Titelthema
Mehr Realismus, weniger Ideologie

Die neue Regierung steht vor gewaltigen Herausforderungen. Die Zeitenwende erfordert einen Politikwechsel. Es geht um Deutschlands Zukunft
Die Bilanz des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts fällt ernüchternd aus. Kriege und Krisen prägen das Bild, wie ein Rückblick im Zeitraffer zeigt. Der Optimismus der 1990er Jahre mit dem vermeintlichen „Ende der Geschichte“ (Fukuyama), Frieden, Freiheit und Wohlstand für alle dank Globalisierung, Europäisierung und Informatisierung (heute: Digitalisierung) der Welt kam rasch zum Erliegen. Deutschland, das sich in einer „Welt von Freunden“ wähnte, wurde von einer neuen geopolitischen Konstellation, der „Zeitenwende“, überrascht: „9/11“ zog 2001 den Krieg gegen den Terror mit dem Einmarsch in Afghanistan und 2003 im Irak nach sich. Al-Kaida-Chef Osama bin Laden und Diktator Saddam Hussein wurden getötet, doch der Islamismus sollte bis zum heutigen Tag die Welt erschüttern.

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Die ständige Erweiterung von EU und Nato nach Osteuropa, immerhin wurden zwischen 1990 und 2020 14 osteuropäische Staaten neue Bündnismitglieder, hat der seit 2000 amtierende russische Präsident Putin zum Anlass genommen, kurz nach den Olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 die Krim zu besetzen, um am 24. Februar 2022 endgültig die Ukraine zu überfallen. Seither ist der Krieg bis an die Ostgrenze Europas zurückgekehrt und löst hektische Bemühungen aus, wieder „kriegstüchtig“ zu werden.
Einfach zu viele
Das 21. Jahrhundert beginnt im Nahen Osten mit der Zweiten Intifada, findet seine Fortsetzung im Gaza-Krieg 2014, um dann nach langjähriger Vorbereitung durch den Iran, die Hisbollah und die Hamas am 7. Oktober 2023, am frühen Morgen des 50. Jahrestages des Jom-Kippur-Krieges von 1973, in einem beispiellosen Terrorakt der Hamas zu explodieren. Israel kämpft in der Folge gegen Hamas, Hisbollah, indirekt auch gegen den Iran. Für Unruhe im Nahen Osten hatte ohnehin der Arabische Frühling gesorgt, der 2010 in Tunesien einsetzte, um dann auf Ägypten, den Jemen, Libyen und Syrien auszustrahlen. Im Bürgerkrieg in Syrien wird der IS von der Internationalen Allianz gegen den Islamischen Staat besiegt, nur um nach dem Rückzug der Allianz das diktatorische Assad-Regime durch tatkräftige Unterstützung Russlands zu stabilisieren. Erst Ende 2024 konnte es durch eine islamistische Rebellenorganisation hinweggefegt werden.
Die neuen Kriege haben große Migrationen ausgelöst, wobei sich der Hauptstrom in Europa auf Deutschland gerichtet hat. Seit 2015 hat unser Land die meisten Migranten und Flüchtlinge aufgenommen, sodass sich der Ausländeranteil an der Bevölkerung von sieben bis acht Millionen in den 1990er Jahren auf 15 Millionen heute verdoppelt hat. Das ist eine große Solidaritätsleistung, zumal diese Menschen bereits zu über 60 Prozent das hiesige Bürgergeld in Anspruch nehmen. Trotz aller Gastrechte sind Fremde von Einheimischen niemals so großzügig versorgt worden wie hierzulande. Freilich wollen so viele Menschen behaust, beschult, gesundheitlich versorgt und sozial integriert werden, was problematische Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt, im Bildungssystem, im Gesundheitssystem und beim friedlichen Zusammenleben mit so vielen Fremden nach sich gezogen hat. Nur: Eine noch so gute Versorgung garantiert kein friedliches Zusammenleben. Schließlich kommen diese Menschen aus Kriegs- und Gewaltkulturen und legen ihren kulturellen Habitus an der europäischen Grenze nicht einfach ab. Eine islamistische Blutspur zieht sich durch Deutschland: von Frankfurt (2011) über Berlin (2015) bis jüngst in Mannheim, Magdeburg, Solingen, München (2024), Aschaffenburg und wieder München (2025). Die Migrationskrise gilt deshalb als das größte Problem in Deutschland, zumal der Zustrom irregulärer Einwanderung nicht abreißt. Jedes Jahr 250.000 Asylanträge (wie 2024) hieße Städte wie Aachen, Chemnitz, Kiel oder Freiburg aufzunehmen, oder, um es drastisch auszudrücken, zehnmal Schleswig. Das kann man in der kleinen BRD nicht endlos fortsetzen.
Vom Traum zum Trauma
Aber nicht genug der Krisen. 2008 erlebte die Welt dank amerikanischer Immobilienspekulation ihre größte Finanzkrise. Rettungsaktionen der Staaten, also der Steuerzahler, mussten das globale Finanzsystem retten. 2010 folgte die Schuldenkrise in Griechenland auf dem Fuße, die veritable Rettungspakete auslöste, um die Eurokrise zu managen. „Scheitert der Euro, scheitert Europa“, ließ Angela Merkel verlauten. Diese Finanzkrisen haben die Staatsverschuldung europäischer Länder erheblich ansteigen lassen, während sie die Vermögen der reichen Leute in Europa enorm in die Höhe schießen ließen. 2020 löste dann ein Virus aus China die größte Epidemie weltweit aus, in deren Gefolge in den ersten zwei Jahren mehr als 13 Millionen Menschen weltweit und in Deutschland mehr als 100.000 Menschen starben.
Neue Kriege, Migrations-, Finanz-, Euro- und Gesundheitskrisen fanden vor dem Hintergrund der wohl größten Herausforderung für die Menschheit statt: der Klimakrise. Obwohl bereits der Club of Rome 1972 vor den Folgen unseres Wirtschafts-, Energie- und Lebensführungsmodells gewarnt hatte, setzte erst im neuen Jahrtausend ein globales Bewusstsein dafür ein, dass es fünf vor zwölf ist. „Fridays for Future“, „Die letzte Generation“, „Ende-Gelände“ sind soziale Bewegungen, die eine sofortige grüne Transformation lautstark angemahnt haben. Angesichts der existenziellen Ausscheidungskämpfe im 21. Jahrhundert – USA gegen China, Europa gegen Russland – stehen die Zeichen für einen Pfadwechsel auf eine grüne Transformation nicht gerade günstig. Obwohl Deutschland alles versuchte – wenn auch auf ökonomisch dilettantische Weise –, nicht nur „Moralweltmeister“ (Göring-Eckhardt) zu werden, sondern auch den „green world record“ der Industrienationen zu erringen – und sei es um den Preis der Fortexistenz als Industrienation. Schrumpfende Wirtschaft, kein Wachstum, kurz: „degrowth“, die komplette Umstellung auf nicht fossile Energieträger wie Wind und Sonne trotz Dunkelflauten, hyperteure Energie – alles das hatte die grüne Ideologie schon seit Langem erträumt. Aber vom Traum zum Trauma ist es oft nur ein kleiner Schritt. Jetzt ist er harte Realität geworden, mit fatalen Folgen.
Ewige Selbstanklage
Angesichts dieses multiplen Krisenszenarios muss man konstatieren: Das war wohl fast zu viel Geschichte auf einmal im 21. Jahrhundert, und es scheint alle, nationale Regierungen und die EU, chronisch überfordert zu haben. Was macht das mit Deutschland? Die „German Angst“ ist zurück, also die große Sorge, dass alles das, was sich dieses Land mit der Wirtschaft des Made in Germany, der harten Arbeit der Nachkriegsgenerationen und der Demokratie aufgebaut hat, also Frieden, Freiheit und Wohlstand, in Gefahr ist, durch Krieg, Gewalt und wirtschaftlichen Abstieg wieder zerstört zu werden. Deshalb Deutschland als Friedenstaube, deshalb Pazifismus und Entmilitarisierung, deshalb Wandel durch Handel und deshalb die nicht nur werte-, sondern auch finanzbasierte Außenpolitik. Wo es gebraucht wird, geben wir gern und viel. Das gilt für Freunde wie für Feinde. Selbst die Taliban, vor deren Regime die Bundeswehr Hals über Kopf fliehen musste, hat bereits eine Milliarde Euro von Deutschland erhalten, obwohl sie ihre Landsleute nur ungern zurücknehmen. Diese ängstliche Sorge um sich selbst äußert sich nach innen mit fortwährender Selbstanklage aller möglichen historischen Quellen von deutscher Schuld. Nur: Während wir mit Identitätspolitik, Diversität und Postkolonialismus beschäftigt sind, erleben wir mit dem Aufstieg von Autokratien die Rückkehr von Eroberungskriegen: Putin möchte die Sowjetunion wiederhaben, China bis spätestens 2049 Taiwan, Amerika will sich Kanada als 51. Staat der USA, den Panamakanal und Grönland einverleiben, wenn nicht kaufen, dann eben besetzen. Im Inneren Deutschlands übersetzt sich dieser äußere geopolitische Konstellationswandel in politische und soziale Spaltungen. Was die radikalen Ränder von Linken, BSW und AfD kontradiktorisch eint, ist ihre Nähe zu Russland und die Ablehnung der Unterstützung der Ukraine. Der Wunsch nach Frieden nimmt auch die Unterwerfung der Ukraine in das russische Weltreich in Kauf.
Anpacken statt zögern!
Die demokratische Mitte durchschaut den imperialen Eroberungsplan Russlands und versucht das Völkerrecht gegen die autokratischen Anfechtungen zu verteidigen. Zugleich aber sind sie untereinander zerstritten. Konservative und Liberale wollen die irreguläre Migration stoppen, um so etwas wie Recht und Ordnung wiederherzustellen. Gleichzeitig möchten sie mit der AfD, Stichwort Brandmauer, nichts zu tun haben. Sozialdemokraten und Grüne wollen im Grunde genommen so weitermachen wie bisher. Das heißt, grüne Transformation um jeden Preis, und das Asylrecht als oberstes Menschen- gleich Bürgerrecht gilt als sakrosankt, symbolisiert es doch sinnfällig das „Nie wieder“. Was das mit der deutschen Wirtschaft und dem Mittelstand, ja den hart arbeitenden Menschen hierzulande machen wird, scheint erst in zweiter Hinsicht eine Rolle zu spielen. Kein Wunder, dass der „Wirtschaftswarntag“ der Unternehmer verzweifelt eine Wirtschaftswende fordert, um Deutschlands Zukunft nicht zu verspielen. Die Zeitenwende verlangt einen Politikwechsel, denn dieses Land hat seit Langem über seine Verhältnisse gelebt, ohne Investitionen in die Zukunft. Die neue Bundesregierung wird vor harten Herausforderungen stehen: Senkung der Energiekosten, Abbau der Bürokratie, Investitionen statt Subventionen, Minderung der Steuer- und Abgabenlast, Wirtschaftswachstum statt Deindustrialisierung. Mehr Realismus, weniger Ideologie. Wer sagt denn, dass das im „Anno Santo“ 2025 nicht zu schaffen wäre? Deutschland hat im 20. Jahrhundert ganz andere Krisen gemeistert. Aber es bedarf eines starken politischen Willens, einer Vision für ein kraftvolles Deutschland in einem geeinten Europa. Folgen wir also Papst Franziskus’ Motto „Pilger der Hoffnung“ und Prinz Philips knorrigem Rat: „Get on with it.“

Hans-Peter Müller ist Professor em. für Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Heute arbeitet er als Autor, Kritiker und Moderator zu aktuellen Themen.
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