Titelthema
Klar und bitter mit Zuversicht
Wer den Feinden der Demokratie per Stimmzettel an die Macht verhilft, lädt schwere Schuld auf sich und vergeht sich an seinen Mitbürgern. Demokratie mag mühsam sein, aber sie ist jeder Diktatur überlegen
Medizin muss bitter schmecken, sonst hilft sie nicht, so heißt es in der Feuerzangenbowle. Heute muss man leider sagen: Wenn es nur so einfach wäre! Noch bedrückender als die jüngsten Wahlerfolge der Rechtsextremisten ist die allgemeine Stille, mit der die Menschen hier in der ostdeutschen Provinz darauf reagieren. Natürlich berichten die Zeitungen darüber, auch mit der gebotenen Klarheit. Das eine Wählerdrittel – bis zur Hälfte mancherorts –, welches sich an der Wahlurne gerade gegen die Demokratie entschieden hat, meint ohnehin, sein Verhalten wäre legitim und das Normalste der Welt. Aber sonst? Still ruht der See. Business as usual. Man geht zur Arbeit oder in den Garten, feiert Feste, fährt in den Urlaub und spricht nicht darüber. Alles geht einfach weiter, so als wenn nichts geschehen wäre. Auch deshalb sind klare Worte und auch eine gewisse Bitterkeit erlaubt und wichtig, bevor man jetzt, notwendigerweise, an die Zukunft denkt.
Wir im Osten haben allen Grund, uns kritisch zu hinterfragen – insbesondere dazu, wie es zu solch einer starken Demokratieverachtung kommen konnte. In einer zusätzlichen Ursachenforschung will ich mich hier nicht verlieren. Dazu kann man gegenwärtig schon viel Richtiges in den Medien lesen. Zuletzt hat der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk dazu Wichtiges gesagt. Allerdings sind auch schon längst wieder viele „Ostversteher“, neue wie alte, unterwegs, um das Geschehene – gewollt oder ungewollt – zu relativieren. Die Schuld läge in erster Linie bei der Politik, bei der nach 1990 oder gleich bei jener der heutigen Ampel-Koalition. Solche monokausalen Deutungen mögen populär und parteipolitisch hilfreich erscheinen. Den Kern des Themas erfassen sie jedenfalls nicht. Mich erinnert das immer an den Sohn, der eines Nachts seine Eltern erschlug und nun vorträgt, wie belastend doch seine Kindheit und Jugend gewesen war. Hier kann es allenfalls um Begleitumstände, aber nicht um Verantwortung und um die Schuldfrage gehen. Für Politiker sind solche Themen stets heikel. Schließlich lautet die erste Lektion im Politikerleben: Das eigene Wahlvolk kritisiert man nicht. Denn wenn man es tut, so wie der frühere Ostbeauftragte Wanderwitz etwa, wird man dafür abgestraft. Entweder vom gescholtenen Wähler selbst, oder vom eigenen Ministerpräsidenten, der so viel Klartext als Störung seiner eigenen Wahlstrategie empfindet.
Unerträgliche Geschichtsvergessenheit
Auch deshalb will ich hier zunächst einmal festhalten und klarstellen: Man kann den vollzogenen und den wohl noch kommenden Wahlerfolg der Rechtsextremisten erklären und ausdeuten; rechtfertigen kann man ihn nicht! Dafür, dass gerade große Teile der Deutschen, besonders im Osten, in einer freien Willensentscheidung den Feinden der Demokratie die Macht zuschieben wollen, gibt es keine Rechtfertigung. Schon einmal hat dies vor reichlich 100 Jahren die Generation unserer Groß- und Urgroßeltern getan. Das Ergebnis war das Ende der ersten deutschen Demokratie und eine Vernichtungsdiktatur, deren Folgen auf unserem Kontinent bis heute fortwirken. Natürlich wiederholt sich Geschichte so einfach nicht. Die Rechtsextremisten sind von einem machtpolitischen Durchmarsch in unserem Land noch weit entfernt. Unsere Demokratie ist heute auch um ein Mehrfaches resilienter und wehrhafter als jene aus den letzten 20er und 30er Jahren. Aber die Geschichtsvergessenheit und die Gleichgültigkeit, mit der große Teile unserer Mitbürger gegenüber unserer Demokratie, unserer Freiheit, also den wichtigsten Grundrechten aller, agieren, ist einfach unerträglich. Deshalb muss zunächst einmal klargestellt sein: Nichts berechtigt dazu, unsere Demokratie aus freien Stücken einem Abrissunternehmen zu überlassen. Weder der reale Migrationsdruck im Kiez noch der Phantomschmerz gegenüber dem Fremdartigen, weder das Benachteiligungsgefühl aus der Transformationszeit noch die heutigen Ängste im Blick auf Veränderungen und eine ungewisse Zukunft – und schon gar nicht der Ärger über eine schlechte Regierungspolitik können so etwas rechtfertigen.
Wer gestern, heute und morgen die Feinde der Demokratie per Stimmzettel an die Machthebel schiebt, lädt schwere Schuld auf sich, vergeht sich politisch an unserer freiheitlichen Gesellschaft und faktisch auch an seinen Mitbürgern. Und im Blick auf den Osten kommt erschwerend hinzu: Das beschmutzt, ja zerstört auch den Platz der Ostdeutschen, den sie sich durch ihr mutiges Handeln im Herbst 1989 in der wahrlich dünnen Demokratiegeschichte der Deutschen erworben haben. So weit, so klar, so bitter.
Völlig überraschend kommt das alles aber nicht. Denn die Anzeichen für das Erodieren demokratischer Überzeugungen bei großen Teilen der Bevölkerung waren für den aufmerksamen Beobachter, insbesondere in der AfD-Hochburg Ostdeutschland, schon seit vielen Jahren erkennbar. Es war offensichtlich sehr naiv, anzunehmen, dass sich im Osten die Demokratie als allgemein anerkannte Lebens- und Gesellschaftsform nach 1990 quasi von allein festigen und durchsetzen wird. Wir dachten damals, nach den beglückenden Freiheits-, ja Selbstbefreiungserlebnissen im Herbst 1989, diese Orientierungen würden sich langfristig quasi automatisch durchsetzen. Ein solches historisches Glücksereignis musste doch einfach, so dachten wir, dauerhafte Spuren in den Herzen und Köpfen für Freiheit, Grundrechte und für die Demokratie hinterlassen. Demokratiebewusstsein aus dem 89er Urknall quasi – und dessen weitere Verbreiterung wie über Wellenberge nur durch Learning by Doing. Heute wissen wir, dass dies eine große Illusion gewesen ist. Erkennbar war das schon früh. Nicht zuletzt durch die anhaltende Schwäche der politischen Parteien im Osten. Sie sind hier Mikro-Vereine geblieben auf Zehntelgröße derer im Westen. Die gesamtdeutsche Krise der Volksparteien hat das Problem dann noch zusätzlich verschärft.
Bedrückender Befund für Gesamtdeutschland
Allerdings sollte uns heute klar sein, dass wir es hier nicht nur mit einem Problem in Ostdeutschland zu tun haben. Der bedrückende Befund ist längst in ganz Deutschland vorhanden. Die Politikwissenschaftlerin Susanne Pickel meldet uns, dass rund ein Viertel der Bevölkerung in Deutschland mittlerweile ein Einparteiensystem befürwortet. Rund zehn Prozent präferieren einen starken Führer und ein gleicher Anteil unter bestimmten Umständen sogar eine Diktatur. Das Pro und Kontra für eine liberale Demokratie verteilt sich bei den Deutschen gegenwärtig in etwa nach zwei zu eins, wobei das ablehnende Drittel autoritäre Systemelemente mindestens akzeptiert und wesentliche Normen des Grundgesetzes nicht teilt. Die Lage ist deshalb alles andere als harmlos.
Trotzdem gibt es Grund für Zuversicht. Zuversicht nicht in einem naiven, passiven Sinne. Der Erfolg der Demokratien, ihre Resilienz gegenüber den Angriffen von innen und außen, ist kein Selbstläufer oder Automatismus. Wir müssen dafür selbst aktiv werden in unserem täglichen Umfeld für die Demokratie – sehr viel mehr, als wir dies bislang getan haben. Der Erfolg ist machbar, und sein Potenzial ist nach meiner Überzeugung sogar in Teilen systemimmanent.
Zunächst sollten wir uns aber auch einmal umschauen. Denn Deutschland ist kein Einzelfall. Die Demokratien stehen europa-, ja weltweit vor vielfältigen Angriffen und enormen Herausforderungen. Im Blick auf andere Länder befindet sich die Demokratie in Deutschland eher sogar noch in vergleichsweise ruhigem Fahrwasser. Es ist hier keine politische Kraft erkennbar, die so stark wäre, Macht im Gesamtstaat zu erlangen, um ein antidemokratisches Umbauprogramm ins Werk zu setzen. In Polen, Ungarn, der Slowakei und auch in Italien lagen oder liegen die Dinge etwas anders. Wir haben in Deutschland – anders als in den USA – auch keine Spaltung im politischen System, die den Funktionsmechanismus der Demokratie insgesamt bedroht und außer Kraft setzen kann. Dieser Befund über Deutschland ist zwar kein Trost. Er mahnt uns aber dazu, nicht in Panik zu verfallen und auch nicht zusätzlich zu dramatisieren.
Fehlende Orientierung
Die Demokratie in Deutschland funktioniert stabil. Viele Menschen wenden sich allerdings gegen deren Politik und Erscheinung. Die Demokratie in unserem Land ist deshalb nicht am Ende. Gerade in den Krisen brauchen und erwarten die Menschen aber Orientierung – auch oder gerade in der Demokratie. Sie verlangen ein demokratisches Regierungshandeln, das sie spüren lässt: Die Zukunftsfragen wurden verstanden, die sich ergebenden Probleme werden gelöst, und es wird dabei ausgewogen und fair entschieden. Eine solche auch für die Demokratie nachhaltige Krisenpolitik ist deshalb eine große, bislang eher unerledigte Aufgabe. Dass dies bei internationalen Krisen aber auch nur international, also in Kooperation auf Augenhöhe und in nach Recht und Ordnung agierenden Zusammenschlüssen wie der EU, geschehen kann, versteht sich fast von selbst. Gerade das ist die Domäne der Demokraten und nicht die egomaner Nationalisten.
Aus meiner Lebenserfahrung, zu der auch drei Jahrzehnte in einer Diktatur gehören, speist sich noch eine weitere Zuversicht. Demokratien gelten in der Krise wegen ihrer schwierigen Prozesse mitunter als vermeintlich schwach. Diktatoren aller Couleur haben sich im Verlaufe der Weltgeschichte darüber lustig gemacht. Putin unterscheidet sich darin in nichts von anderen Despoten. Die Kraft der Demokratie liegt aber gerade in der systemimmanenten Fehlerkorrektur. Das ist mühsam, anstrengend, am Ende aber jeder Diktatur überlegen.
Rolf Schwanitz war von 1990 bis 2013 im Parlament – von der frei gewählten Volkskammer in der DDR führte sein Weg in den Bundestag und bis ins Bundeskanzleramt. Er lebt in Plauen.