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Titelthema

Kraft des Himmels

Titelthema - Kraft des Himmels
Hans Thoma Das Albtal bei St. Blasien, 1882 (Öl auf Leinwand) 1899 wurde Hans Thoma zum Professor an der Großherzoglichen Kunstschule in Karlsruhe und zum Direktor der Kunsthalle Karlsruhe ernannt. Zu seinen besten und authentischsten Werken zählen noch heute seine Landschaften (Schwarzwald, Oberrheinebene und Taunus). © sepia times/universal images group/getty images, dorothee wetzel

Uriella gefiel es in Ibach, Alexei Nawalny auch. Über einen Ort, der für Wahnsinn, Besonnenheit und Kraft steht.

Kai Weyand01.08.2021

Ich bin Schriftsteller und meine Heimat ist vor allem mein Kopf. Jeder Text, den ich schreibe, hat eine Schöpfungsgeschichte, die in meinem Kopf entsteht.

Die Griechen glaubten, dass die Schöpfung durch das Zusammentreffen von Erde, Himmel und Hölle entstand. Dieses mystische Zusammentreffen symbolisierte für sie den Nabel der Welt. Für die Griechen war das ein Kultstein, der im Apollon-Tempel in Delphi stand. Der Nabel eines Textes ist der Kopf des Schriftstellers. Mein Kopf hat drei Ecken. Ich nenne sie nicht Hölle, Erde und Himmel, sondern Wahnsinn, Besonnenheit und Kraft. 

Wahnsinn meint, dass jeder Gedanke, sei er noch so abstrus, zugelassen werden muss. Die Besonnenheit meint die nüchterne Betrachtung der Gedanken, welche man für tauglich erachtet, salopp gesagt, das Bekloppte vom Verrückten zu trennen. Und die Kraft steht für das Durchhaltevermögen, für das Vermögen, die Gipfel in der Ferne zu sehen. 

Einem Schriftsteller, der sich nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen will, dass seine Texte nicht in der Welt verankert sind, tut es gut, wenn er einen Ort hat, der seinen Kopf widerspiegelt, der aber geografisch bestimmbar ist. Sozusagen sein Nabel der Welt. Ich habe ihn im Schwarzwald gefunden. Genau genommen in Ibach, im Südschwarzwald. Ibach ist eine kleine Gemeinde zwischen Sankt Blasien und Todtmoos. Nicht weit weg ist der Feldberg, der mit 1296 Metern höchste Berg des Schwarzwaldes, nicht weit weg ist auch der Schluchsee, der größte und vielleicht auch schönste See im Schwarzwald, und nicht zuletzt liegt Ibach am Rande eines der betörendsten Fernwanderwege Deutschlands, des Schluchtensteigs.

Ibach ist dreigeteilt wie mein Kopf und der Nabel der Welt. Es gliedert sich in Oberibach, Unteribach und Vorderibach. Dass in Ibach der Wahnsinn Einzug gehalten hatte, wusste ich durch das Fernsehen. Anfang der 90er Jahre stellte sich in einer Fernsehsendung eine ältere Dame als Sprachrohr Gottes vor. Sie nannte sich Uriella, trug ein weißes Kleid mit Stickereien, eine schwarze Perücke, in der ein Diadem steckte, und war auf eine Art geschminkt, dass nicht deutlich wurde, ob Absicht dahintersteckte, Unbeholfenheit oder übersinnliche Kräfte. Sie behauptete, in früheren Leben Maria Magdalena und Nofretete gewesen zu sein, verkündete einmal den Untergang Ulms und zweimal gar den der ganzen Welt. Uriella wusste, wo es schön ist. Im Schwarzwald. Und besonders in Ibach. Dort ließ sie sich mit einem Teil ihrer weiß gekleideten Anhänger nieder.

Das Große im Kleinen finden

Es bedarf aber etwas, das dem Wahnsinn gegenübersteht, ihn einordnet, das Wahnhafte vom Sinnhaften unterscheidet. Es benötigt die Besonnenheit des menschlichen Verstandes, die Erdung der Ibacher Bürger, die mit offenherziger Nachsicht Uriella und ihrer Gefolgschaft gegenübertraten. Es ist nicht so, dass der Schwarzwälder Neues und Neue mit offenen Armen empfängt, aber auch nicht mit verschränkten. Mit feiner Wahrnehmung wird registriert, was um einen herum geschieht, und wenn eine helfende Hand benötigt wird, findet man viele, die eine reichen, aber ungebetene Ratschläge bekommt man nicht.

Und als Bewohner des Schwarzwaldes, in dem aufgrund seiner zahlreichen Flüsse über Jahrhunderte die Flößerei eine bedeutende Rolle für die Wirtschaft spielte, wussten sie auch: alle Wasser laufen ins Meer. Womit gemeint ist, dass der Mensch seinem Schicksal nicht entkommen kann. Salopp gesagt: es kommt eh, wie es kommt.

Fehlt noch die Kraft: Der Himmel ist der sichtbare Raum über der Erde, der Raum, in dem das besonnene Denken ins Träumen übergeht. Es ist der Himmel, der uns Menschen Kraft gibt, weil er uns immer wieder glauben lässt, dass wir größer sind, als wir uns manchmal selbst scheinen.

Und so ist es wahrscheinlich kein Zufall, dass der wohl bedeutendste Oppositionspolitiker Russlands, Alexei Nawalny, nach dem Giftanschlag wochenlang in Ibach zur Erholung weilte. Dort, wo bei klarem Himmel ein Blick bis zu den Schweizer Alpen mit dem Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau möglich ist.

Als Schriftsteller bemühe ich mich, Großes im Kleinen zu erzählen, damit das, was sich sonst im Ungefähren verliert, konkreter wird und an Anschaulichkeit gewinnt. Insofern scheint es so, als habe ich hier über Ibach geschrieben, aber in Wahrheit doch über den Schwarzwald. Auch wenn der Südschwarzwald anders ist als der Nordschwarzwald, so ist es der Schwarzwald, den ich als Heimat empfinde – und Ibach als stellvertretenden Ort für eine Region, in der sich der erschöpfte Mensch neu schöpfen kann.


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Kai Weyand
Kai Weyand arbeitete als Lehrer im Strafvollzug, ist Mitarbeiter einer Sozietät und lebt bei Freiburg. Sein jüngster Roman Die Entdeckung der Fliehkraft erhielt den ThaddäusTroll-Preis (Wallstein 2019, 198 Seiten).