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Titelthema

Aus der Not geboren

Titelthema - Aus der Not geboren
Die Winzergenossenschaften sind heute eine feste Größe im Handel. Sie produzieren vor allem für die großen Handelsketten. Hier ein Plakat © Raiffeisen

Die Winzergenossenschaften sind eine besondere Farbe innerhalb der Genossenschaften. Ihre Geschichte spiegelt auch den Lauf politischer Entwicklungen

Daniel Deckers01.03.2018

Freyburg an der Unstrut, 29. Oktober 1933. Alle Versuche waren ges cheitert, in dem kleinen Weinbau- gebiet an Saale und Unstrut Winzergenossenschaften über längere Zeit am Leben zu erhalten. Nun schien eine neue Zeit angebrochen zu sein. Wenige Monate nach dem Ende der Weimarer Republik wurde die Winzer-Vereinigung Freyburg errichtet. Winzer oder gar Weinbergs- besitzer waren die wenigsten der 23 Gründungsmitglieder. Die meisten nannten sich Landwirte und bewirtschafteten kleine, ja kleinste Parzellen. Für sie kamen die neu en Macht haber anscheinend wie gerufen. Den Nationalsozialisten wird nachgesagt, dass sie auf das Genossenschaftswesen ein besonderes Augenmerk gerichtet hatten. Doch stimmt das überhaupt? Ein Blick in andere Regionen mahnt zur Vorsicht. Winzergenossenschaften zählten nie zu den wirtschaftlich bedeutendsten Formen bäuerlicher Selbsthilfe. Aber auch sie waren viel älter als der Nationalsozialismus, und wie alle Genossenschaften ein Kind der Not ihrer Zeit.

„Winzernot“
An den Steilhängen entlang der Ahr w urden im 19. Jahrhundert wie heute vorwiegend Rotweine erzeugt. Freilich sollte man sich das Gros der Weine optisch wie geschmacklich so vorstellen, wie sie im Volksmund genannt wurden: „Ahrbleichert“ – es sei denn, sie wurden mit Rotweinen aus Südeuropa verschnitten und dadurch farblich ansprechender und auch ein wenig alkoholischer. Weingesetze, die großzügige Verschnittpraktiken oder auch die Herstellung von sogenannten Kunstweinen verboten, gab es im Deutschen Reich zunächst nicht.

Zudem sahen die Handelsverträge, die das Reich mit anderen europäischen Staaten schloss, für Weineinfuhren nach Deutschland äußerst niedrige Zolltarife vor. Die Folge: Der Ausbau des Eisenbahnwesens innerhalb Europas und die nachfolgende Verbilligung des Transports von Wein aus Frankreich oder Spanien ließen den Rotwein von der Ahr und auch vom Mittelrhein bald unverkäuflich werden. 1868 entstand in Mayschoss im Ahrtal eine erste Vertriebsgenossenschaft. Das Vorbild machte Schule. Weitere Genossenschaften wurden gegründet und übernahmen außer dem Anbau auch das Keltern der Trauben, die Einlagerung des Most es und den Ausbau des Weins bis zum Verkauf im Fass oder in der Flasche. I

In anderen Weinbaugebieten fanden die Ahr-Winzer zunächst keine Nachahmer – oder zumindest keine guten. Zwar wurden im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an der Mosel und am Rhein bis hinunter in die Pfalz Genossenschaften ins Leben gerufen. Doch viele verschwanden so schnell, wie sie entstanden waren. Mal fehlte es an einer hinreichenden Zahl an Mitgliedern, mal an guten Kaufleuten. Spektakuläre Zusammenbrüche von genossenschaftlichen Zusammenschlüssen waren bis weit in das 20. Jahrhundert hinein die Folge und diskreditierten das Konzept als ganzes. Wo Genossenschaften allen Widrigkeiten zum Trotz bei der Weinbereitung und der Vermarktung Effizienzgewinne realisierten, gingen sie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an anderer Stelle verloren.

Das aggressive Auftreten von pflanzlichen Schädlingen wie dem Falschen Mehltau (Peronospora) und dem Heu- und Sauerwurm zwang die Weinbauern dazu, viel Zeit und auch Kapital in die Schädlingsbekämpfung zu investieren – oder unrentable Flächen aufzugeben. Die Industrialisierung und die damit einhergehende Verstädterung taten das Übrige. Dieser Entw icklung stand nicht entgegen, dass Weingutsbesitzer, die in den besten Lagen an Mosel, am Rhein und in der Pfalz begütert waren, um die Jahrhundertwende für ihre Auslese-Weine weltweit mit Preisen überhäuft wurden und märchenhafte Erlöse erzielten. An der Basis nahm die „Winzernot“ von Jahr zu Jahr zu.

Eine erste Blütezeit
1914 brachen für den Weinbau in Deutschland zunächst goldene Zeiten an. Die Nachfrage des Heeres und der Mangel an Importweinen ließen die Preise der heimischen Erzeugnisse bald ins Astronomische steigen. Winzernot wurde zum Fremdwort – doch nur, um in den zwanziger Jahren um so dramatischer wiederzukehren. Nachdem 1921 für mehr als ein Jahrzehnt der letzte große Jahrgang herangereift war und die Inflation bis 1923 auch im Weinhandel viel Kapital vernichtet hatte, wurde der Ruf nach genossenschaftlicher Selbsthilfe von Jahr zu Jahr lauter. Die zwanziger Jahre wurden zur ersten Blütezeit des Genossenschaftswesens im Weinbau, vor allem in Baden und Württemberg.

In der Pfalz machten zwanzig Winzervereine mit insgesamt rund 1400 Hektar Rebfläche sogar aus der Not eine Tugend und schlossen sich dem „Verein der pfälzischen Naturweinversteigerer“ an. Sie verpflichteten sich dadurch, im eigenen Namen nur „unverbesserte“ Weine auf den Markt zu bringen. Der Schritt war nicht ohne Risiko, weil die Witterungsbedingungen es in vielen Jahren nicht zuließen, Naturwein in hinreichender Menge zu erzeugen. Doch setzten sich die Pfälzer von allen anderen Genossenschaften und vor allem von dem Weinhandel dadurch ab, dass sie auf Qualität und nicht auf Quantität setzten. Angesichts der Dynamik der zwanziger Jahre war die Machtübernahme der NSDAP für die Winzergenossenschaften keine Zäsur.

Wie auf vielen anderen Feldern, so knüpften die Nazis auch im Weinbau an die „Systemzeit“ an, und das mit Hilfe beträchtlicher Teile der Funktionseliten der Weimarer Republik. Die Gründung von Genossenschaften wurde weiterhin geförd ert, allerdings wurden alle Standeseinrichtungen aufgelöst beziehungsweise dem neugebildeten Reichsnährstand angegliedert, um sie zentral steuern und in die „Erzeugungsschlacht“ werfen zu können. Die Gesetzgebung des Reichs beschränkte sich darauf, der ständigen Gefahr genossenschaftlicher Zusammenbrüche durch neue bilanz- und konkursrechtliche Vorschriften entgegenzuwirken. Alles in allem kann sich das Ergebnis der Weinbaupolitik der Zwischenkriegszeit sehen lassen: 1932 zählten Winzergenossenschaften im Deutschen Reich 15.000 Mitglieder, 1939 hatte sich deren Zahl auf fast 30.000 verdoppelt. Die Zahl der genossenschaftlichen Kooperationen war seit 1919 von 200 auf 493 gestiegen.

Großmacht im Weingeschäft
Die eigentliche Hochzeit der Winzergenossenschaften sollte erst noch kommen: Es war die Zeit der alten Bundesrepublik. Zwar sank die Zahl der Genossenschaften zwischen 1950 und Mitte der achtziger Jahre absolut von 475 auf 327. Doch waren die Genossenschaften in den Jahren vor der Wiedervereinigung mit rund 73.000 Mitgliedern, etwa 35.000 Hektar Rebfläche und einem Anteil von gut 35 Prozent an der bundesdeutschen Weinerzeugung so mächtig wie niemals zuvor.

In Folge zahlreicher Fusionen und eines ungebremsten Konzentrationsprozesses geht die Zahl der Genossenschaften seit dreißig Jahren kontinuierlich zurück. Auch die Zahl der Mitglieder und die Größe der Rebfläche sinken beständig. An Bedeutung gewonnen haben im Lauf der vergangenen Jahre die Zentralkellereien und Gebietswinzergenossenschaften. Sie sind das Bindeglied zu den großen Handelsketten, die an Stelle des klassischen Weinhandels einen Großteil der genossenschaftlich erzeugten Weine abnehmen. Zugenommen haben die Anstrengungen der Genossenschaften auf dem Gebiet der Direktvermarktung wie auch bei der Etablierung von Produktlinien, die sich von den zumeist einfachen Weinqualitäten abheben. Regionale Unterschiede sind weiterhin sehr markant.

An der Ahr, der Hessischen Bergstraße sowie in Baden und Württemberg ist die genossenschaftliche Durchdringung weitaus stärker als am Rhein und an der Mosel. Die Winzervereinigung Freyburg-Unstrut wiederum hat – wie die Winzergenossenschaft Meißen, die auf eine Gründung von 1938 zurückgeht – alle Systemwechsel überlebt. Heute ist sie mit rund 400 Hektar Rebfläche und etwa gleich vielen Genossen der größte Weinbauproduzent in den neuen Bundesländern.