Politische Bildung versucht, wenn sie sich mit historischen Themen beschäftigt, immer wieder die Frage nach der Bedeutung des Vergangenen für das Hier und Jetzt zu stellen. Etwas zugespitzt: Wer über Vergangenheit redet, sagt immer etwas über seine Gegenwart und Zukunft. Vor diesem Hintergrund hinterfragen die folgenden Ausführungen, welches die prägenden Kräfte der Reformation für Religion, Kultur und Gesellschaft sind, mit welchem Ziel wir diese Kräfte nutzbar machen und konstruktiv umsetzen sollten und welche Rolle dabei die politische Bildung spielt.
prägende Kräfte der Reformation
Die Reformation hat den Blick auf den Einzelnen im Diesseits gerichtet, den Weg zu Rationalismus und Aufklärung geebnet. Mit seiner Rechtfertigungslehre gab Martin Luther eine Antwort auf die seinerzeit viel diskutierte und bis heute aktuelle Frage, was geschehen muss, um das durch die Sünden der Menschen gestörte Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung wieder in Ordnung zu bringen. Luthers neue Perspektive auf diese Frage hat er in die berühmten lateinischen Formeln gefasst, die alle mit dem Wort „sola“, bzw. „solus“ beginnen – also mit dem Wort „allein“: „sola sciptura – allein die Heilige Schrift“; „sola fide – allein der Glaube“; „sola gratia – allein die Gnade“ und „solus Christus – allein Christus“. Damit stellt Luther implizit alle Menschen und Institutionen infrage, die sich zwischen Gott und das gläubige Individuum stellen.
Auch wenn man die protestantischen Kirchen keineswegs als Vorreiter und Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte bezeichnen kann, so haben sie doch wichtige ethische und politische Impulse gegeben, damit ein Fundament gelegt werden konnte für unsere freiheitliche und demokratische Grundordnung und eine entsprechend organisierte Gesellschaft. Diese Werte sind die politisch-moralische Grundausstattung unserer Demokratie, gültig über weltanschauliche und konfessionelle Grenzen hinweg. Zu betonen ist also: Die Bundesrepublik ist kein wertneutraler Staat – und das ist auch gut so. Ein Gemeinwesen funktioniert nicht, wenn mit der Freiheit des Einzelnen nicht auch die Verantwortung und die Sorge für den Anderen und das Ganze einhergehen.
In den Printmaterialien und auf der Online-Seite der Bundeszentrale für politische Bildung können Sie Einiges nachlesen zum Wertewandel in der Bundesrepublik. Festhalten lässt sich zumindest, dass es eine Verschiebung gegeben hat: Die Wichtigkeit der materiellen Werte wie Vermögen und Besitz nimmt ab, die Bedeutung immaterieller Werte wie Selbstverwirklichung und Kommunikation nimmt zu. Ist das eine positive Entwicklung?
Eine Grafik des Portals „Statista“ (www.statista.com) zeigt das Ergebnis einer Umfrage in Deutschland vom Herbst 2015 zu den wichtigsten politischen und sozialen Werten , wobei die Auswahl der Begriffe für die sogenannten Werte vorgegeben war. Dabei gaben 58 Prozent der Befragten an, dass Frieden für sie zu den wichtigsten Werten gehört, 44 Prozent nannten Menschenrechte, 34 Prozent Demokratie, 32 Prozent die Freiheit des Einzelnen. Es folgen mit abnehmenden Zustimmungswerten Respekt gegenüber dem menschlichen Leben, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und Unterstützung anderer sowie als Schlusslichter mit einstelligen Prozentzahlen Respekt gegenüber anderen Kulturen, Selbstverwirklichung und Religion.
Was kann man mit diesen Befunden anfangen? Spiegeln sie die prägenden Kräfte wieder, die Werte, die das Ethos des Gemeinwesens ausmachen? Dem Frieden, den Menschenrechten, der Demokratie und der Freiheit des Einzelnen räumen jeweils über 30 Prozent der Befragten einen besonderen Stellenwert ein. Doch fällt auf, dass denjenigen Werten, die in einem Staat mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung das funktionierende Miteinander seiner Bürgerinnen und Bürger ermöglichen, keine herausragende Bedeutung zugesprochen werden. Toleranz und Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und Respekt gegenüber anders Glaubenden, Lebenden und Denken sind aber gerade in einer Markt-, Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft überaus wichtig. Eine in dieser Weise angeschlagene Gesellschaft tut sich zum Beispiel auch schwerer damit, Hilfesuchende nicht nur aufzunehmen, sondern ihnen auch bei der Integration in das Gemeinwesen zu helfen.
Die Nutzbarmachung der Kräfte
Das sicher nicht kleine Ziel ist es, die prägenden Kräfte, die ethischen und politischen Impulse so einzusetzen und wirken zu lassen, dass sie unsere von Konkurrenz, Leistungsdruck und Ausgrenzung bestimmte Gesellschaft umlenken in Richtung einer Bürgergesellschaft. Unter einer Bürgergesellschaft wird eine demokratische Gesellschaftsform verstanden, welche durch die aktive Partizipation ihrer Mitglieder am öffentlichen Leben gestaltet und weiterentwickelt wird. Sie wird demnach getragen von dem Engagement der Bürgerinnen und Bürger – jeder Einzelne soll die Chance zur Teilhabe nicht nur kennen, sondern auch nutzen können. Aber neben diesen Chancen, sich am Diskurs zu beteiligen, lauern auch die Risiken einer zunehmenden sozialen Ungleichheit und Ausgrenzung. Wie muss eine Gesellschaft aussehen, die politische und soziale Partizipation aller ermöglicht und gleichzeitig soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz und Empathie befördert?
Martin Luther spricht in seinen Thesen zur „Freiheit eines Christenmenschen“ zwei scheinbar einander ausschließende, sogar einander widersprechende Sätze aus: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“. Und: „Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Diese christliche Erklärung von Freiheit war zu Luthers Zeiten, als Kirche und Politik aufs Engste miteinander verwoben waren, leichter verständlich, aber nicht minder provozierend. Die prägende Kraft dieser Aussagen ins 21. Jahrhundert, ins Zeitalter der Trennung von Staat und Kirche zu überführen, eröffnet eine erstaunliche Perspektive.
Der Mensch ist frei von allen irdischen Zwängen, sozusagen frei von der Welt in seinem Glauben an Gott. Und, das besagt der zweite Satz, er hat als Christ Verantwortung zu tragen für seine Mitmenschen, er empfindet Empathie, Solidarität und setzt sich für das Wohl und die Würde aller Menschen ein. Freiheit in Verantwortung, Verantwortung für die Welt. Gilt das aber in einer zwar christlich geprägten und grundierten, aber weltanschaulich offeneren und säkularisierten Gesellschaft auch?
Zur näheren Bestimmung einer, nennen wir es sozialen Bürgergesellschaft, möchte ich von Martin Luther zu Ralf Dahrendorf gehen, vom 16. ins 20. Jahrhundert. Der deutsch-britische Soziologe, Politiker und Publizist hat sich seit den 1960er Jahren mit gesellschaftlichen Defiziten und Konflikten beschäftigt. Dahrendorf versuchte zu ermitteln, welches Maß an Freiheit mit welchem Maß an Gleichheit der Mitglieder einer Gesellschaft zu vereinbaren ist. Dabei bedeutet Freiheit für ihn, dass alle Menschen über die nicht nur theoretische Möglichkeit verfügen, ihre Freiheit zu entfalten und sich selbst zu verwirklichen. Diese Chance eröffnet sich nur dann, wenn die wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen stimmen. Jeder Staatsbürger muss eine vergleichbare Ausgangsposition haben, um sich individuell zu entfalten und seine politischen Rechte wahrzunehmen. Und jedem Einzelnen sollte ein sozialer Mindeststatus garantiert werden, der ihm die Wahrnehmung seiner staatsbürgerlichen Rechte ermöglicht. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Gleichheit gilt es nach Dahrendorf auszutarieren.
Eine soziale Bürgergesellschaft müsste ausgerichtet sein auf Gerechtigkeit und Chancengleichheit, also auf ein ausgewogenes Verhältnis von Freiheit und wechselseitiger Anerkennung und Wertschätzung für jeden Einzelnen. Und sie muss für die Interaktion zwischen ihren Mitgliedern sorgen, damit sie sich füreinander interessieren, sich kennenlernen, sich austauschen.
Die Rolle der politischen Bildung
Bei allen Fehlentwicklungen, die bei der Bewertung der Reformation auch genannt werden müssen – zum Beispiel die Spaltung der Kirche, die von Luther im Kontext seiner Zwei-Regimenter-Lehre postulierte Unterwerfung unter die Obrigkeit, seine Judenfeindschaft, das Wettern gegen die Türken und damit gegen den Islam – haben uns die Reformatoren vorgemacht, für etwas zu kämpfen, das wir für richtig halten, und es gegen Widerstände zu verteidigen. So ist Martin Luthers Postulat, den Menschen im Zentrum zu sehen, ihn auch in einer leistungs- und erfolgsorientierten Gemeinschaft als gleichrangiges Mitglied zu wertschätzen, das einen wichtigen Beitrag zum Zusammenleben leistet, auch wenn er nicht immer Höchstleitungen erbringt, auch heute enorm aktuell.
Die Voraussetzung für Freiheit und gegenseitige Wertschätzung ist allerdings, überhaupt die eigenen Rechte und Pflichten und Wahlmöglichkeiten zu kennen und in der Lage zu sein, eigene Überzeugungen zu entwickeln und sich Werte zu Eigen zu machen. Oder anders: Ohne Aufklärung ist keine Bildung, aber ohne Bildung auch keine Aufklärung möglich. Das ist es, was die politische Bildung leisten muss und wo wir als Bundeszentrale für politische Bildung bereits unsere Schwerpunkte gesetzt haben.