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Unser Luther

Luther und wir

Die Reformation als Gegenstand der politischen Bildung

Thomas Krüger01.10.2016

Politische Bildung versucht, wenn sie sich mit historischen Themen beschäftigt, immer wieder die Frage nach der Bedeutung des Vergangenen für das Hier und Jetzt zu stellen. Etwas zugespitzt: Wer über Vergangenheit redet, sagt immer etwas über seine Gegenwart und Zukunft. Vor diesem Hintergrund hinterfragen die folgenden Ausführungen, welches die prägenden Kräfte der Reformation für Religion, Kultur und Gesellschaft sind, mit welchem Ziel wir diese Kräfte nutzbar machen und konstruktiv umsetzen sollten und welche Rolle dabei die politische Bildung spielt.

prägende Kräfte der Reformation
Die Reformation hat den Blick auf den Einzelnen im Diesseits gerichtet, den Weg zu Rationalismus und Aufklärung geebnet. Mit seiner Rechtfertigungslehre gab Martin Luther eine Antwort auf die seinerzeit viel diskutierte und bis heute aktuelle Frage, was geschehen muss, um das durch die Sünden der Menschen gestörte Verhältnis Gottes zu seiner Schöpfung wieder in Ordnung zu bringen. Luthers neue Perspektive auf diese Frage hat er in die berühmten lateinischen Formeln gefasst, die alle mit dem Wort „sola“, bzw. „solus“ beginnen – also mit dem Wort „allein“: „sola sciptura – allein die Heilige Schrift“; „sola fide – allein der Glaube“; „sola gratia – allein die Gnade“ und „solus Christus – allein Christus“. Damit stellt Luther implizit alle Menschen und Institutionen infrage, die sich zwischen Gott und das gläubige Individuum stellen.

Auch wenn man die protestantischen Kirchen keineswegs als Vorreiter und Kämpfer für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte bezeichnen kann, so haben sie doch wichtige ethische und politische Impulse gegeben, damit ein Fundament gelegt werden konnte für unsere freiheitliche und demokratische Grundordnung und eine entsprechend organisierte Gesellschaft. Diese Werte sind die politisch-moralische Grundausstattung unserer Demokratie, gültig über weltanschauliche und konfessionelle Grenzen hinweg. Zu betonen ist also: Die Bundesrepublik ist kein wertneutraler Staat – und das ist auch gut so. Ein Gemeinwesen funktioniert nicht, wenn mit der Freiheit des Einzelnen nicht auch die Verantwortung und die Sorge für den Anderen und das Ganze einhergehen.

In den Printmaterialien und auf der Online-Seite der Bundeszentrale für politische Bildung können Sie Einiges nachlesen zum Wertewandel in der Bundesrepublik. Festhalten lässt sich zumindest, dass es eine Verschiebung gegeben hat: Die Wichtigkeit der materiellen Werte wie Vermögen und Besitz nimmt ab, die Bedeutung immaterieller Werte wie Selbstverwirklichung und Kommunikation nimmt zu. Ist das eine positive Entwicklung?

Eine Grafik des Portals „Statista“ (www.statista.com) zeigt das Ergebnis einer Umfrage in Deutschland vom Herbst 2015 zu den wichtigsten politischen und sozialen Werten , wobei die Auswahl der Begriffe für die sogenannten Werte vorgegeben war. Dabei gaben 58 Prozent der Befragten an, dass Frieden für sie zu den wichtigsten Werten gehört, 44 Prozent nannten Menschenrechte, 34 Prozent Demokratie, 32 Prozent die Freiheit des Einzelnen. Es folgen mit abnehmenden Zustimmungswerten Respekt gegenüber dem menschlichen Leben, Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und Unterstützung anderer sowie als Schlusslichter mit einstelligen Prozentzahlen Respekt gegenüber anderen Kulturen, Selbstverwirklichung und Religion.

Was kann man mit diesen Befunden anfangen? Spiegeln sie die prägenden Kräfte wieder, die Werte, die das Ethos des Gemeinwesens ausmachen? Dem Frieden, den Menschenrechten, der Demokratie und der Freiheit des Einzelnen räumen jeweils über 30 Prozent der Befragten einen besonderen Stellenwert ein. Doch fällt auf, dass denjenigen Werten, die in einem Staat mit einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung das funktionierende Miteinander seiner Bürgerinnen und Bürger ermöglichen, keine herausragende Bedeutung zugesprochen werden. Toleranz und Rechtsstaatlichkeit, Solidarität und Respekt gegenüber anders Glaubenden, Lebenden und Denken sind aber gerade in einer Markt-, Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft überaus wichtig. Eine in dieser Weise angeschlagene Gesellschaft tut sich zum Beispiel auch schwerer damit, Hilfesuchende nicht nur aufzunehmen, sondern ihnen auch bei der Integration in das Gemeinwesen zu helfen.

Thomas Krüger
Thomas Krüger ist seit dem Jahre 2000 Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. 1989 gehörte er zu den Gründern der Sozialdemokratischen Partei in der DDR (SDP). Von 1991 bis 1994 war er Senator für Jugend und Familie in Berlin, von 1994 bis 1998 Mitglied des Deutschen Bundestags. www.bpb.de