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Titelthema

Die ewige Melodie des Weinbaus

Titelthema - Die ewige Melodie des Weinbaus
Weintrauben // Feigen © Lynn Karlin

Die Frucht des Weinstocks ist in erster Linie kein Produkt der Natur, sondern harter menschlicher Arbeit.

Daniel Deckers01.10.2023

Der August war noch nicht zu Ende, als aus der Pfalz die ersten Nachrichten eintrafen, die Lese habe begonnen. Für sich genommen musste das nichts Schlechtes bedeuteten, hat der gärende Most als „Federweißer“, „Rauscher“, „Viez“ oder „Sturm“ längst auch jenseits der Weinanbauregionen einen großen Freundeskreis. Dann aber, der September war nicht einmal zehn Tage alt, kamen die Meldungen über den Beginn der Lese aus dem Rheingau, der geschichtsträchtigen Herzkammer des deutschen Rieslings. Auch das musste für sich genommen keine schlechte Nachricht sein, hieß es doch, man widme sich frühreifen Sorten und dem Riesling nur dort, wo es Sektgrundwein geben sollte. In der Tat darf der in Grad Oechsle gemessene Mostzucker für Schaumwein nicht so hoch sein wie für Stillwein, während die Säurewerte deutlich höher sind, als es sich für einen trockenen Riesling von Weltrang gehört.

Doch auch die Hauptlese ließ im Herbst 2023 nicht mehr lange auf sich warten – und selbst wenn die Trauben bis zuletzt gesund bleiben, dürfte sie fast überall bis Mitte Oktober zu Ende gehen. Dann könnten die Winzer fast noch zusammen mit allen anderen Bauern Erntedank feiern. Doch wie es die Tradition will, versammelt sich im Rheingau alles, was im Weinbau Rang und Namen hat, erst zu Beginn der Adventszeit in der Basilika der vormaligen Zisterzienserabtei Eberbach, um in einer ökumenischen Andacht das alte Jahr Revue passieren zu lassen und für den neuen Wein zu danken.

Erinnerungen an schlechte Ernten

Auch in Franken geht es noch immer zu wie zu Zeiten, in denen die Lese im Oktober begann und im November abgeschlossen wurde. Dort, in der Heimat des oft unterschätzten Silvaners, ist es nicht nur guter Brauch, die Lese mit einem Traubensegen zu eröffnen. Beschlossen wird das Weinjahr mit einer Feier, deren einprägsamer Name auf eine weitere Dimension der Arbeit der Weinbauern verweist: In dem „Niederfall“, wie der aus exquisiten Weinen und einem zünftigen Mahl bestehende Ritus der Mitglieder des Verbands der Prädikatsweingüter (VDP) und deren Weggefährten heißt, kommt nicht nur der Dank für den Erntesegen zum Ausdruck. Der Name soll auch für die Demut des Menschen stehen angesichts dessen, was im Gabengebet der katholischen Eucharistiefeier etwas poetisch als die „Frucht des Weinstocks“ bezeichnet wird.

Doch was ist noch authentisch an einem Niederfall, der sich zeitlich so weit aus dem Kontext einer Weinlese gelöst hat, die aufgrund des Klimawandels so früh beginnt, dass Mitte November nicht mehr die letzten Trauben auf die Kelter kommen, sondern die ersten Chargen des neuen Jahrgangs die Abfüllanlagen verlassen? Und sind Versammlungen rings um ähren-, trauben- und blumengeschmückte Altäre nicht nur noch pittoreske Folklore, wenn immer weniger Teilnehmer noch Mitglied einer Kirche sind und immer mehr selbst die christlichen Grundgebete wie das Vaterunser mühsam vom Blatt ablesen müssen?

Diese Fragen so zu stellen heißt, sie durch sich selbst zu beantworten. Mag der Klimawandel mit seinen höheren Durchschnittstemperaturen den Winzern gerade in den nördlichen Breiten das Leben vielerorts leichter machen, so lebt in Traditionen wie dem Erntedank die Erinnerung an Zeiten weiter, in denen das Hoffen auf einen guten Herbst oft vergebens war, weil Spätfröste im Mai die Knospen hatten erfrieren lassen oder die Trauben nach einem kühlen Sommer und einem verregneten Herbst nicht reif geworden waren.

Mit der Natur, gegen die Natur

Und selbst wenn die Erinnerung an die bittereren Nöte der Väter- und der Großvätergeneration allmählich verblasst, so beschert der Klimawandel neue Sorgen anstelle der alten: Extremwetterereignisse wie Starkregen und Hagel, aber auch wochenlange Trockenphasen können das Pflanzenwachstum mindestens so sehr beeinträchtigen wie eine schlechte Blüte und ein nasser und kühler Herbst. Denn gleich wie man die Sache dreht und wendet, wie kaum eine andere Pflanze ist die Edle Weinrebe („Vitisvinifera“ subsp. „vinifera“) im Verlauf ihrer langen Vegetationsperiode so vielen Widrigkeiten ausgesetzt, dass es allen Fortschritten der Technik und allen Erkenntnissen der Önologie zum Trotz jedes Jahr aufs Neue ein kleines Wunder ist, wenn im Herbst der frische Most von der Kelter läuft und wie von Geisterhand innerhalb von wenigen Wochen, manchmal auch Monaten, zu Wein wird.

Doch was heißt kleines Wunder? Das eigentliche Wunder besteht darin, dass es nicht allein in unseren Breiten, sondern in der Welt überhaupt noch Weinbau gibt. Auch wenn die Feststellung so kontraintuitiv ist wie kaum eine andere: Wein ist eben kein Naturprodukt. Wäre dem so, stünde es um die „Frucht des Weinstocks“ schlecht. Denn die „Natur“ der Rebe besteht darin, sich wie alle anderen Pflanzen des Lebensformtyps der Lianengewächse an allem hochzuranken, was sich anbietet. Die „Natur“ der beerenartigen Früchte wiederum ist es, von Vögeln gefressen zu werden. Ohne „menschliche Arbeit“, wie es ebenfalls im Gabengebet heißt, kein Wein, nirgends.

Mit anderen Worten: Wein ist durch und durch ein Kulturprodukt – was auch erklärt, dass er in den beiden Paradieserzählungen des 1. Buchs Mose nicht vorkommt. Zwar liegt das biblische Paradies ausweislich des Vorkommens von Äpfeln in Breitengraden, in denen auch die Edle Weinrebe gedeihen würde. Wein aber setzt die Kultivierung der wilden Weinrebe voraus – was wiederum mit Sesshaftigkeit und Arbeit „im Schweiße des Angesichts“ verbunden ist. Paradiesische Zustände auf Erden, oder auch nur dionysische wie im klassischen Athen, sind damit aber noch nicht garantiert. Bei aller unbändigen Freude über den Wein „in Fülle“ schwebt über allen biblischen Erzählungen wie eine zeitlose Mahnung das Schicksal des ersten Winzers: Es ist Noah, der Held der Sintflut. Sein letztes, unglückbringendes Lebenszeichen ist ein Vollrausch.

Illusionen und Realität

Wenn aber das Sinnen und Trachten der Menschheit seit etwa 6000 Jahren darauf gerichtet ist, die Weinkultur zu perfektionieren, so ist auch die Vorstellung, dies geschehe per se „im Einklang“ mit der Natur, eine hoffnungslos naive. Ginge es nämlich nach der Natur, dann klaubten wir nicht nur mäßig intensiv schmeckende Trauben unter dem Laubdach von Bäumen hervor. Der Weinbau auf Basis der in Eurasien heimischen Edlen Weinrebe wäre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unwiderruflich zugrunde gegangen. Damals wurden im Zuge der Intensivierung des globalen Handelsverkehrs drei Schädlinge aus Nordamerika nach Europa eingeschleppt, denen die „vitis vinifera“ bis heute nichts entgegenzusetzen hat: die verniedlichend Reblaus genannte „Phylloxera vastatrix“ zerstört das Wurzelwerk der Rebe, der Echte Mehltau („Oidium tuckeri“) und der Falsche Mehltau („Plasmopara viticola“) befallen Blätter und zerstören Trauben bis zur Ungenießbarkeit. Ohne Pfropfrebenkultur auf Basis von Unterlagsreben, die ihrerseits in jahrzehntelanger Arbeit von Rebenzüchtern durch Kreuzungen aus amerikanischen und asiatischen Pflanzen entstanden sind, und ohne Pflanzenschutz genannte Schädlingsbekämpfung gibt’s keinen Wein.

Demut und Dankbarkeit

Dieses Wissen ist bitter, entlarvt es nicht nur „Naturwein“, sondern auch eine technikfreie „Weinkultur“ als romantische Illusionen. Der Natur und ihren Launen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein, und dies in jedem Jahr aufs Neue – dieses Lebensgefühl ist der „cantus firmus“ des Weinbaus seit Menschengedenken. Nirgends wird diese kollektive Erfahrung so intensiv zum Ausdruck gebracht wie in der Feier des Erntedanks im Weinbau. Nun ist die Natur, vor der der Mensch mal staunend, mal bewundernd, mal verzweifelt steht, nichts Statisches. So zerstörerisch sie sich erweisen kann, so sehr sendet sie über den Boden und die Pflanzen Signale, die der Mensch dechiffrieren kann, um sich die Kräfte der Natur zunutze zu machen, anstatt deren Grenzen durch Übernutzung zu überschreiten. Dass etwa das Grundwasser in vielen Weinbauregionen mit Nitrat belastet ist, liegt nicht am Weinbau als solchem, sondern daran, dass der Mensch über Jahrzehnte die Erträge durch den massiven Einsatz von Kunstdünger zu steigern versuchte. Und gleich, was man von Rudolf Steiner hält: Böden, die nach den Regeln der Biodynamie bearbeitet werden, bieten den Reben weitaus bessere Bedingungen als solche, die im Zusammenspiel von konventioneller Landwirtschaft und intensivem Maschineneinsatz mehr oder weniger tot sind.

Es liegt daher nicht nur an den Menschen, die Wein machen, ob sie sich von dem Wunder ergreifen lassen oder nicht, das in jedem Wein stecken kann. Die Weinliebhaber haben es in der Hand, durch bewusste Kaufentscheidungen die Arbeit der Winzer zu honorieren, die in der Verbindung mit der Natur Weinkultur in Vollendung leben. Zusammen haben sie jeden Herbst viele gute Gründe, um dankbar und demütig zu sein. So werden der Weinstock und der Wein nicht nur zum Medium einer Metamorphose des Menschen, sondern Metapher für die Ergriffenheit durch das, was die Menschen meinen, wenn sie Gott sagen.


Herbstgefühl

Fetter grüne, du Laub,
Am Rebengeländer
Hier mein Fenster herauf!
Gedrängter quellet,
Zwillingsbeeren, und reifet
Schneller und glänzend voller!
Euch brütet der Mutter Sonne
Scheideblick, euch umsäuselt
Des holden Himmels
Fruchtende Fülle;
Euch kühlet des Mondes
Freundlicher Zauberhauch,
Und euch bethauen, ach!
Aus diesen Augen
Der ewig belebenden Liebe
Vollschwellende Thränen.

Johann Wolfgang von Goethe

Daniel Deckers

Daniel Deckers ist verantwortlicher Redakteur in der Politik der „FAZ“ und lehrt Geschichte des Weinbaus und Weinhandels an der Hochschule Geisenheim University.



 

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