Diskussion
Mensch und Raum
Dem Geographieunterricht an Schulen und dem Geographiestudium an Universitäten kommt eine besondere Rolle mit Blick auf den nachhaltigen Umgang mit der Erde zu. Sie sollten zu einem raumverantwortlichen Handeln sensibilisieren.
In letzter Zeit haben insbesondere junge Menschen mit der Bewegung Fridays for Future ihr Engagement für den verantwortungsvollen Umgang mit der Erde bekundet und die Schärfung des Bewusstseins für den Erhalt unserer Lebensqualität auf eine breitere Basis gestellt. Schon viele Jahre zuvor haben sich Geowissenschaftler mit den Fragen beschäftigt, ob es überhaupt einen Klimawandel gibt und – wenn ja – ob er natürlich ist oder doch vom Menschen beeinflusst wird. Seitdem feststeht, dass der bereits sich vollziehende und fortdauernde Wandel des Klimas auch "man made" ist, hat der gesellschaftliche Diskurs die wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgegriffen, und er setzt sich mit der Frage auseinander, wie damit umzugehen ist.
Doch die Bewahrung der Schöpfung und der Umgang mit den verschiedenen Lebensräumen auf der Erde umfasst weitere Bereiche, in denen Handlungsbedarf erforderlich ist und für die Optionen von Maßnahmen zum Schutz von Raum und Menschen ausgelotet werden müssen. Dazu gehören die Schaffung eines Bodenbewusstseins ebenso wie die Auseinandersetzungen mit Gründen für Überschwemmungen in Verbindung mit einer Erarbeitung von Plänen zum Schutz davor; die Berücksichtigung der Nachhaltigkeit im Umgang mit dem Wald sollte nicht nur als Forderung an ein Land wie Brasilien gestellt werden, sondern ebenfalls Beachtung in unseren Breiten finden. Der durch die Coronapandemie verringerte Flugverkehr und die damit verbundenen Reduzierungen in Umweltbelastungen haben zu der Frage geführt, in welchem Umfang welcher Verkehr nötig ist und wo Einschränkungen dem Klimaschutz zugute kommen, ohne dass sie die Lebensqualität grundlegend mindern. Auch in Bezug auf den Tourismus gilt es vermehrt abzuwägen, ob mit der damit verbundenen Umgestaltung des Raumes nicht eine Zerstörung desselben verbunden ist, so dass die Attraktivität eines Raumes als Grund für dessen touristische Nutzung entfällt.
Nicht zuletzt gilt es zu diskutieren, in welchen städtischen Räumen wir leben wollen. Sollen in ihnen Freiflächen aus Gründen der Verbesserung des Stadtklimas erhalten oder sogar geschaffen werden oder hat eine fortschreitende Verdichtung in Verbindung mit der – notwendigen – Bereitstellung von Wohnraum Vorrang? "Die gestaltete Stadt kann 'Heimat' werden, die bloß agglomerierte nicht, denn Heimat verlangt Markierungen der Identität eines Ortes", so Alexander Mitscherlich in seiner wegweisenden Publikation "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" (Erstausgabe 1965). Der Universitätsprofessor und Direktor der Psychosomatischen Klinik der Universität Heidelberg gelangte vor mehr als 50 Jahren zu folgendem Fazit: "Wir suchen nach Einsicht, die uns befähigt und vor allem die Kraft gibt, der großen Stadtverwüstung und Landzerstörung Einhalt zu gebieten". Was Mitscherlich angesichts der weltweit zunehmenden Urbanisierung als Forderung für den Städtebau auf eine Form der Raumgestaltung bezieht, lässt sich ausweiten auf den gesamten dreidimensionalen Raum der Erdoberfläche (Geosphäre). Wir suchen nach Einsicht, die uns die fachlichen Kompetenzen vermittelten und so die Stärke und den Mut gibt, die Erde als lebenswerten Aktionsraum für alle Menschen zu erhalten und die Bedingungen dafür nachhaltig und verantwortungsvoll zu schaffen. Mitscherlich hat sei Buch im Untertitel eine "Anstiftung zum Unfrieden" genannt. Ihm wohnt eine Zumutung als Handlungsauftrag inne.
Dieser Auftrag zum Handeln für den nachhaltigen Umgang mit der Erde und ihren Teilräumen als Beheimatung im weitesten Sinne ist konstitutiv für das Fach Geographie, das darin für den allgemeinbildenden Unterricht eine übergreifende Kompetenz sieht. Als universitäre Disziplin für die Erforschung der Mensch-Umwelt-Beziehungen und für daraus erwachsenden Konzepte als Vorschläge für Formen der Raumgestaltung liefert die Geographie die fachlichen Grundlagen, deren didaktisch reduzierte und den Schuljahrgängen angepasste Inhalte in den unterrichtlichen Kompetenzbereich Fachwissen einfließen. Er beinhaltet (zum Beispiel nach den curricularen Vorgaben für die Sekundarstufe I niedersächsischer Gymnasien und Gesamtschulen) grundlegende Einsichten in Beziehungen zwischen Mensch und Raum, die Auseinandersetzung mit Geofaktoren, die den Raum prägen, sowie das Problematisieren und Reflektieren von Gegenwarts- und Zukunftsfragen komplexer regional und global verflochtener Mensch-Raum Beziehungen. In der gymnasialen Oberstufe (ebenfalls in Niedersachsen) soll Raumverantwortung aus dem Zusammenspiel von Raumkenntnis, Raumerklärung, Raumerfassung, Raumwahrnehmung, Raumkonstruktion, Raumbewusstsein und Raumbewertung erwachsen beziehungsweise didaktisiert entwickelt werden; als sogenannte Fachmodule spielen dabei folgende miteinander zu verknüpfende Schwerpunkte eine Rolle: raumprägende Faktoren und raumverändernde Prozesse, Bedeutungswandel von Räumen, Siedlungsentwicklung und Raumordnung sowie Ressourcennutzung und nachhaltige Entwicklung. Dieses geographischen Wissen erwerben Schülerinnen und Schüler als "geography for life" im Zusammenwirken mit Erkenntnissen und dem operationalisierbaren Erreichen von Lernzielen in weiteren Kompetenzbereichen wie der Anwendung von allgemeinen und fachspezifischen Methoden und ebenfalls kommunikativen Fähigkeiten im Verständnis von Wechselwirkungen von Natur und Mensch und im multiperspektivischen Austausch über Prozesse in der Geosphäre. Außerdem finden notwendige räumliche Einordnungen und fachtypische Verankerungen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen von lokal über regional, kontinental bis global Berücksichtigung.
Von erheblicher Bedeutung ist die Gewichtung des Kompetenzbereiches "Beurteilung und Bewertung". Wenn das übergeordnete Bildungsziel des Geographieunterrichts darin besteht, junge Menschen zu Persönlichkeiten zu erziehen, die sich in ihrem Denken und Handeln einer Verantwortung für den Raum verpflichtet fühlen, in dem sie selbst oder auch andere Menschen leben und agieren, dann ist Folgendes unerlässlich: Sobald raumrelevante Entscheidungen zu treffen sind, müssen subjektive Meinungen mit objektiven Tatbeständen abgeglichen werden, bevor eine Stellungnahme zu menschlichen Eingriffen in natürliche, ökologische beziehungsweise ökonomische, kulturelle und soziale Systeme vorgenommen wird. Als Fachdisziplin will die Geographie junge Menschen dazu befähigen, am gesellschaftlichen Diskurs zum Umgang mit der Erde kompetent teilnehmen zu können und die Verträglichkeit von Maßnahmen vor dem Hintergrund der Bildung für nachhaltige Entwicklung beurteilen zu können. Wenn es dem Geographieunterricht mit der Vermittlung von Kompetenzen gelingt, durch die Schaffung raumverantwortlichen Agierens ganz im Sinne von Johann Gottfried Herder (1744-1803) den "sensum humanitatis" (so in seiner Rede von der Annehmlichkeit, Nützlichkeit und Notwendigkeit der Geographie) zu schärfen, dann erwächst aus geographischer Bildung nicht nur eine Verantwortung für den Raum, sondern eine ebensolche für die Mitmenschen.
Fritz-Gerd Mittelstädt (RC Melle-Wittlage)
lehrte Geographie und Geographiedidaktik an der Universität Osnabrück