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Bilder, Bücher, Bildung

Im Herzogtum Braunschweig entstand im Zuge der Reformation eine Kulturlandschaft, die weithin vergessen ist und dennoch eine Entdeckung lohnt.

Daniel Deckers01.08.2017

Ein Museum in Braunschweig, eine Universität in Helmstedt, eine Bibliothek in Wolfenbüttel – auf engstem Raum haben die Welfen zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert europäische Religions-, ja Geistesgeschichte geschrieben und schreiben lassen. Vieles davon ist weithin vergessen. Heute, 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation, ist ihr Vermächtnis jedoch aktueller denn je.

Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum. Wer die Stadt und ihre Geschichte nicht näher kennt, der käme kaum auf die Idee, dass sie eines der ältesten und zugleich bedeutendsten Kunstmuseen Deutschlands beherbergt.

 

Werke der Reformationszeit 

Mit seinem Namen erinnert es an Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg (1633–1714), einen der künstlerisch begabtesten wie diplomatisch versiertesten Fürsten im Zeitalter des Absolutismus. Dank seiner Kunstsinnigkeit und bester Beziehungen an den Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. von Frankreich legte er mit dem Ankauf von Gemälden von Rubens, Rembrandt und Jan Vermeer van Delft das Fundament einer Sammlung, die heute jeden Besuch wert ist – auch wegen einer Fülle von Werken aus der Reformationszeit, vor allem aus der Cranach-Schule. Die Hängung in der Altdeutschen Abteilung mit den Porträts von Luther und anderen Reformatoren, aber auch der Predigt von Johannes dem Täufer könnte den Betrachter auf die Idee kommen lassen, er habe ein dezidiert konfessionalistisches Bildprogramm vor sich. 

Einen Anlass dafür hätte es wohl gegeben. Bis zu seinem Tod im Jahr 1568 war Herzog Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel katholisch geblieben, als letzter der norddeutschen Fürsten. Erst sein Sohn Julius führte die Reformation in den welfischen Territorien ein – und hätte jeden Grund gehabt, den Konfessionswechsel auch visuell zu dokumentieren. Doch nichts da. Die Geschichte der Kunstsammlungen der Welfen-Herzöge bietet keinen Anhaltspunkt für die Vermutung, Julius und seine Nachfolger hätten ihre Konfession auch bildlich in Szene gesetzt. 

Mehr noch: Im Jahr 1709 konvertierte Anton Ulrich heimlich zum katholischen Glauben, ein Jahr später legte er in Mainz ein öffentliches Glaubensbekenntnis ab. 

 

Konfessionelle Ausdifferenzierung

Politische Absichten, wie man vermuten könnte, verband der Herzog mit diesem Schritt nicht. Die Entscheidung war vielmehr Ausdruck eines langen inneren Ringens mit den Wahrheitsansprüchen von Protestanten und Altgläubigen. Was Anton Ulrich erwog, „aus Trieb seines Gewissens“ mit dem Glauben seiner Vorfahren zu brechen, ließ er in Form einer Rechtfertigung in acht selbstverfassten Artikeln wissen. Einer davon, der vierte, lautet so: „Daß ein sichtbares Haupt in der Christlichen Kirche seyn müsse, und die meisten moderate Protestanten den Pabst zu Rom für den Obersten Bischoff erkennen, und nicht für den Anti-Christ, solches ist nicht zu leugnen; und erhält das die Einigkeit in der Römisch-Catholischen Kirchen, daß sie unter einem Haupte leben, dem sie gehorchen müssen: Dahingegen unter den Protestirenden die Freyheit so groß ist, von Glaubenssachen zu statuiren, was man will, daß daher so viele unzehlige Sekten entstanden, die alle den heiligen Geist haben wollen, und ihre Meynung für die rechte halten.“ Anton Ulrichs Untertanen durften evangelisch bleiben – auch das fiel für ihn unter die Freiheit des Gewissens.

Helmstedt, Academia Julia. Die konfessionelle Ausdifferenzierung nach der Reformation in lutherische, reformierte und katholische Territorien führte dazu, dass zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert im Reich (ohne die Niederlande) dreißig neue Universitäten gegründet wurden: je zwölf katholische und lutherische, dazu acht reformierte. Jeder Landesherr brauchte schließlich Theologen, Juristen und auch Ärzte, auf deren Rat und Tat er sich verlassen konnte. Eine der Neugründungen entstand 1576 in Helmstedt und hörte nach ihrem Gründer Herzog Julius auf den Namen Academia Julia. Nach Marburg, Königsberg und Jena war sie die vierte und letzte nachreformatorische Gründung im 16. Jahrhundert; Braunschweig-Lüneburg war ja noch lange katholisch geblieben. Nun aber sollte Helmstedt ein weiteres Bollwerk lutherischer Orthodoxie werden – Bildungsprogramm statt Bildprogramm. 

 

Ireniker oder Synkretist?

Herzog Heinrich Julius (1589–1613), dem Sohn des Universitätsgründers, stand der Sinn hingegen nicht nach theologischer Rechthaberei. Sein Ideal war die „sapiens et eloquens pietas“, eine von Wissen und Beredsamkeit getragene Frömmigkeit. Dank einer klugen Berufungspolitik erblühte die Academia Julia im Geist des Späthumanismus: Die theologische und die juristische, aber vor allem die Artes-Fakultät zog Studenten aus dem gesamten norddeutschen Raum bis nach Skandinavien an. Vor dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) stand das „Athen der Welfen“ nach Leipzig und Wittenberg an dritter Stelle unter den deutschen Universitäten. Wo sonst konnte man an einer evangelisch-lutherischen Universität aristotelische Philosophie hören? Und wo sonst Gelehrten lauschen, die die Spaltung der Christenheit nicht für einen Gewinn hielten, sondern für einen Skandal, den es zu beenden gelte? 

Georg Calixt (1586–1656), 42 Jahre lang Inhaber eines Lehrstuhls für Kontrovers- theologie, gilt rückblickend als „der begabteste und kenntnisreichste Theologe des 17. Jahrhunderts“ (Johannes Wallmann).  Doch seine Pläne zu einer Kirchenunion auf der Grundlage der Heiligen Schrift und des „consensus“ der Alten Kirche scheiterten am Widerstand der Katholiken wie der orthodoxen Lutheraner. Die Katholiken wollten von den „Neuerungen“ nicht lassen, die, wie etwa das Papsttum, durch die Glaubensbekenntnisse der Alten Kirche nicht gedeckt waren.  Die orthodoxen Lutheraner wiederum hielten die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts hoch, war doch die als genuin lutherisch empfundene Lehre von der Rechtfertigung in den alten Glaubensbekenntnissen nicht enthalten. 

Wer Calixt wohl wollte wie Herzog August der Jüngere (1635–1666), der sah in ihm einen Ireniker im Geist des Erasmus von Rotterdam. Wer ihm übel wollte wie die Mehrheit der lutherischen Theologen von Königsberg bis Straßburg, der hieß ihn einen Synkretisten. Bald nach Calixts Tod ließen die beiden neuen, der Frühaufklärung verpflichteten Universitäten Halle und Göttingen den Helmstädter Späthumanismus alt aussehen. Daran konnte auch der „Vater der Rechtsgeschichte“ (Notker Hammerstein) Hermann Conring nichts ändern. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ging mit dem Alten Reich auch die Zeit der Academia Julia zu Ende. 

 

Eine Bibliothek als Weltwunder

Foto: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig/B.P.Keiser

Mit feiner Kunstsinnigkeit
legte Herzog Anton Ulrich den
 Grundstein für eine
beeindruckende Sammlung

Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek. Viele der Welfen-Herzöge der frühen Neuzeit liebten Bücher und die in ihnen versammelte Wissenschaft und Kunst. Aber niemand so wie eben jener Herzog August der Jüngere. Bei seinem Tod im Jahr 1666 hinterließ er eine Bibliothek mit 35 000 Bänden und 135 000 Titeln sowie eine der bedeutendsten Sammlungen von Drucken und mittelalterlichen Handschriften, die es in Europa gab. Auf welchen Wegen auch immer all diese Werke in den Besitz des Herzogs und seiner Vorfahren gekommen waren – viele stammten aus aufgehobenen Klöstern, andere waren gezielt angekauft worden –, in den Augen der Zeitgenossen beherbergte Wolfenbüttel in ihren Mauern das achte Weltwunder. 

 

Foto: Herzog Anton Ulrich-Museum/Claus Cordes

Der namensgebende
Herzog im Gemälde
des Porträtmalers
Hyacinthe Rigaud
(um 1702)

Kein Wunder, dass es seit der Gründung der Bibliothek große Geister aus aller Welt in die kleine Residenzstadt zog – sei es, um dort die Welt des Mittelalters und der frühen Neuzeit zu erforschen, sei es, um die Bibliothek zu leiten und dieses Wunderwerk jeder Generation aufs Neue zu erschließen. Nicht nur die jeder konfessionalistischen Enge abholde Sammlungspolitik der Herzöge ist bis heute Programm. Auch die Namen mancher Bibliothekare. Unter dem Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz etwa, der von 1691 an bis zu seinem Tod im Jahr 1716 im Nebenberuf über die Geschicke der Bibliotheca Augusta wachte, entstand in Wolfenbüttel nicht nur das erste selbständige profane Bibliotheksgebäude in Europa. Wie Herzog August seine schützende Hand über Georg Calixt gehalten hatte, so konnte sich Leibniz auch bei seinen religionspolitischen Vorstößen auf seinen Mentor Herzog Anton Ulrich verlassen. Mehr als 25 Jahre lang führte Leibniz Verhandlungen über die „Reunion“ der christlichen Kirchen, zunächst unter Einschluss der griechisch- und der russisch-orthodoxen Kirche, am Ende nur innerhalb der Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen waren. Erfolg war auch ihm nicht vergönnt.

 

Der „Fragmentenstreit“

foto: Marc Holzkamp

Academia Julia in Helmstedt:
Hier gründete Herzog Julius
von Braunschweig und Lüneburg
die erste welfische Universität

Gut fünfzig Jahre nach Leibniz´ Tod näherte sich ein anderer Denker dem Thema Glaube und Vernunft, diesmal von der aufklärerisch-literarischen Seite: Gotthold Ephraim Lessing. In Wolfenbüttel, wo er von 1770 bis zu seinem Tod im Jahr 1781 als Bibliothekar wirkte, entstand nicht nur „Nathan der Weise“.  Zuvor hatte Lessing unter dem Titel „Fragmente eines Wolfenbüttelschen Unbekannten“ posthum religions- und bibelkritische Schriften des Hamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus publiziert. Der „Fragmentenstreit“, der daraufhin ausbrach und dem Aufklärer die erbitterte Feindschaft orthodoxer Lutheraner einbrachte, entwickelte sich zu der fulminantesten theologischen Kontroverse im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Rückblickend enthält sie den Keim der endgültigen Emanzipation der Vernunft von den Denkverboten im Namen der Religion.Ein Museum, eine Universität, eine Bibliothek. Ihre Geschichten warten darauf, im Horizont dessen erzählt zu werden, was nach der Reformation im Jahr 1517 ebenfalls geschah: Bis heute lebt die Überzeugung weiter, dass „solche Spaltung Got wol gefall“, wie es einer Fassung der „Confessio Augustana“ aus dem Jahr 1530 hieß. Aber immer gab es auch Christen, die über allem, was sie in Glaubensdingen voneinander trennte, das Gemeinsame nicht aus dem Blick verloren.


Die Herzog-August-Bibliothek erinnert bis zum 10. Dezember 2017 mit der Ausstellung „... so etwas wie ein Wunder“ an Herzog August und seine Bibliothek.