“ waren noch die harmlosen. Letztere hatte ich noch für Selbstironie gehalten, als raffinierte Kampagne gesehen, um sich selbst ins Gespräch zu bringen. Aber so war es nicht. Einigen schienen wir auf den Wecker zu gehen. Im maroden Prenzlauer Berg waren die Anleger aus Süddeutschland eingefallen und hatten Häuser gekauft. Aber nicht nur die, sondern auch Investoren aus der Schweiz, aus Dänemark, den Niederlanden, den USA, Kanada und aller Herren Länder. Doch die Schwaben als Häuslebauer hat man gebrandmarkt. Ausgerechnet die, die sich in Berlin am wohlsten fühlten und viel früher schon scharenweise in die Mauerstadt gezogen waren.

Offenbar gab es eine tief verwurzelte Seelenverwandtschaft, möglicherweise von den Hohenzollern beeinflusst oder vom Protestantismus, der ebenfalls Insulaner im überwiegend katholischen Baden-Württemberg und dort fest verankert ist. Der schwäbische Pietismus mit seiner Kehrwoche und vorgeblichen Ordentlichkeit schien manchen ein Gräuel gegenüber der Berliner Schnoddrigkeit und dem gesuchten Laisser-faire dort. Das wohl von den Hugenotten nach Berlin gekommen ist und von Friedrich dem Großen mit seiner Maxime „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ auf den Punkt, ein Lebensziel, gebracht worden war. Die Schwaben, die nach Berlin kamen, wollten frei sein und dem provinziellen Druck aus Konvention und Anpassung entfliehen.

Jahrelang war das eine glückliche Liaison, doch auf einmal sollten die Schwaben ungeliebte Außenseiter sein. Das passte nicht. Daraus entstand die Initiative „Schwaben in Berlin“, die es sich zur Aufgabe machte, auf die Feindseligkeit zu antworten: mit Theater. Den Berlinern, die uns plötzlich hassten, wollten wir uns zeigen: dramatisch, musikalisch, literarisch, malerisch und nicht zuletzt lukullisch. Die erste schwäbische Kulturwoche unter Einbeziehung der schwäbischen Gastronomie in Berlin war ins Leben gerufen. „Hassen dürft ihr uns, aber z’erscht wird gveschpret!“ lautete die Devise.

Das war natürlich auch eine kleine Provokation, ein Finger in die Wunde, denn die Berliner haben ja keine Küchenkultur. Nur wo früher die Römer waren, gibt es eine solche. Ein Mangel, der natürlich längst verdeckt war durch andere Hinzugezogene, die ihre Kultur aus ihren Ländern weltweit hergebracht und die Berliner damit bereichert hatten. Die Rebe für den im Ländle schon immer sehr geliebten Trollinger haben dort auch die Römer eingeführt.

Aber letztlich mussten wir Schwaben uns selbst unter die Lupe nehmen. Was ist das Besondere an uns, wenn plötzlich und unerwartet mit Fingern auf uns gezeigt wird? Schwaben waren ja überall. Egal, wohin man reiste auf der Welt, ein anderer Schwabe war schon vor uns da. Und da sollten wir engstirnig, hinterwäldlerisch oder eigensinnig sein?

Aus der Not wurde eine Tugend

Der „klassische“ Schwabe kommt von der Alb. „Vo dr Alb ra“, von der Alb herunter. Dort weht der Wind rau, und wenn die Winter hart waren, darbten Mensch und Vieh über die Jahrhunderte. Die Bauern fingen daher früh an, an Nebenverdienste zu denken. So entwickelten sich die Tüftler und Erfinder, die in filigraner Feinmechanik, später im Maschinenbau reüssierten oder die lange Zeit prägende Textilindustrie belebten. Denn mancher hatte eine Kuh im Stall und nebenan noch einen Webstuhl, in den 70er Jahren einen solchen als moderne Rundstrickmaschine. So arbeitete man den Fabrikanten und dem weltweiten Handel zu. Die Sehnsucht nach der Ferne scheint da ein treibendes Motiv gewesen zu sein, manche Älbler saßen auf ihrer Scholle und träumten von der großen, weiten Welt.

Je nachdem, wie es das Schicksal ihnen erlaubte, haben sie ihre Träume verwirklicht. Ein Beispiel dafür ist der Laupheimer Carl Lämmle, der in Hollywood die Traumwelt-Filmfabrik mit seinen Universal-Studios maßgeblich gestaltet hat. Raus aus dem Mief und was kostet die Welt? Unzählige haben es in ihren Schaffensbereichen ihm gleichgetan und es weit gebracht. Tüfteln und Träumen passt zu den Schwaben. In Baden-Württemberg leben die meisten Erfinder mit Patentanmeldungen, und ein großer Teil der heimischen Familienindustrie zählt zu den „Hidden Champions“ – Unternehmen, die man nicht immer kennt, die aber weltweit ihre Produkte erfolgreich verkaufen und der deutschen Exportnation eine maßgebliche Stütze sind.

Ein Milliardengrab ausgerechnet in Stuttgart

Doch wo Licht ist, gibt es auch Schatten. Das gilt auch für das aktuelle Großprojekt des Bahnhofs „Stuttgart 21“. Das Jahr 2021 ist fast vorbei, aber „nixischfertig“. Ja, die schwäbische Gründlichkeit, selbst einen Bahnhof unter die Erde zu bringen, hat offenbar ihre Tücken. Als Berliner Schwabe empört man sich darüber. Denn die jahrelange Verzweiflung über den Bau eines Berliner Großflughafens lebte lange von der Überzeugung, dass mit einem Schwaben als Bauleiter das nicht passiert wäre. Und nun muss man zusehen, wie nach dem Berliner Milliardengrab auch in Stuttgart sich eine grandiose Geldverschwendung wiederholt. Ausgerechnet bei den allgemein als sparsam geltenden Schwaben. Da hat sich offenbar noch sehr viel mehr gewandelt als nur das Klima.

Heute darf man ja auch nicht mehr leichtfertig von Querdenkern sprechen, als die man Schwaben durchaus positiv sehen konnte. Denn dieser Begriff wurde zwischenzeitlich vereinnahmt von Leuten, die so quer denken, dass es schon wieder rückwärts und unterirdisch ist. Zum unfertigen Bahnhof passt das, aber auch in eine aufgeschlossene, vorwärts ausgerichtete und hoffnungsvolle Welt? Ein Stuttgarter sagte mir: „Die kommen doch alle aus Berlin“, und meinte damit diese neuerdings so genannten Querdenker, die auffallend häufig in Stuttgart auftreten und deren Gedanken höchst fragwürdig sind.

Vielleicht geht es den Schwaben und den Berlinern einfach nur um die Vereinigung miteinander über Großprojekte, an denen sie sich beide übernommen haben. Egal, ob dies ein nicht funktionsfähiger Flughafen oder ein Bahnhof unter der Erde ist. Vermutlich läuft es in Zukunft daher auf die unweigerliche Erkenntnis hinaus: Berliner sind Schwaben, und foto: andi weiland Schwaben sind Berliner.

Achim E. Ruppel
Achim E. Ruppel Dipl.-Ing. der Versorgungstechnik und Regisseur aus Ebingen (heute Albstadt), lebt seit 1979 in Berlin. Er ist Gründer der Initiative „Schwaben in Berlin“. Aktuell baut er eine Schule, einen Kindergarten und Ausbildungswerkstätten in Malawi und sucht dafür Unterstützung über yoow.org und AchimE.Ruppel@gmx.de yoow.org