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Mama gibt es nur per Skype

Titelthema - Mama gibt es nur per Skype
Mihail und Ana mit ihrer Oma Kati. Die 57-Jährige ist die wichtigste Bezugsperson der beiden Kinder, solange ihre Mutter im Ausland arbeitet. Die Kinder haben Glück, denn viele andere Kinder in der Republik Moldau sind als Sozialwaisen auf sich allein gestellt. © Don Bosco Mission Bonn/Simone Utler

Weil es in Moldawien keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit gibt, hat fast jede Familie mindestens einen Verwandten im Ausland. Um Geld zu verdienen, lassen sogar Eltern ihre Kinder zurück. Viele Jungen und Mädchen bleiben bei der Oma - manche sind ganz auf sich gestellt.

03.10.2022

Ana vermisst ihre Mama sehr. In einem ihrer Schulhefte hat die Achtjährige ein winziges Passfoto, das sie sich mit traurigem Blick ans Herz drückt, wenn man sie nach einem Bild der Mutter fragt. Ein oder zwei Mal am Tag kann Ana ihre Mama fast in Originalgröße sehen - wenn diese sich per Internettelefon Skype meldet und ihr Gesicht auf dem Computerbildschirm erscheint. Natalia M. arbeitet in Italien, ihre beiden Kinder hat sie in Moldawien bei ihrem Mann und ihrer Mutter gelassen.

Wenn der dudelige Skype-Sound verkündet, dass Mama anruft, ziehen sich Ana und ihr 13-jähriger Bruder Mihail zwei Stühle vor den kleinen Schreibtisch und rutschen so nah wie möglich an den Bildschirm. An diesem Abend haben die Kinder ein paar Holzarbeiten vor dem Rechner aufgereiht, die sie in der Schule geschnitzt und geleimt haben. „Das habe ich gemacht und das ist von Mihail“, erzählt Ana euphorisch, während sie eine hölzerne Acht und ein bemaltes Brettchen vor die Computer-Kamera hält. Mama nickt zustimmend vom Bildschirm und lächelt. Dann friert ihr Gesicht ein. Die Verbindung ist abgerissen.

Eine normale Kommunikation für Ana, Mihail und ihre Mutter. Seit fünf Jahren ist Natalia M. in Italien, zur Zeit betreut sie eine alte Frau. Einmal im Jahr kommt Natalia für zwei Monate nach Hause. Dann kann sie ihre Kinder in die Arme nehmen, mit ihnen Ausflüge machen, mit ihrer Tochter in einem Bett schlafen. „Es ist sehr schwer für mich, ohne meine Familie in Italien zu sein. Aber das Opfer müssen wir bringen“, sagt die 38-Jährige. Ihre Familie ist auf das Geld aus dem Ausland angewiesen. Was ihr Mann Vladimir in einer Brotfabrik verdient, reicht vorne und hinten nicht - zu hoch sind die Preise des alltäglichen Lebens.

Moldawien wird oft das Armenhaus Europas genannt. Die Republik Moldau, wie sie offiziell heißt, rangiert laut Deutschem Auswärtigem Amt beim Human Development Index auf Rang 114 von 187 Ländern. Das Land, das im Westen an Rumänien grenzt und ansonsten von der Ukraine umschlossen wird, befindet sich im Übergang vom Kommunismus. Die Demokratie ist sehr wackelig, Korruption an der Tagesordnung. Zusätzlich schwächt der jahrelange Konflikt um die abtrünnige Teilrepublik Transnistrien, in der sich wichtige Teile der industriellen Produktion befinden, die Wirtschaftskraft des Landes.

Auf dem Land wird häufig Subsistenzwirtschaft betrieben, in den Städten sind Mehrfachbeschäftigungen, Gelegenheitsjobs und Schwarzarbeit die Regel. Laut der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) leben rund 4,4 Millionen Menschen in Moldawien, etwa 700.000 Menschen (16 Prozent) haben das Land auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen bereits verlassen. Die Rücküberweisungen der im Ausland arbeitenden Moldauer machen nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) rund 30 Prozent des Bruttosozialproduktes aus. Das stabilisiert zwar den inländischen Konsum, aber es fehlt an qualifizierten Arbeitskräfte im eigenen Land - und an Eltern, denn  unzählige Arbeitsmigranten lassen ihre Kinder als Sozialwaisen zurück.

Natalia hat früher in Moldawien in einer Teppichfabrik gearbeitet und dafür 100 Euro im Monat bekommen. In Italien verdient sie 900 Euro und kann davon jeden Monat 600 bis 700 Euro nach Hause schicken. „Dadurch können wir das Haus ausbauen, den Kindern ihre Zimmer renovieren, ihnen gute Kleidung kaufen“, sagt Natalias Mutter Kati. Die resolute Oma mit den weißen Haaren sitzt auf einem rosafarben bedeckten Bett und hält in jedem Arm ein Enkelkind. Für Ana und Mihail ist sie die wichtigste Bezugsperson. Der Vater der Kinder arbeitet im Schichtdienst und ist oft nicht zuhause, wenn sie aus der Schule kommen.

Kati ist mit ihren 57 Jahren vergleichsweise jung und fit. „Oft sind die Großmütter alt und gebrechlich und mit der Betreuung der Enkel überfordert“, sagt Vater Gianfranco Ferrari, der das Don Bosco Zentrum in Chisinau leitet. „Das bedeutet eine große Unsicherheit für Kinder und Jugendliche“, sagt der Salesianer, der seit anderthalb Jahren in Moldawien ist „Viele Kinder wachsen ohne Stabilität, ohne Regeln und ohne Vorbild auf.“

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Die Mutter schickt einen Großteil des Geldes nach Hause, damit die Familie überleben kann ©Don Bosco Mission Bonn/Simone Utler 

Die Salesianer wollen Jungen und Mädchen eine Perspektive bieten und laden seit 2006 am Nachmittag ins Oratorio zu Spiel, Sport und Hausaufgabenbetreuung ein. Das Don Bosco Zentrum liegt am nördlichen Rand von Moldawiens Hauptstadt Chisinau, in einem Viertel, in dem es einige kleine Häuser gibt, aber vor allem viele heruntergekommene Wohnblocks. Graue und sandfarbene Fassaden mit bröckelndem Putz und zerbrochenen Fenstern prägen hier das Stadtbild. Das Gelände der Salesianer lockt mit bunt bemalten Wänden, Fußballfeldern, Basketballkörben, einem Volleyballnetz und einem Saal voller Indoorspiele. Auch Ana und Mihail sind regelmäßig hier - am liebsten an einem Kicker oder einer Tischtennisplatte.

Viele Kinder in Moldawien wachsen ohne ihre Eltern auf. Das Phänomen der Sozialwaisen ist in dem osteuropäischen Land weit verbreitet. Immer mehr Menschen verlassen das Land, um im Ausland zu arbeiten. Laut der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) leben rund 4,4 Millionen Menschen in Moldawien, etwa 700.000 Menschen
(16 Prozent) haben das Land auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen bereits verlassen. Die Rücküberweisungen der im Ausland arbeitenden Moldauer machen nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) rund 30 Prozent des Bruttosozialproduktes aus. Das stabilisiert zwar den inländischen Konsum, aber es fehlt an qualifizierten Arbeitskräften im eigenen Land - und an Eltern, denn  unzählige Arbeitsmigranten lassen ihre Kinder als Sozialwaisen zurück.

Nina Pinzaru kennt zahlreiche Kinder, die auf sich gestellt sind. Die stämmige Frau mit dem herzlichen Lachen ist seit 38 Jahren Lehrerin. Seit 16 Jahren leitet sie das Gimnaziul 31, die Schule in unmittelbarer Nachbarschaft des Don Bosco Zentrums. Von den insgesamt 400 Kindern des Gymnasiums sind in diesem Schuljahr 43 mit nur einem Elternteil zuhause, elf leben ganz ohne Mutter und Vater. „Diese Kinder brauchen besonders viel Nähe, Aufmerksamkeit und Unterstützung. Die Lehrer achten besonders auf ihre Hausaufgaben, nehmen sie aber auch einfach mal in den Arm“, erzählt Nina Pinzaru und führt Besucher stolz in die mit Pflanzen, Gardinen, Bücherschränken und Bildern eingerichteten Klassenzimmer.

Nina Pinzaru beobachtet seit etwa 16 Jahren das Phänomen der Sozialwaisen. „In den vergangenen fünf Jahren sind die Zahlen gravierend gestiegen“, sagt die Pädagogin. „Das hängt mit dem wirtschaftlichen Niedergang Moldawiens nach dem Ende der Sowjetunion zusammen, aber auch mit den Möglichkeiten, die sich den Menschen mit den offenen Grenzen bieten.“ Die Schulleiterin kennt zahlreiche Fälle von Jugendlichen, die alleine gelassen und dann gewalttätig, alkoholabhängig oder kriminell wurden. Aber es gebe auch Erfolgsgeschichten: „Kinder, die auf sich gestellt sind, sind oft sehr selbstständig und ehrgeizig. Viele arbeiten jetzt schon darauf hin, mal im Ausland studieren zu können.“

Die Qualität der Ausbildungen in Moldawien ist in vielen Bereichen mangelhaft. Darum haben die Salesianer 2015 eine moderne Berufsschule eröffnet. Die Werkstatt für die Schweißer ist die neueste Errungenschaft. An einem der Arbeitstische steht Constantin, ein hochgewachsener 17-Jähriger, der gerade die zweimonatige Ausbildung macht. Constantin hat das volle Elend eines Sozialwaisen erlebt: Er war drei, als seine Mutter ins Ausland ging - vier, als sein Vater sich scheiden und die Kinder alleine im Haus ließ. Constantins große Schwester übernahm die Verantwortung. Sie war damals fünf.

Wenn Constantin nach seiner Kindheit befragt wird, erzählt er nur stockend. Er schaut auf seine Hände, die er wie Knetmasse bearbeitet. „Das war eben so“, antwortet er auf die Frage, wie zwei kleine Kinder ohne Eltern auskommen konnten. In seinem Fall kam tagsüber eine Tante vorbei und kümmerte sich. „Sie hat uns wie eine Mutter behandelt“, sagt Constantin. Als die Kinder zehn und elf waren, warf der Vater sie aus dem Haus. Seither leben sie bei der Oma.

Schicksale wie das von Constantin sind in Moldawien kein Einzelfall. „Ich sehe jede Woche mindestens fünf schwere Fälle, in denen den Kindern entweder Gewalt zugestoßen ist oder sie allein gelassen wurden“, sagt Otilia Sirbu, Direktorin der Caritas Moldawien. „Und auf dem Land ist es noch schlimmer als in der Hauptstadt.“ In den meisten Dörfern fehlt der Anschluss an das Wasser- und Abwassersystem, Straßen und Wege sind oft unbefestigt. Zahlreiche Dörfer sind verwaist.

„Es kann nicht die Lösung sein, dass alle weggehen und das Land einfach verkommt“, sagt Tania Palaiciuc, eine engagierte junge Frau mit rot lackierten Fingernägeln und einer grauen Lederjacke. Die 24-Jährige leitet seit anderthalb Jahren das Familienhaus bei Don Bosco und ist in dem Viertel aufgewachsen. Von den 24 Klassenkameraden aus Gymnasialzeit sind neben ihr noch sieben im Land geblieben, die anderen sind in Italien, Rumänien oder Russland. Tania wollte immer bleiben. Sie machte eine Ausbildung als Buchhalterin und studierte dann Sozialpädagogik, um in ihrem Land etwas zu verändern. „Wir müssen den Menschen hier eine Chance bieten“, sagt sie. „Sonst gibt es hier eines Tages nur noch alte Menschen und Straßenkinder.“

((Constantin hat seine Chance ergriffen. Wenn er mit der Ausbildung fertig ist, will er nach Italien zu seiner Mutter. Sie hat sich schon um einen Job für Constantin gekümmert. Doch der soll nur temporär sein. „Meine Mutter baut in unserem Dorf ein Haus. Und wenn das fertig ist, kommen wir zurück“, sagt der junge Mann, der im Ausland Berufserfahrung sammeln und eines Tages in Moldawien eine Schweißerei eröffnen will. „Ich glaube, dass es schwer ist, das Land zu ändern, aber ich will es versuchen. Zuhause ist es immer am besten.“) 537 Zeichen)

Viele Arbeitsmigranten haben den Plan, nach ein paar Jahren in die Heimat zurückzukehren und investieren ihr Geld in ein Haus. Doch nach der Rückkehr ist die Situation oft genauso schwierig wie vorher. Die Menschen haben zwar im Ausland Berufserfahrung gesammelt, aber immer noch kein Diplom oder Zertifikat, um in Moldawien einen besseren Job zu bekommen. Also müssen die Heimkehrer weiterhin schwarz oder unterqualifiziert arbeiten. Dann gehen sie wieder ins Ausland, nehmen vielleicht diesmal die Kinder mit und lassen ihre neuen Häuser zurück. Im Viertel rund um das Don Bosco Zentrum gibt es einige leerstehende Neubauten.

Auch Natalia investiert in ihr Elternhaus. Das Haus ist von außen frisch gestrichen, gerade wurden die beiden Kinderzimmer renoviert. Die Familie möchte Ana und Mihail ein besseres Leben ermöglichen als es die Eltern und Großeltern haben. „Ich hoffe, dass die Kinder einmal hier in Moldawien studieren und arbeiten können“, sagt Oma Kati. Sicherheitshalber sollen die Kinder aber auch mehrere Sprachen lernen. Mihail hat schon Russisch, Englisch und Französisch in der Schule, Ana Französisch und ab dem nächsten Schuljahr Englisch. Die beiden haben auch schon Berufswünsche: Mihail möchte Polizist werden, Ana Lehrerin.

Von Simone Utler 

 

 Hinweis: Der Artikel erschien im Magazin von Don Bosco 2016, ist bis heute aber aktuell.


Infokasten Don Bosco in Moldawien:

Die Salesianer sind seit 2005 in Moldawien tätig und starteten ein Jahr später das Oratorio. 2011 gründeten sie auf dem Gelände ein Familienhaus, in dem zehn Kinder zur Pflege leben. Die Eltern sind entweder gestorben oder nicht in der Lage, sich angemessen um die Kinder zu kümmern. Im Familienhaus erhalten sie eine ausgewogene Ernährung, psychologische Betreuung und eine Erziehung, die Werte in den Mittelpunkt stellt.

Seit Herbst 2015 gibt es auf dem Gelände eine staatlich anerkannte Berufsschule, in der Schneiderinnen und Schweißer ausgebildet werden. Zirka 50 bis 60 junge Menschen haben die fünf- bzw. zweimonatige Ausbildung bereits absolviert. In Zukunft sollen auch Elektriker und Installateure ausgebildet werden. Außerdem planen die Salesianer Schweißerkurse für Jugendgefängnisse.

In den großen Ferien veranstalten die Salesianer in Chisinau oder Dörfern der Umgebung Sommercamps. Für besonders arme Menschen sammeln sie Kleidung, Schuhe, Brillen, Lebensmittel oder Reinigungsmittel, die einmal pro Woche im Don Bosco Zentrum abgeholt geholt werden können. Manchmal besuchen die Väter besonders bedürftige Menschen auf dem Land.