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"Kleiner werden und trotzdem leuchten"

Titelthema - "Kleiner werden und trotzdem leuchten"
Kirche in Amsterdam: Konzert der Popband Sister Sledge im ­Paradiso, einer ehemaligen Kirche in Amsterdam. Die ­Kirche wurde 1880 für die Freie ­Gemeinde erbaut. © C. Stadler/BWAG

Ein Gespräch mit Pfarrerin Susanne von Komorowski über die Umnutzung von Kirchen und die Bewältigung von Verlusterfahrungen

Daniel Deckers01.09.2025

Kurz nach der Jahrhundertwende veröffentlichte die katholische Deutsche Bischofskonferenz eine sogenannte Arbeitshilfe zum Thema Kirchenumwidmungen. Damals war der Umgang mit Kirchengebäuden, die aus welchen Gründen auch immer irgendwann aus der Nutzung herausfallen würden, allenfalls ein Thema für eine Handvoll Spezialisten. 22 Jahre später ist es in der Mitte der Gemeinden angekommen. Gab es in diesem Prozess einen Kipppunkt?

Mir ist vor vielen Jahren bei einem Besuch in Amsterdam aufgefallen, dass viele Kirchengebäude längst umgewidmet sind und für andere Zwecke wie Ausstellungen oder Konzerte genutzt werden. Da habe ich zum ersten Mal gedacht, oh ja, das könnte uns auch ereilen und vielleicht noch zu meiner Zeit als Pfarrerin hier in Mannheim.

Seit wann ist dieses Thema auch bei Ihnen vor Ort virulent?

Wie überall in der EKD ist auch hier in der Stadt Mannheim die Organisationsstruktur der Kirche im Umbruch. Anstelle selbstständiger Parochien gibt es jetzt Kooperationsräume. Für sie gibt es multiprofessionelle Teams, in denen sich die Hauptamtlichen die Arbeitsbereiche aufteilen und nicht mehr so sehr das Gesicht vor Ort sind. In diesem Reformprozess haben wir festgestellt, dass es in Mannheim zu viele Kirchengebäude auf einer zu kleinen Fläche gibt.

Wenn die Hauptamtlichen sich vom Leben vor Ort verabschieden, dann muss das doch nicht gleich auch für die Gemeindemitglieder gelten, oder?

2025, Susanne von Komorowski, pastorin, kirche
Sie ist seit 15 Jahren Gemeindepfarrerin in Mannheim und Fan des Mottos ihrer badischen Landeskirche: „Kleiner werden, trotzdem leuchten!“ In der multikulturellen Großstadtsituation und im aktuellen Prozess der Gebäudeoptimierung sieht sie eine Chance, gemeinsam mit anderen Neuaufbrüche zu gestalten, von der Gottesdienstkultur bis zum Miteinander im Quartier. © NHS Fotodesign

Es gab in Mannheim bis vor wenigen Jahren 32 evangelische Kirchengebäude. Davon sind schon einige aufgegeben worden – die Mitgliederzahlen gehen zurück. Derzeit gibt es 20 Gemeinden, zukünftig nur noch sieben. Damit das notwendige Kleinerwerden strukturiert vonstattengeht und unsere Kirche zukunftsfähig bleibt, hat sich aber noch mehr geändert.

Was ist jetzt anders? 

Bis vor wenigen Jahren mussten die Gemeinden nicht selbst Rücklagen für den Unterhalt ihrer Kirchen bilden. Das sollte sich ab 2022 ändern. Sinkende Kirchensteuereinnahmen zwingen jetzt in der gesamten Landeskirche dazu, Prioritäten zu setzen. Im Blick auf dieses Datum standen die Leitungsgremien, die Stadtsynode und der Stadtkirchenrat, in denen nicht die Hauptamtlichen die Mehrheit haben, sondern die Repräsentanten der Gemeinden, vor der Frage, was mit den restlichen 9,4 Millionen Euro Baugeld gemacht werden sollte. Anstatt das Geld nach dem Gießkannenprinzip auf die vorhandenen Gebäude zu verteilen, hat man sich kurz vor dem Beginn der Coronapandemie für ein Bau-Moratorium entschieden. Seitdem überlegen wir, wie viele und welche Kirchengebäude wir behalten wollen und können. Das war, wenn Sie so wollen, der Kipppunkt.

Gibt es mittlerweile Ergebnisse?

Alle sieben Regionen haben in den vergangenen Jahren Gebäudekonzepte erstellt, über die im Stadtkirchenrat am Ende gemeinsam abgestimmt wurde. Demnach wird es in Zukunft zwölf Kirchorte geben, die sogenannten A-Kirchen. Alle anderen Gebäude wurden auf B oder C gesetzt, das heißt, es gibt entweder noch Geld füreinen geringfügigen Bauunterhalt oder aber nur noch Sicherungsmaßnahmen. Für mehr werden die Einnahmen aus der Kirchensteuer nicht mehr reichen. 

Nach welchen Kriterien wurden die Kirchengebäude in diese drei Kategorien eingeteilt?

Ein verbindliches Raster dafür gibt es nicht. Der Prozess ist aber gerade nicht von oben nach unten verlaufen, sondern von unten nach oben. Die Finanzierbarkeit ist für uns immer das erste Kriterium gewesen. Danach kommt Nachhaltigkeit. Wird die Kirche nur für Gottesdienste geheizt, zu denen immer weniger Menschen kommen, oder ist sie wirklich ein Ort spiritueller und liturgischer Resonanz, der es als Raum Menschen möglich macht, religiöse Erfahrungen zu machen und den Glauben zu feiern? Wie wichtig ist das Kirchen­ge­bäu­de aber auch als Ort für Ver­an­stal­tun­gen? Das hat viel mit der Lage zu tun. Ist die Kirche gut erreichbar oder sogar unersetzbar, weil sie mit ihren angrenzenden Gebäuden vielleicht auch für andere Akteure im Stadtteil eine Rolle spielt? Wir haben also auch die sozialräumliche Dimension im Blick – und die ökumenische. 

Die ökumenische?

Nach seriösen Prognosen werden mittelfristig 30 bis 50 Prozent der Kirchengebäude für liturgische Zwecke nicht mehr benötigt. Das gilt für die evangelische Kirche wie die katholische gleichermaßen. Auch das muss bei Entscheidungen in den einzelnen Regionen mitbedacht werden.

Die sozialräumliche Bedeutung von Kirchengebäuden ist auch den Autoren des "Kirchenmanifestes" aufgefallen, das im vergangenen Jahr Furore machte. Sie haben Kirchen "Vierte Orte" genannt, weil sie durch ihre Architektur Identität im Stadtraum stiften und Menschen einen Raum für Austausch, Spiritualität sowie Einkehr bereitstellen. Damit sind sie mehr als Treffpunkte, sondern erzeugen mit ihrer Atmosphäre und emotionalen Qualität über "Dritte Orte" hinaus etwas Neues. Deckt sich diese Zuschreibung mit Ihren Erfahrungen?

Ich war sehr dankbar, dass sich auch Menschen über die Zukunft der Kirchengebäude Gedanken machen, die der Kirche nicht immer direkt auch persönlich verbunden sind, sondern als Kunsthistoriker oder Denkmalschützer einen professionellen Blick von außen haben und sagen, die Kirchengebäude gehören nicht allein den Kirchen, sondern sie sind auch Kulturdenkmäler. Aber bei einer Stadtverwaltung wie der in Mannheim stoßen wir mit der Bitte um Unterstützung für ein Zentrum gegen Einsamkeit nicht automatisch auf offene Ohren, das muss dann schon in einem prekären Stadtteil liegen. Zugleich sind wir schon längst Kirche im Quartier und öffnen unsere Räume.

Wie das?

Ich bin ja auch Gottesdienstberaterin, da ist auch Kirchenraumberatung dabei – wir schauen gemeinsam mit den Gemeinden nach Möglichkeiten multifunktionaler Nutzung. So gibt es schon lange Yoga-Kurse in einer Kirche oder einen Kindergarten für Mütter mit Kindern, die aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen sind. Wir haben auch Stifter und Förderer – und trotzdem wird es nicht reichen. Wir können die Kirchengebäude nicht alle erhalten. Immer mehr gutverdienende Kirchenmitglieder gehen in Rente, ohne dass jüngere nachwachsen. Und nach wie vor treten Leute in Scharen aus der Kirche aus, die in der Lage wären, zum Erhalt von Kirchengebäuden beizutragen. Einige davon engagieren sich aber lokal, etwa für eine gute Kirchenmusik, oder unterstützen die Chorarbeit. Deshalb haben wir viele lokale Projekte und auch kleinere Stiftungen, die zu Zustiftungen einladen. Das machen nicht nur Kirchenmitglieder.

Vielen Menschen, auch kirchenfernen, geht es trotz allem nahe, wenn eine Kirche umgewidmet oder gar abgerissen wird. Können Sie das verstehen?

Ein Abriss ist immer die Ultima Ratio, aber etwa dann unvermeidbar, wenn die Bausubstanz nicht mehr zu retten ist. Ansonsten ist es unser Ziel, wenigstens eine Mischnutzung anzustreben, also dass ein Raum für Gottesdienste oder andere Aktivitäten der Gemeinde erhalten bleibt, auch für soziale. Aber bei Kirchengebäuden müssen wir wegen deren spiritueller Bedeutung für die Menschen noch mal eine ganz andere Form von Achtsamkeit an den Tag legen, als wenn es darum geht, einen Kindergarten aufzugeben, der baufällig ist. 

Ist Ihnen die Bibel bei der Suche nach guten Lösungen eine Hilfe?

Als Theologin muss ich sagen, dass es nicht die Haltung eines Christen sein kann, an vertrauten Orten zu hängen. Der Prophet Jesaja sagte den Juden, die im babylonischen Exil lebten: "Sucht der Stadt Bestes!" Jesus ist auch nicht im Tempel sitzen geblieben. Menschen, die den Verlust eines Ortes betrauern, versuche ich immer wieder zu sagen: Es gibt so vieles, was wir als Christinnen und Christen tun können, das kein Geld kostet. Wir brauchen gar nicht für alles Geld. Und wir brauchen vor allem gar nicht so viele Räume. Das haben wir während der Coronapandemie gemerkt, wo wir viel draußen gefeiert haben. Und es gibt hier schon Seelsorge-Veranstaltungsreihen in einem Café. Ich denke, wir leben in Zeit und Raum, und wenn wir die Räume nicht mehr haben, dann müssen wir Zeiten schaffen. Auch damit haben wir schon ganz gute Erfahrungen gemacht. Seit dem 7. Oktober 2023 etwa treffen wir uns regelmäßig an ganz unterschiedlichen Orten zu einem Friedensgebet. Da spielt nicht der Ort die Rolle, sondern die Zeit. Das Wichtige ist, dass die gleich bleibt. Das funktioniert. Da ereignet sich Kirche.

Das Gespräch führte Daniel Deckers.

Daniel Deckers

Daniel Deckers ist verantwortlicher Redakteur in der Politik der „FAZ“ und lehrt Geschichte des Weinbaus und Weinhandels an der Hochschule Geisenheim University.