Titelthema
Landflucht war gestern
Heute sieht es so aus, als könnte der ländlichen Region die Zukunft gehören. Der Schlüsselfaktor dafür: Digitalisierung durch Breitbandversorgung
Die Folgen globaler Landflucht sind Strukturprobleme sowohl in ländlich geprägten Räumen als auch in den schnell wachsenden Städten. Die Covid-19-Pandemie verstärkt die Wirkung dieser strukturellen Herausforderungen wie durch ein Brennglas. Zugleich werden die ökologisch und sozial negativen Folgen der Agglomerationen immer sichtbarer. Die Vorteile digitaler Lebens- und Arbeitsstrukturen werden gleichzeitig immer deutlicher aufgezeigt. Um diese Vorteile – Vermeidung hoher Wohnkosten, langer Pendlerwege, starken Verkehrsaufkommens – nutzen zu können, gilt es jedoch einiges zu beachten.
Wachsender Entwicklungs- und Veränderungsdruck
Auf dem Land forciert der nach wie vor hinter den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anforderungen zurückbleibende digitale Infrastrukturausbau die Entwicklung. Er verstärkt den eigentlich unnötigen Druck auf die digital mobile Bevölkerung, in die mit größerer Bandbreite ausgestatteten Siedlungsgebiete zu ziehen beziehungsweise schlecht versorgte ländliche Gebiete zu meiden. Die Großstädte wachsen dabei überproportional durch Zuzug vor allem junger Menschen, denen digitale Arbeits- und Lebenswelten näher liegen. Auf dem Land schrumpfen zeitgleich die Arbeitsangebote und genutzten Lebensräume weiter, das Durchschnittsalter der verbleibenden Bevölkerung steigt stark an.
Während auf dem Land Angebote wegbrechen, entstehen in den Städten und ihren Randbereichen viele neue analoge Wohn-, Lebens- und Partizipationsräume. Eine Folge dieses Trends sind weiter anwachsende Pendlerströme und Innenstädte, die unter dem steigenden Individualverkehr und Umweltbelastungen leiden. Dem lokalen Einzelhandel fällt es zunehmend schwer, sich gegen die Online-Konkurrenz zu behaupten.
Hier sind umfassend verbundene Konzepte gefordert. Ein Aspekt, der steigende Akzeptanz erfährt und zusätzliche Unterstützung braucht, ist die Reaktivierung und Neunutzung von ländlich innerörtlichen und inzwischen aufgegebenen Gebäuden. Viele Höfe, stillgelegte Fabriken, Mühlen, Krankenhäuser, Schulen, Bahnhöfe, Klosteranlagen und Landgüter bergen hochattraktive, bewohnbare Kleinode, die der Entstehung von Doughnut-Dörfern durch die reine Ansiedlung von Neubaugebieten am Ortsrand entgegenwirken.
Umfassende gesamtheitliche Siedlungs-, Mobilitäts- und Infrastrukturentwicklungskonzepte sind genauso notwendig wie Anpassungen der Arbeitszeit-, Arbeitsort- und Organisationskonzepte in Unternehmen. Nähmen Unternehmen ihren Teil dieser Verantwortung an, entstünde zusätzlicher Handlungsdruck auf die Politik, Lösungen voranzubringen.
Unternehmen fällt es schwer, kurz- oder mittelfristig dem Trend der Verstädterung räumlich zu folgen. Sie sind auf die dauerhafte Attraktivität ihres Standortes angewiesen, welche sie nur bedingt beeinflussen können. Mittelfristig führt dies zu einer Ungleichverteilung von Fachkräften und damit zu einem wesentlichen Wettbewerbsnachteil vor allem der Firmen, die in eher ländlichen Räumen angesiedelt sind.
Politik, Gesellschaft und Unternehmen sollten gemeinsam aktiv werden, um flächendeckend Lebens- und Arbeitsräume in ihrer Attraktivität aufzuwerten. Gesellschaftspolitisches Ziel sollte es sein, durch fokussierte Infrastrukturmaßnahmen – gerade im Bereich Breitband und durch neue Mobilitätskonzepte – die Attraktivität ländlicher Lebensräume wieder zu erhöhen, damit Leben und Arbeiten auf dem Land eine interessante Alternative zu den Mainstream-Lebensentwürfen des städtischen Pendlermodells darstellt.
Unternehmen sollten parallel die ihnen obliegenden Stellhebel ergreifen, um zeitgemäße und zukunftsgerichtete Arbeits- und Lebensbedingungen im Unternehmen und dem nahen sozialen Umfeld zu erschaffen.
Kurzfristiger Einfluss der Pandemie mit langfristiger Wirkung
Einen besonderen Entwicklungsschub erleben wir aktuell durch die Covid-19-Pandemie. Hier bietet die Coronakrise tatsächlich die Chance einer anhaltenden kulturellen Veränderung in Unternehmen hin zu mehr mobiler Arbeit. Sie hat der Digitalisierung in vielen deutschen und österreichischen Unternehmen kurzfristig enormen Vorschub geliefert und Organisationsstrukturen verändert. Die Notwendigkeit neuer Abstandsregeln hat dazu geführt, dass Bedenken bezüglich eingeschränkter Führungs- und Kommunikationsmöglichkeiten sowie der digitalen Sicherheit zurückgestellt werden mussten. Laut einer Auswertung des Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung werden viele Unternehmen nach den positiven Erfahrungen mit dem Thema Homeoffice dieses auch nach der Krise deutlich intensiver nutzen als zuvor. Auch im Privatleben wurden Lebensgewohnheiten drastisch angepasst. Das im medialen Mainstream versprochene Leben in der Stadt mit dem abendlichen Glas Rotwein beim Italiener im eigenen Kiez musste pausieren und wird zunehmend abgelöst vom Bild des mobilen Arbeitens dort, wo andere eigentlich Urlaub machen. Die frühere Sichtweise einer zu bevorzugenden städtischen Siedlungsform, die schon bisher die Diversität der Lebensstile vollkommen negiert und das Leben auf dem Lande außerhalb der städtischen digitalen Hotspots ignoriert hat, hat einen Dämpfer erhalten.
Breitbandversorgung als Schlüsselfaktor
Das Internet bringt es bereits heute mit sich, dass sich ein relativ naturnahes Wohnen – soweit man im dicht besiedelten Deutschland davon sprechen kann – vereinbaren lässt mit der Versorgung mit grundsätzlichen Gütern des alltäglichen Bedarfs und der Kommunikation mit anderen Menschen. Damit ist der Breitbandzugang zum Internet ein entscheidender Faktor für das Leben und Arbeiten auf dem Land beziehungsweise umgekehrt wird er die Gründe zum Wohnen in der Stadt neutralisieren:
• Die Versorgung mit dem Internet auf dem flachen Land nimmt stetig zu. Der sich (zwar langsam) durchsetzende Glasfaserausbau und 5G sind wesentliche Bestandteile dieser Entwicklung. Damit ist es zunehmend möglich, die negativen Folgekosten des Wohnens außerhalb der innerstädtischen Infrastruktur abzusenken.
• Ortsflexibles Arbeiten fasst nicht nur in der Kreativwirtschaft, sondern auch im verarbeitenden Gewerbe immer mehr Fuß. Die Möglichkeiten und Intensität der Homeoffice-Nutzung werden, so aktuelle Studien, deutlich zunehmen.
• Die Virtualisierung medizinischer und pflegerischer Dienste sowie die mögliche Virtualisierung von Bildungsangeboten entziehen wichtigen Argumenten für die Nutzung einer innenstadtnahen Infrastruktur die Grundlage. Covid-19 hat hier die Notwendigkeiten, aber auch die Potenziale, deutlicher gemacht.
• Einzelhandel über das Netz hat in den letzten Jahren weiter an Relevanz gewonnen und das klassische Argument von der Innenstadt als Marktplatz entkräftet. Es interessiert die Bürger letztlich nicht, was sich Kommunalpolitik und örtliche Einzelhändler wünschen. Der Bürger stimmt mit seinem Ausgabeverhalten ab. In der Krise hat sich gezeigt, dass die lokalen Einzelhändler und Gastronomen die wenigsten Probleme hatten, die es vermocht haben, die digitale Plattform als Ersatz für die wegbleibende Laufkundschaft zu erkennen und zu nutzen.
• Car- und allgemeines Konsum-Sharing wird durch das Internet immens erleichtert und damit auch zunehmend ein Thema in den Eigenheimsiedlungen vor der Stadt. Die Bedeutung der Konsuminfrastruktur als Argument für das Wohnen in der Stadt nimmt damit allgemein ab.
• Während die derzeitigen Renten- und Pensionsempfänger eine eher geringe Armutsquote aufweisen und das (relativ) teure Einkaufen von Bio- und Regionalprodukten auf den Wochenmärkten häufig Teil der Lebenseinstellung ist, lassen steigende Armutsquoten im Alter in Zukunft den Bedarf an Lebensmitteln vom Discounter ansteigen; diese gibt es aber aufgrund des fehlenden Platzes und hoher Quadratmeterpreise weniger in den Innenstädten. Damit entfällt ein wesentlicher Grund – kurze Wege – für das Wohnen in der Innenstadt.
• Die Kommunikation auf dem kommunalen Marktplatz oder im lokalen Café wird zusehends durch soziale Netze und damit ortsungebundene Kontakte, wenn nicht abgelöst, so doch ergänzt. Das Internet ersetzt damit zu einem großen Teil die Stadt als unmittelbares soziales Lebensumfeld.
• Die Teilnahmequote am Internet in den jüngeren Generationen wird perspektivisch die Akzeptanz internetbasierter Dienste deutlich erhöhen. Neben diesen internetbezogenen Gründen für ein Leben auf dem Land gibt es natürlich auch weitere Aspekte, die diesen Trend unterstützen.
• Innenstädte werden zunehmend als Ort sozialer Brennpunkte wahrgenommen. Diese Wahrnehmung spielt insbesondere bei älteren Menschen eine große Rolle in der Bewertung der Qualität des Wohnumfeldes. Die nach wie vor stark ansteigenden Wohnkosten in den zentralen Lagen beliebter Großstädte führen zur Frage nach dem Kosten-Nutzen-Verhältnis, wenn man in München oder Hamburg in der City Wohnraum mietet oder auch erwirbt. Zudem hat es den markanten Trend zur Rückkehr in die Innenstadt nur in den großen Metropolen gegeben, er ist aber nie ein Thema der relativ unattraktiven Lagen in Städten mittlerer Größe gewesen.
• Die Generation der Babyboomer wird aufgrund des steigenden Gesamtangebots an Wohnraum bei Renteneintritt der eigenen Generation Probleme haben, angemessene und erwartete Preise für die eigene Immobilie zu erhalten. Der ideelle Wert der Immobilie wird dadurch relativ ansteigen und den Trend zum Wohnen in der Innenstadt, in der auch neue soziale Kontakte aufgebaut werden müssten, abbremsen. Der Trend zur Vereinzelung der Haushalte hält auch bei jüngeren Generationen an und lässt den Wohnraumbedarf auch in Zukunft weiter ansteigen, trotz der gestiegenen Bedeutung von Alten-WGs. Das Ergebnis der Wechselwirkung der beiden letztgenannten Trends ist nicht absehbar.
Zukunft der Arbeit bietet ländlichen Regionen ein großes Potenzial
Die Auswirkungen der Coronapandemie haben neue Dimensionen und Optionen der digitalen Anbindung ländlicher Gebiete an den urbanen Lebensraum aufgezeigt. Eine bewusste, großräumige Trennung von Lebens- und Arbeitsmittelpunkten ist zunehmend weniger notwendig, sofern Ausbau und Zugang sowohl zu digitalen wie auch sozialen Angeboten sichergestellt werden können. Sie hat ebenfalls vor Augen geführt, wie schnell und fokussiert viele Unternehmen die Digitalisierung vorantreiben können. Die Maßnahmen zur Verhinderung einer schnellen Ausbreitung haben über Nacht eine große Zahl an Unternehmen eine zuvor ungeahnte Herausforderung meistern lassen.
Analysiert man die veränderten Rahmenbedingungen von Leben und Wohnen in Städten unter digitalen Gesichtspunkten, so wird schnell deutlich, dass die „Zukunft der Arbeit“ uns schneller erreicht hat, als dies noch vor wenigen Monaten absehbar war, und dass diese Zukunft der Arbeit für ländliche Regionen ein immenses Potenzial bietet. Unser Verständnis der Trennung von Leben und Arbeit ist relativ kurzfristig infrage gestellt worden. Dies wird auch zukünftig Auswirkungen auf die Art haben, wie Unternehmen in diesem neuen Kontext organisiert, strukturiert und geführt werden. Hier liegt weiteres Potenzial verborgen, das es zu nutzen lohnt, um attraktive Arbeits- und Lebensumfelder und damit „ein gutes Leben“ zu gestalten.
Dr. Ole Wintermann (re.) ist Senior Project Manager bei der Bertelsmann Stiftung und befasst sich mit der Zukunft von Arbeit, Fragen der Globalisierung und Demografie.
Guido Bosbach arbeitet als Managementberater, ist Management-Blogger und gestaltet zukunftsgerichtete Management-, Führungs- und Organisationsstrukturen.