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Titelthema

Langstrumpf und Zitterbacke

Titelthema - Langstrumpf und Zitterbacke
Eselsbrücke, Greifenhagener Straße, Berlin-Prenzlauer Berg, 2019 © Harald Hauswald

Es ist ein Merkmal unserer gesamtdeutschen Generation: über Unterschiede reden zu können, ohne gleich zu vermuten, dass sie uns trennen oder gar spalten.

Valerie Schönian01.10.2020

Als Deutschland eine Einheit wurde, bin ich das erste Mal spazieren gegangen. Genauer: spazieren gerollt. Das weiß ich aus meinem Babyalbum, das ich neulich durchblätterte. Gleich fünf Fotos gibt es von diesem Großereignis. Darauf zu sehen: meine Mutter, mein Vater, der Kinderwagen, im Hintergrund Bäume. Neben den Bildern steht die Erklärung, in der Handschrift meiner Mutter: „Meine erste Spazierfahrt, 3. Oktober 1990.“

Kein Wort von dem anderen Großereignis. Kein Wort davon, dass das Land im Hintergrund an diesem Herbsttag ein anderes wurde, meine Eltern nun in einem neuen System lebten und der Staat, in den ich gerade noch hineingeboren worden war, ab sofort nicht mehr existierte.

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Eselsbrücke, Greifenhagener Straße, Berlin-Prenzlauer Berg, 1984 © Harald Hauswald

Ich kam im September 1990 auf die Welt, in Gardelegen in der Altmark, das heute Sachsen-Anhalt ist und damals DDR war. Aufgewachsen bin ich in Magdeburg, in Ostdeutschland. Ob das alles etwas bedeutet oder gar mit mir zu tun hat – darüber habe ich lange nicht nachgedacht. Immerhin gehöre ich zur ersten Ost-Generation, die komplett in einem wiedervereinigten Deutschland groß geworden ist. Ich wuchs auf mit Dirty Dancing, Pippi Langstrumpf und Nena, nicht mit Paul und Paula, Alfons Zitterbacke und Silly. Als ich 18 Jahre alt war, flog ich das erste Mal auf einen anderen Kontinent. Ost und West? Waren Himmelsrichtungen.

Deshalb habe ich auch nie groß über die Deutsche Einheit nachgedacht. Dafür war sie immer viel zu selbstverständlich für mich. Doch seit einigen Jahren hat sich mein Blick darauf verändert, weil sich mein Blick auf Ostdeutschland verändert hat. Und das hat auch mit den politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre zu tun.

Als im Jahr 2014 Pegida in Dresden zu marschieren begann, lebte ich in München, stand auf der Gegendemo und verstand es auch nicht. Weder, was in Sachsen passierte, noch die öffentlichen Debatten. Es wurden auf einmal Klischees aus der Schublade geholt, von denen ich nicht dachte, dass es die noch geben würde – das sei ein Klischee. Eine westdeutsche Freundin gestand mir, dass sie in ganz finstere Rollenmuster zurückfalle: „Die sind irgendwo tief in mir vergraben“, sagte sie. „Sodass ich denke: Scheiß Ossis! Ihr Jammerlappen, dass ihr euch immer noch benachteiligt fühlt!“

In dieser Zeit begann meine Ossi-Werdung, mein erstes ostdeutsches Gefühl. Es war eine Trotzreaktion. Ich war gegen Pegida. Aber auch gegen die, die aus Pegida einen pauschalen Vorwurf an die gesamte Region ableiteten. Ich fing an, den Osten zu verteidigen, ihn zu erklären – aber auch, ihn mehr verstehen zu wollen. Denn eigentlich kannte ich mich selbst kaum mit der ostdeutschen Erzählung aus. Sie war eben nie großartig Thema in der Familie, siehe Babyalbum. Also begann ich nachzufragen.

Zum Beispiel bei meiner Oma, Jahrgang 1945. Sie ist aufgewachsen in der Altmark in Sachsen-Anhalt, und dort ist sie geblieben. Obwohl sie sich nie vom Fleck bewegte, hat sie in drei politischen Systemen gelebt. 33 Jahre lang arbeitete sie als Verkäuferin, 1995 musste ihre Kaufhalle schließen und sie wurde mit 49 Jahren arbeitslos. Sie erzählte mir, dass sie in der DDR besser gelebt habe und sich manchmal zurücksehne. Und je länger ich ihr zuhörte, desto mehr begann ich, ein Stück weit zu verstehen. Was in diesem Landesteil, in dem ich aufgewachsen bin, in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich abgegangen ist: altes System, Umbruch, neues System, neue Regeln, neues Leben, alles neu.

Ich begann zu erahnen, wie diese Erfahrungen die Region bis heute prägen, die Ostdeutschen, meine Oma. Aber auch mich. Ja, vor allem das wurde mir in den vergangenen Jahren immer mehr klar. Denn eben all diese Erfahrungen haben dafür gesorgt, dass der Osten auch nach dem Ende der DDR ein anderer Sozialisations- und Erfahrungsraum blieb. Und das hat mich beeinflusst, genau wie meine ganze Generation, die der ostdeutschen Nachwendekinder. Nicht nur im negativen Sinne, im Gegenteil.

Wo Freiheit ist, ist alles denkbar

Wir wuchsen da in einem Raum auf, der noch unfertig war. Mit Platten am Horizont, weniger Erbe in der Familie, kaum Großunternehmen in der Umgebung – aber auch mit mehr Freiräumen. Jeder, der mal in Ostdeutschland unterwegs gewesen ist, kann sie bis heute sehen. Oft wird dieser Freiraum als Leere betrachtet. Aber Freiraum ist immer auch eine Möglichkeit. Und auch die Strukturen, in denen wir aufwuchsen, waren unfertig und damit freier. Das hat, glaube ich, beeinträchtigt, wie wir ostdeutschen Nachwendekinder aufs Leben blicken. Denn wo noch nicht alles fertig und erfragt ist – da ist noch alles denkbar. Da wird mehr infrage gestellt. Und Fragen sind gut. Sie halten eine Gesellschaft in Bewegung. Ich glaube, das können wir zur Deutschen Einheit beitragen.

Was natürlich nicht bedeutet, dass unsere westdeutschen Altersgenossen nicht auch solche Fragen stellen können. Etwas anderes hingegen unterscheidet uns: Ohne Wiedervereinigung wäre ihr Leben vielleicht ähnlich verlaufen wie jetzt, unseres nicht. Ich arbeite heute als Journalistin in einer freien Presselandschaft, lebe in West-Berlin, habe studiert, was ich wollte; reise, wohin ich möchte. So viele Fäden meines Lebens hängen an dieser Deutschen Einheit. Deswegen hat sich mein Blick auf den 3. Oktober verändert. Es ist nicht nur irgendein Tag, sondern für mich tatsächlich ein Feiertag geworden, an dem ich mit meinen Freunden zusammenkomme, mit Pfeffi oder Rotkäppchen anstoße. Meine Ossi-Werdung ist ein Prozess – und immer noch in vollem Gange.

Unterschiede bedeuten Vielfalt

Trotzdem, jetzt, wo ich so viel öffentlich über den Osten rede, werde ich auch immer wieder gefragt: Ist es nicht mal gut? Waren wir denn nicht schon mal weiter? Ich verstehe das. Lange wurde nicht über Ost und West gesprochen, sodass viele dachten, das Thema sei gegessen. Aber ich glaube: Eben weil wir jetzt mehr darüber reden, zeigt sich, dass wir weiter sind. Denn es war ja nie gegessen. Wirtschafts-, Diskurs-, politische Macht, historische Haupterzählung – alles west-deutsch geprägt. Nur bekommen jetzt immer mehr diese Schieflage mit, weil die, die das kritisieren, in Positionen sind, in denen sie gehört werden. Wie wir Nachwendekinder.

Neulich war ich in Görlitz bei einem Kulturfestival, um aus meinem Buch zu lesen. Vielleicht 40 Menschen saßen da an Tischen, bei Kerzenschein, Bier oder Limo. In der Fragerunde im Anschluss erzählten Ostdeutsche von ihrer Ossi-Werdung, Westdeutsche fragten, was sie denn tun könnten, um die Ostperspektive mehr zu berücksichtigen. Die meisten waren in meinem Alter oder jünger. Niemand von ihnen fragte, ob es denn nicht mal gut sei mit dem Thema.

Vielleicht ist auch das ein Merkmal unserer gesamtdeutschen Generation: über Unterschiede reden zu können, ohne gleich zu vermuten, dass sie uns trennen oder gar spalten. Das wäre eine Chance. Es würde auch das Sprechen über viele andere Perspektiven ermöglichen, die zu diesem Land gehören und zu wenig gesehen werden. Ob die vietdeutsche, afrodeutsche, viele andere. Wenn wir das schaffen, dann könnte, endlich, sichtbar werden, wie vielfältig es ist, dieses Land, das da im Hintergrund meiner Babyfotos entstand. Und wie bereichernd das ist.


Buchtipp

 

Valerie Schönian

Ostbewusstsein: Warum Nachwendekinder für den Osten streiten und was das für die Deutsche Einheit bedeutet

Piper Paperback 2020,

272 Seiten, 16 Euro

piper.de

Valerie Schönian

Valerie Schönian wurde 1990 in Gardelegen geboren und ist in Magdeburg aufgewachsen. Sie ist Autorin im Leipziger Büro der Zeit sowie Buchautorin.