Wie die Stasi Kinder als IM missbrauchte
Kultureller Tabubruch
25 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer diskutiert die gesamtdeutsche Öffentlichkeit über die Frage, ob die Deutsche Demokratische Republik ein Unrechtsstaat war oder nicht. Während die einen für ihre Bewertung die Struktur des Staates zugrundelegen, betonen andere, dass auch die totalitäre Gesellschaft private Nischen hatte. Die Beiträge dieses November-Titelthemas widmen sich wichtigen Aspekten der Debatte.
Den Charakter eines Staates kann man auch daran beurteilen, wie er mit seinen Kindern umgeht. In allen Kulturkreisen der Welt gelten Jungen und Mädchen sowie selbst noch Heranwachsende als unvorbelastet und unschuldig, weshalb es den Common Sense gibt, Kinder aus allen Auseinandersetzungen herauszuhalten. Doch die Staatssicherheit der DDR bezog in ihre nachrichtendienstliche Arbeit auch Minderjährige ein, sogar Kinder. Das geht aus den Akten in der Stasi-Unterlagenbehörde hervor.
Allerdings sind diese Akten aus verständigen Gründen jeglichem Zugriff entzogen. Die Legislative hat das schützend in das Gesetz eingewebt, indem sie eine Auskunft über Kooperationen mit der Staatssicherheit vor dem 18. Lebensjahr ausschloss. Deshalb braucht es mitunter Zufälle, damit die Öffentlichkeit davon erfährt. So im Jahre 2011, als das Beispiel Lutz Penesch publik wurde, der sich laut einem Bericht des Tagesspiegel als 17-Jähriger schriftlich an den West-Berliner Sender RIAS gewandt haben soll und auf diese Weise ins Visier des MfS geraten war. Es gab Gespräche, in deren Folge er jedoch weder eine schriftliche Verpflichtung abgegeben haben, noch als inoffizieller Mitarbeiter verzeichnet worden sein soll. Etwas anders gelagert scheint der Fall bei Angela Marquardt zu sein, von der es im Jahre 2002 im Spiegel hieß, sie habe als 15-Jährige eine „Verpflichtung“ gegenüber der Staatssicherheit abgegeben.
Beide Fälle würden kaum ein öffentliches Interesse gefunden haben, wenn nicht Lutz Penesch Vorsitzender des Hauptpersonalrates der Stasi-Unterlagen-Behörde und Angela Marquardt zunächst stellvertretende Vorsitzende der „Partei des demokratischen Sozialismus“ und Mitglied des Deutschen Bundestages gewesen wären.
Sogar Zwölfjährige
Als die DDR unterging, standen dem Ministerium im geheimen Dienst 189.000 inoffizielle Mitarbeiter (IM) zur Verfügung. Der Anteil der Minderjährigen daran stellt eine verschwindende Minderheit dar. Sie wird – das erschließt sich aus statistischen Teilüberlieferungen – im Mittel weniger als ein Prozent der IM betragen haben. Der eigentliche Skandal ist jedoch, dass das MfS überhaupt mit nicht geschäftsfähigen Personen operativ gearbeitet hat.
Was aber sollten die Kinder und Jugendlichen für das Ministerium tun? Der Befehl 1/66 von Stasi-Minister Erich Mielke machte es zur Aufgabe, „politisch-operative Maßnahmen“ zu „jugendlichen Personenkreisen“ einzuleiten. Es handelt sich vornehmlich um eine Personengruppe, die regelmäßig im Vorfeld des Wehrdienstes vom MfS angesprochen wurde, damit nicht erst Rekruten während ihres Dienstes verpflichtet werden müssen, was innerhalb der Kasernen mitunter dekonspirierend sein konnte.
Es gab jedoch noch deutlich Jüngere. Der jüngste bislang ermittelte IM war bei seiner Rekrutierung zwölf Jahre alt, und ihm wurde der Deckname „Jüngling“ zugewiesen. „Jüngling“ war Schüler der Polytechnischen Oberschule (POS) „Otto Grotewohl“ in Bad Salzungen und besuchte die 7. Klasse. Das Scheidungskind sollte „mit negativen Schülern und Jugendlichen an der POS Kontakt halten, bzw. mit diesen engen Umgang pflegen.“ Er wurde im Pionierkabinett seiner Schule mit Handschlag geworben. Den Anlass dafür gab eine strafbare Handlung. Über ihn heißt es 1980: „Da der IM in seiner Persönlichkeitsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist, kommt es darauf an, in der ersten Etappe der Zusammenarbeit den IM so zu beeinflussen, damit Momente der Spontaneität und der Schwankungen weitgehend abgebaut werden und ihm ein klares Feindbild anerzogen werden kann. Des Weiteren kommt es darauf an, dass Vertrauensverhältnis systematisch so zu vertiefen, um ihn an unser Organ zu binden.“ Das scheint nicht recht geklappt zu haben, denn sieben Jahre später heißt es über „Jüngling“: „In der Folgezeit der Zusammenarbeit stellte sich heraus, dass der IM vom Intellekt her nicht in der Lage war, die an ihn gestellten Aufgaben zu erfüllen. Er ist ängstlich, unehrlich und nicht bereit, Jugendliche, Freunde und Bekannte zu belasten. Der IM hat für eine Zusammenarbeit mit unserem Organ keine Perspektive.“
Am Befehl 1/66 zeigt sich, dass die Massenorganisation der Jugendlichen schlechthin, die Freie Deutsche Jugend (FDJ) oder – mit Abstrichen – die Gesellschaft für Sport und Technik (GST) nicht zureichend genug Jugendliche absorbierten. Eine latente, zum Teil sehr kritische Distanz zu den Vorgaben des Staates gab es unter Jugendlichen durchaus, auch bei jenen, die sich nicht kirchlich gebunden fühlten. Diese Gruppe operativ zu kontrollieren war das genuine Anliegen des MfS, aber nicht allein Aufgabe von minderjährigen IM, sondern von grundsätzlich mit Jugendlichen operativ befassten IM. Doch den besten Zugang hatten freilich Gleichaltrige, mithin minderjährige IM. Dabei ist im Wesentlichen von zwei Typen auszugehen: der angepasste – und der unangepasste Minderjährige. Dies soll an zwei Beispielen illustriert werden.
Der angepasste »Schwalbe«
Eine Woche vor seinem 18. Geburtstag verpflichtete sich ein Schüler der Erweiterten Oberschule Walther Rathenau in Senftenberg „zum Schutze der Deutschen Demokratischen Republik und des Aufbaus des Sozialismus inoffiziell“ zur Kooperation mit dem MfS. Er wählte sich in seiner handschriftlichen Verpflichtung den Decknamen „Schwalbe“. „Mir ist bewusst“, heißt es in seinem letzten Satz, „dass ich, wenn ich die Schweigeverpflichtung breche, strafrechtlich belangt werden kann“. Das war 1970. Juristisch gesehen eine hohle Aussage, für die Welt eines Jugendlichen aber keine zu unterschätzende Bürde.
Sein Gesprächspartner auf Seiten der Stasi erwartet von ihm Ausführungen zu den Jugendlichen im Flugclub Schwarzheide und zu den „Grenzern“ an seiner Schule. „Schwalbe“ bemüht sich redlich. Sein Bericht zu den Grenzkadern an der Schule kommt gut an, bei den Segelfliegern will er ein „umfassendes Bild erarbeiten“. „Schwalbe“ zeigt revolutionäre Wachsamkeit, zumal er tatsächlich gern Mitarbeiter der Staatssicherheit werden möchte.
Kaum 18jährig vermerkt er über einen Mitschüler: „schlank, blond, etwa 1,75 m groß, lange Haare, gepflegtes Aussehen, höfliches Auftreten, Fußballer, besuchte mit mir gemeinsam die 7. Klasse“. So ähnlich sind auch die späteren Berichte, man ist mit ihm zufrieden. „Schwalbe“ „war sehr pünktlich und sehr gut vorbereitet. Konspiration wurde gewahrt“. Aus der Karriere beim MfS wird dennoch nichts. 1971 geht er für drei Jahre zu den Grenztruppen und sichert das Brandenburger Tor. „Schwalbe“ setzt auch dort die Kooperation mit dem MfS fort und berichtet fleißig über seine Kollegen. Die Kooperation endet erst nach 1975. Nach der Herbstrevolution 1989 wurde er Abgeordneter im Brandenburger Landtag.
Der unangepasste »Igel«
Feldwebel Katrin Schollmeyer arbeitet als operativ-technische Mitarbeiterin bei der Staatssicherheit in Berlin und sucht jemanden, der sich in der Fußball-begeisterten Skinhead-Szene Ost-Berlins auskennt. Der 17jährige Kellnerlehrling „Igel“ erscheint dafür wie geschaffen. Bereits in der 9. Klasse, so erfährt sie, war „Igel“ im „Zusammenhang mit faschistischen Tendenzen“ aufgefallen, als im Wehrerziehungslager Mitschüler als Juden „beschimpft und drangsaliert“ worden waren. „Igel“ gilt als Initiator, zumal sein Äußeres dazu passt: Fallschirm-springerstiefel, Jeanshosen, Fallschirmsprungjacke mit dem Aufnäher „Skinhead Power Deutschland“, dazu die „extrem kurzen“ Haare. Bei einer Weihnachtsfeier an seiner Polytechnischen Oberschule „urinierte“ er in den Saal, warf Gegenstände aus dem Fenster und gehörte zu jenen, die gelegentlich mit „erhobenem Arm (Hitlergruß)“ gesehen werden. Während einer polizeilichen Vernehmung nennt „Igel“ zehn Mitglieder seiner Gruppe, berichtet von den Besuchen bei den Spielen des 1. FC Union und von den donnerstags stattfindenden Treffen im Pfarrhaus. Bei der Kontaktaufnahme Schollmeyers mit „Igel“ am 23. Oktober 1984 spricht er über „einzelne Personen“. Sie bleiben im Gespräch, treffen sich aber aus konspirativen Gründen bei Vorladungen in der Volkspolizei-Inspektion Köpenick.
Doch von Dauer war diese Zusammenarbeit nicht. Als Schollmeyer will, das „Igel“ seine Geburtstagsfeier mit fünfzig Skinheads absagt, signalisiert er zunächst seine Bereitschaft. Doch als die Feier stattfindet, wird die Akte zugeklappt, da „Igel“ „subjektiv nicht geeignet ist, mit dem MfS inoffiziell zusammenzuarbeiten. Es ist keine Bereitschaft vorhanden, konkrete Aufträge zu interessierenden Personen und Personenkreisen zu übernehmen.“ Fortan wird „Igel“ als „Seife“ selbst zur beobachteten Person des MfS.
Die überwiegende Anzahl der minderjährigen IM war ihrem Einstieg 17 Jahre alt, der Anteil der 16jährigen und Jüngerer ist deutlich geringer. Das MfS wollte mit diesen IM insbesondere jene Bereiche der Gesellschaft inoffiziell unter Kontrolle nehmen, die durch andere Instrumente für den Staat nicht ohne Weiteres erreichbar waren. Wenngleich es sich bei minderjährigen IM – bezogen auf die gesamte Bevölkerung der DDR – um eine verschwindende Minderheit handelt, müssen wir klar sagen: Jeder Fall ist einer zu viel!