Man schrieb das Jahr 1522. Die abendländische Christenheit war in Aufruhr wie seit Jahrhunderten nicht. Die beiden katholischen Führungsmächte Frankreich und Habsburg-Spanien kämpften erbittert um die Vormachtstellung im Westen des Kontinents. Vom Osten her drohte eine Invasion der muslimischen Türken, und nun auch noch das: Gut vierhundertfünfzig Jahre nach dem Bruch zwischen der lateinischen Kirche des Westens und der orthodoxen Kirche des Ostens drohte nun auch der römisch-katholischen Kirche die Spaltung. Zwar hatte Martin Luther, der wortgewaltige Mönch aus Wittenberg, in Wittenberg schon seine liebe Not damit, die schwärmerischen Geister zu vertreiben, die sich von ihm gerufen glaubten. Doch der Reformfunke, den der mittlerweile exkommunizierte Augustinermönch Ende Oktober 1517 mit seinen Thesen über den Ablass entzündet hatte, war längst auf so viele Orte übergesprungen, dass er nicht mehr unter Kontrolle zu bringen war. Überall im Reich hatten Bauernhaufen und Humanisten, Fürsten und Reichsstädte Gefallen an der Vorstellung gefunden, im Namen der Freiheit eines Christenmenschen allerlei geistliche und weltliche Herrschaft abzuwerfen.
Schuldbekenntnis eines Papstes
Doch nun das: „Wir wissen, dass es an diesem Heiligen Stuhl schon seit einigen Jahren viele gräuliche Missbräuche in geistlichen Dingen und Exzesse gegen die göttlichen Gebote gegeben hat, ja dass eigentlich alles pervertiert worden ist. So ist es kein Wunder, wenn sich die Krankheit vom Haupt auf die Glieder, das heißt von den Päpsten auf die unteren Kirchenführer, ausgebreitet hat. Wir alle – hohe Prälaten und einfache Kleriker – sind abgewichen, ein jeder sah nur seinen eigenen Weg, und da ist schon lange keiner mehr, der Gutes tut auch nicht einer.“ Das Schuldbekenntnis, das der seit wenigen Monaten amtierende Papst Hadrian VI. im November 1522 auf dem Reichstag zu Nürnberg vortragen ließ, war eine Sensation. Niemals zuvor hatte ein Papst mit solch eindringlichen Worten die Verantwortung für die Missstände übernommen, die seit Jahrhunderten immer neue Kritiker der Papstkirche auf den Plan gerufen hatten.
Ob die Spaltung doch noch abgewendet werden könnte und es „nur“ zu einer Reform der Kirche kommen würde, wie sie auch Luther augenscheinlich anstrebte? Papst Hadrian, ein hochgebildeter Theologe und eine Zeitlang Erzieher des späteren Kaisers Karl V., gelobte, seinen Worten umgehend Taten folgen zu lassen. Die Teilnehmer des Reichstags dürften ihren Ohren kaum getraut haben, als Hadrians Gesandter ihnen versicherte, „… dass wir jede Anstrengung unternehmen werden, dass als erstes diese Kurie, von der das ganze Übel ausgegangen ist, reformiert wird, damit sie in gleicher Weise wie sie zum Verderben der Untergebenen Anlass geboten hat, nun auch ihre Genesung und Reform bewirkt. Dazu fühlen Wir Uns umso mehr verpflichtet, als Wir sehen, dass die ganze Welt eine solche Reform sehnlichst begehret.“
Die Hoffnung währte nicht lange. Zehn Monate nach dem Nürnberger Reichstag von 1522 später war Papst Hadrian VI. tot – verstorben nach einem Pontifikat von nicht einmal zwei Jahren. Unter seinem Nachfolger, dem Medici-Papst Clemens II., wurde Rom mehr denn je in den Strudel der innerkatholischen Machtkämpfe hineingezogen. Von Kurienreform keine Rede, Rom wurde von französischen Truppen geplündert, die Reformation nahm ihren Lauf.
All diese Vorkommnisse und noch viele mehr wollen in diesem Jahr in zahllosen Ausstellungen, Vorträgen und Darbietungen wieder lebendig werden. Schließlich gilt der 31. Oktober schon seit dem Jahr 1617 als der Reformationstag schlechthin, am 31. Oktober 2017 aber jährt sich der Beginn der Reformation zum fünfhundertsten Mal. Eine solche Zäsur hat es in sich, nicht anders als die vermeintliche „Entdeckung“ Amerikas am 14. Oktober 1492, deren fünfhundertster Wiederkehr vor gerade einmal 25 Jahren ähnlich aufwendig gedacht wurde wie jetzt der Reformation. Beide Ereignisse haben dem Gang der Weltgeschichte für immer eine neue Richtung gegeben, und beide lagen gerade einmal ein Vierteljahrhundert auseinander.
Die richtigen Fragen stellen
Doch wie schon 1992, so droht auch 2017 über der Frage „Was geschah wann und wo?“ eine andere, mindestens ebenso wichtige Frage außer Acht gelassen zu werden: „Was hatte geschehen müssen, dass es so kam, wie es kommen sollte?“ Die Vorgeschichte der europäischen Expansion während des ausgehenden Mittelalters ist vergleichsweise schnell erzählt. Im 15. Jahrhundert hatte das Vordringen der Osmanen in Asien sowie im Mittelmeerraum die Handelsrouten weitgehend unpassierbar gemacht, auf denen Westeuropa seit der Antike mit Gewürzen und anderen Kostbarkeiten aus Asien versorgt wurde. Die Europäer machten sich daraufhin auf die Suche nach einem Seeweg, der sie nach Indien führen könnte. Die Portugiesen versuchten ihr Glück entlang der Westküste Afrikas, die Spanier nahmen den direkten Weg über den Atlantik. Als Kolumbus 1492 auf Inseln stieß, die von Menschen bewohnt waren, wähnte er sich in „las Indias“. Heute wissen war, dass er sich geirrt hatte.
Wie die Geschichte der Entdeckung und der nachfolgenden Eroberung Amerikas, so ist auch die Geschichte der Reformation voller Irrungen und Wirrungen – von deren Vorgeschichte gar nicht erst zu reden. Da wäre die fast hundertjährige babylonische Gefangenschaft der Päpste in Avignon während des 14. Jahrhunderts. Oder die Verbrennung von Jan Hus als Ketzer während des Konzils von Konstanz (1414–1418), das doch wie das nachfolgende, für das Jahr 1431 nach Basel einberufene Konzil endlich durchgreifenden Reformen den Weg bereiten sollte und es auch tatsächlich vermochte, das fast vierzig Jahre dauernde Abendländische Schisma zu beenden, auf dessen Höhepunkt gleich drei Männer die Papstwürde beanspruchten. Nicht zu vergessen auch die Serie der italienischen Renaissance-Päpste des 15. Jahrhunderts, unter deren Herrschaft Kunst und Kultur eine Blüte sondergleichen erlebten. Doch die päpstliche Prachtentfaltung wollte auch finanziert sein – der Ablasshandel ist nur eine von vielen Schattenseiten der doch so lichtvollen Renaissance.
Freilich geht die Papstgeschichte nicht in einer „chronique scandaleuse“ auf, erst recht ist sie nicht der rote Faden der immer wieder gerne in Anschlag gebrachten „Kriminalgeschichte des Christentums“. Gerade das mittelalterliche Papsttum kannte Reformen, ja bewirkte rückblickend sogar Revolutionen. So hätte es zwar „ohne den Papst keinen Luther“ gegeben. Ohne das Papsttum gäbe es aber auch Europa nicht – so ist es Konsens unter jenen Historikern, die über jeden Verdacht konfessionellen oder gar antikirchlichen Parteilichkeit erhaben sind.
Einzigartige Exponate
Wie es um dieses „schöpferische“ Papsttum von der Antike bis zum Vorabend der Reformation stand, davon kann sich bald aber auch jedermann selbst ein Bild machen – und nicht nur eines. Unter der wissenschaftlichen Leitung von Generaldirektor Professor Alfried Wieczorek und dem emeritierten Heidelberger Mediävist Professor Stefan Weinfurter widmen die Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen dieser ältesten Institution unter der Sonne eine derart umfassende Ausstellung, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat – und das bewusst im Reformationsjahr. Kostbare Handschriften, Urkunden, Gemälde oder auch Skulpturen, darunter einige Ausstellungsstücke, die den Vatikan noch nie verlassen haben, sollen eine Geschichte lebendig werden lassen, die tausend Jahre vor Luther begann und fünfhundert Jahre nach Luther noch lange nicht abgeschlossen ist.
Denn mochte die „Einheit der lateinischen Welt“ (wie es im Untertitel der Ausstellung heißt) in der Folge der Reformationen (!) des 16. Jahrhunderts unwiederbringlich zerbrechen, die kulturellen und politischen Prägungen Europas durch das Papsttum blieben weit über diese Epochenschwelle hinaus wirksam. Etwa so: Während die antike Welt verging, tradierte die Kirche von Rom zwei kulturelle Leistungen, die sich für die Entstehung dessen als entscheidend erweisen sollten, was wir heute Europa nennen: Das Imperium Romanum und das Römische Recht. Um das Jahr 500 herum war das Papsttum in der Theorie ausgebildet – aber schon damals so angelegt, dass der Dualismus geistlicher und weltlicher Herrschaft zur Grundlage der politischen Kultur des Abendlandes werden sollte.
Oder so: Während die Monarchien noch lange als persönliche Herrschaftsverbände organisiert wären, war die lateinische Kirche längst hierarchisch verfasst – zahlreiche Elemente moderner Staatlichkeit wie zentrale Verwaltung und gebildete Funktionseliten eingeschlossen. Nicht zu vergessen auch das: Mit dem römischen Recht vermittelte die Kirche auch die lateinische Sprache bis an die Grenzen Europas – die Grundlagen für eine einheitliche Rechtskultur sowie einheitliches Bildungswesen waren gelegt. Im Mittelalter entfaltete sich beides zu einer ersten Blüte, um nach der Reformation unter neuen, diesmal konfessionellen Vorzeichen zu den wesentlichen Triebkräften der Modernisierung Europas zu werden.
Und auch das: Die Papstkirche wandelte sich unterdessen von der „machtvollen Seniorpartnerin der werdenden Staatsgewalt zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert zur Juniorpartnerin der entwickelten Staatsgewalt“ (Wolfgang Reinhard).
Wege nach Rom – und Mannheim
Vorbereitet wurde die Ausstellung in vier wissenschaftlichen Tagungen, deren Ergebnisse zum Teil schon in Buchform vorliegen. Die Bände dokumentieren den neuesten Stand der Erforschung der Papstgeschichte von der Antike bis zur Reformation. Diese hat sich, wie Weinfurter berichtet, in den vergangenen Jahrzehnten von einem Stiefkind der Wissenschaft zu einem bedeutenden Forschungsfeld entwickelt – nicht zuletzt dank der Forschungen deutscher Wissenschaftler. Ob deren Arbeit im Vatikan nicht geschätzt wird oder ob es nur daran liegt, dass es in Rom an geeigneten Räumlichkeiten fehlt, wie Weinfurter versichert: Die ursprüngliche Absicht, die Papst-Ausstellung auch in Rom zu zeigen, wurde im vergangenen Jahr aufgegeben. So führen 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation wieder viele Wege nach Rom. Mindestens einer sollte in diesem Jahr aber nach Mannheim führen.
Begleitbände
Neben dem Katalog begleiten gleich vier prächtig ausgestattete Tagungsbände die Mannheimer Ausstellung. Die bei Schnell und Steiner erscheinenden Bände widmen sich u.a. dem Amt und der Herrschaft der Päpste in Antike, Mittelalter und Renaissance, den Formen päpstlicher Machtentfaltung, dem Spagat zwischen Einheit und Vielfalt der Kirche und natürlich auch theologischen Fragen.
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