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Der Produktdesigner Adam Wehsely baut Gitarren aus „Hempstone“, einem robusten Material aus Hanffasern und Harze. © Maren Krings Photography

Nutzhanf erlebt eine Renaissance als umweltfreundlicher Rohstoff für diverse Industriezweige.

Kerstin Viering01.01.2022

Was haben Bier und Bodylotion, Autotüren und Hauswände, Socken und Tierfutter gemeinsam? Das alles lässt sich aus Hanf herstellen. Jahrzehntelang hat Cannabis sativa vor allem als Rauschmittel von sich reden gemacht. Das hat dem Gewächs mit den handförmigen Blättern einen eher zweifelhaften, vom Rauch der Joints umwehten Ruf eingetragen. Doch die Formel „Hanf = Droge“ geht schon lange nicht mehr auf. Denn etliche Branchen haben die Stärken der uralten Nutzpflanze neu für sich entdeckt.


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Aus dem langen Hanfstroh lassen sich zum Beispiel sehr reißfeste Fasern für die Textilindustrie gewinnen. „Hanf ist robust, langlebig und hat einen natürlichen Glanz“, schwärmt Kristin Heckmann vom Naturtextilien-Pionier Hessnatur. Zudem trocknet er schnell, ist atmungsaktiv und fühlt sich auf der Haut gut an. Die Qualität entspricht etwa der von hochwertiger Baumwolle, doch die Umweltbilanz ist deutlich besser: „Hanf zählt zu den umweltschonendsten und nachhaltigsten Fasern“, betont Kristin Heckmann.

Denn beim Anbau des relativ robusten und anspruchslosen Gewächses kommen kaum umweltschädliche Chemikalien zum Einsatz. Nach der Saat wächst der konkurrenzstarke Hanf so rasch und dicht heran, dass in seinem Schatten kaum etwas anderes gedeiht. Eine Unkrautbekämpfung können sich die Landwirte daher sparen. Und auch gegen Schädlinge und Krankheiten muss in der Regel nicht gespritzt werden, weil diese dem grünen Überlebenskünstler kaum etwas anhaben können. Vor allem im Vergleich zum sehr pestizidintensiven konventionellen Baumwollanbau sammelt Cannabis hier Umwelt-Pluspunkte.

Zudem gilt Baumwolle als eine sehr durstige Kultur. Wo in der Vegetationsperiode nicht mindestens 750 Millimeter Niederschlag fallen, muss sie zusätzlich bewässert werden. Wie gut der Hanf im Vergleich dazu abschneidet, hat eine Studie des Leibniz-Instituts für Agrartechnik und Bioökonomie (ATB) in einem Feldversuch bei Potsdam getestet – in einem der trockensten Anbaugebiete in Deutschland. Damit die beiden dort ausgesäten Hanfsorten im besonders trockenen Jahr 2018 richtig aufgingen, mussten sie anfangs bewässert werden. Dann aber etablierten sie sich und nutzten die zur Verfügung stehende Feuchtigkeit sehr effizient: Bei der Ernte lieferten sie pro Kubikmeter verbrauchten Wassers im Schnitt 2,4 Kilogramm Trockenmasse. Diese sogenannte Wasserproduktivität liegt damit sechsmal höher als bei Baumwolle. „Wir sehen, dass Hanf großes Potenzial für den Anbau an relativ trockenen Standorten bietet“, resümiert Hans-Jörg Gusovius, Experte für Faserpflanzen am ATB. Wenn der Klimawandel künftig mehr Dürren bringt, kann das nur von Vorteil sein.

Klimaschützer und Ölquelle

Neben Textilien kann man aus dem pflanzlichen Multitalent auch Dämmstoffe für Gebäude herstellen, die sehr gut gegen Wärme, Kälte und Lärm isolieren. Die Fasern können Feuchtigkeit aufnehmen und später beim Trocknen wieder abgeben, was sich günstig auf das Raumklima auswirkt. Zudem sind sie sehr haltbar und resistent gegen Schimmel und Bakterien. Und sie punkten auch in Sachen Klimaschutz.

So hat das Nova-Institut in Hürth bei Köln analysiert, welche Mengen an Treibhausgasen beim Hanfanbau, bei der Gewinnung der Fasern und beim Transport zum Verarbeitungsbetrieb anfallen. Verglichen mit Glaswolle setzte der Hanf dabei nur ein Drittel der Treibhausgase frei. Hinzu kommt, dass die schnell wachsenden Pflanzen in vier bis fünf Monaten bis zu fünf Meter hoch werden und drei Meter lange Wurzeln entwickeln können. Und dafür brauchen sie eine ganze Menge Kohlendioxid, dessen Kohlenstoff sie in ihre Stängel, Blätter und Wurzeln einbauen. Fachleute des Europäischen Industriehanf-Verbandes EIHA haben ausgerechnet, dass eine Tonne Nutzhanf beim Wachsen 1,6 Tonnen Kohlendioxid aus der Atmosphäre holt. Verbaut man die Fasern dann beispielsweise als Hanfbeton in einem Haus, steckt der darin enthaltene Kohlenstoff anschließend für Jahre in den Wänden, statt das Klima weiter aufzuheizen.

Auch im Automobilbau haben einige Firmen die alte Idee von Henry Ford wieder aufgegriffen und nutzen Verbundwerkstoffe aus Kunststoff und Hanffasern. Denn die sind leicht, äußerst widerstandsfähig und schwer entflammbar. Verwendung finden diese Materialien zum Beispiel in Tür- und Kofferraumauskleidungen, Armaturenbrettern oder Heckspoilern. Die Firma Renew Sports Cars hat sogar ein Auto vorgestellt, das komplett aus Hanfbauteilen besteht. Bis zum Jahr 2025 will die Firma Fahrzeuge entwickeln, deren Produktion der Atmosphäre Kohlenstoff entzieht, statt weiteren freizusetzen.

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Der „MonViso Hemp Ski“, entwickelt von Tobias Luthe in Oslo © Maren Krings Photography

Doch nicht nur die Fasern, sondern auch die essbaren Teile der Hanfpflanzen erleben seit einigen Jahren eine Renaissance. Dabei geht es nicht etwa darum, berauschende Mahlzeiten auf die Teller zu bringen. Da Nutzhanf nur sehr geringe Mengen der psychoaktiven Verbindung Tetrahydrocannabinol (THC) enthält, ließe sich eine solche Wirkung damit gar nicht erzielen. Dafür finden sich in Hanfsamen hochwertige Proteine, mehrfach ungesättigte Fettsäuren, Ballaststoffe, Vitamine und Mineralien. Man kann aus ihnen Speiseöl pressen und Proteinpulver sowie Ballaststoffe produzieren oder die Beiprodukte als Tierfutter verwerten. Auch die Hanfblüten werden bereits genutzt. Sie aromatisieren zum Beispiel Limonaden und Hanfbier oder lassen sich zusammen mit den Blättern als Tee aufbrühen.

Zwischenfrucht, Unkraut-Ex und Nitratbinder

Das vielfältige Interesse an dem Rohstoff vom Acker hat dazu geführt, dass die Anbauflächen in Deutschland in den letzten Jahren kräftig gewachsen sind. Die Statistik des Jahres 2021 weist 6444 Hektar aus, das sind 20 Prozent mehr als im Jahr 2020.

Man kann das vielseitige Gewächs auch als Zwischenfrucht aussäen, wenn die eigentliche Kultur schon geerntet ist. Diese neue Idee hat die Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen zusammen mit Landwirten, der Maschinengenossenschaft Loxten und dem Naturfaser-Hersteller NFC entwickelt und etabliert. Nach der Gersten-Ernte wurde der Hanf zu einer unüblichen Zeit Mitte Juli ausgesät. Im September war die Fläche dann grün, bis die Pflanzen über Weihnachten abstarben. Dieser winterliche Bewuchs hat eine ganze Reihe von Vorteilen. Die Pflanzen unterdrücken nicht nur Unkraut, ihr ausgedehntes Wurzelsystem lockert auch den Boden, verhindert Erosion und schafft so günstige Bedingungen für die nachfolgende Sommerkultur. Zudem nehmen die Pflanzen Nitrat auf, das ansonsten die Gewässer überdüngen oder im Grundwasser landen könnte.

„Das kann man zwar auch mit klassischen Zwischenfrüchten wie Senf erreichen“, sagt Michael Dickeduisberg von der Landwirtschaftskammer. Die aber werden normalerweise im Frühjahr abgemäht oder untergepflügt, ohne einen finanziellen Nutzen zu bringen. „Winterhanf dagegen kann man im März ernten und verkaufen“, erklärt der Projekt-Koordinator. „Das macht sich im Portemonnaie der Landwirte durchaus bemerkbar.“

Zumal sich im Laufe des Projekts herausgestellt hat, dass der Winterhanf deutlich feinere Fasern liefern kann als sein im Sommer angebautes Pendant. Das macht ihn für die Textilindustrie besonders interessant. „Schon bevor das Projekt im Jahr 2019 ausgelaufen ist, hat der Winterhanf den Sprung in die Praxis geschafft“, freut sich Michael Dickeduisberg. Bundesweit wird die Zwischenfrucht mittlerweile auf etwa 1250 Hektar Fläche angebaut.

0,3 Prozent THC ab 2023

Auch solche Fortschritte genügen allerdings bei Weitem nicht, um die steigende Nachfrage zu decken. So bezieht Hessnatur den Hanf für seine Kleidungsstücke hauptsächlich aus China. „Wir achten dabei sorgfältig darauf, dass er nicht aus kritischen Regionen kommt“, betont Kristin Heckmann. „Und für China gelten selbstverständlich die gleichen hohen Sozialstandards wie für alle anderen Länder.“ Gerne würde die Firma aber auch Hanf aus heimischem Anbau beziehen. Doch man brauche ihn als bereits ausgesponnene Faser. Und dafür hat sich in Deutschland bisher noch kein Lieferant gefunden.

„Tatsächlich müssen sich die Lieferketten in Deutschland und Europa erst noch entwickeln“, bestätigt Daniel Kruse. Der Präsident des Europäischen Industriehanf-Verbandes EIHA, der die Interessen von Landwirten, Erzeugern und Händlern vertritt, sieht die deutschen Hanfbauern derzeit noch in einer schwierigen Lage. Denn sie müssen mit etablierteren Erzeugern etwa in Kanada oder China konkurrieren. Und dabei stehen ihnen auch noch strenge Regularien im Weg. So dürfen sie bisher nur bestimmte Sorten aussäen, die weniger als 0,2 Prozent THC enthalten. Mitarbeiter der Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung kontrollieren noch auf dem Feld, ob dieser Grenzwert eingehalten wird. Ansonsten wird die Ernte beschlagnahmt. Das kann schnell zum Problem werden, denn der THC-Gehalt kann von Jahr zu Jahr auch schwanken. „Mehr Sonne bedeutet auch mehr THC“, erklärt Daniel Kruse.

Für ihn ist die Tatsache, dass auch Industriehanf noch immer an das Betäubungsmittelgesetz gebunden ist, eines der wesentlichen Hindernisse für einen Ausbau des europäischen Hanfmarktes. So dürfen in vielen EU-Ländern keine Hanfblüten genutzt werden, weil sie als Betäubungsmittel gelten – obwohl ihr THC-Gehalt den Grenzwert von Industriehanf einhält. „Wir brauchen einen europäischen Rechtsrahmen für die Nutzung der Pflanze“, fordert Daniel Kruse.

Eine Erleichterung für die Hanfbauern hat die EU immerhin schon beschlossen: Ab dem 1. Januar 2023 darf Nutzhanf 0,3 statt 0,2 Prozent THC enthalten, wenn man dafür Direktzahlungen erhalten will. Für den nicht subventionierten Anbau können die Mitgliedsstaaten auch noch höhere Grenzwerte festlegen. Dadurch können weitere Nutzhanf-Sorten zugelassen werden, und das Risiko für Grenzwertüberschreitungen auf dem Acker sinkt. „Nutzhanf ist keine Droge“, betont Daniel Kruse. „Also sollte er auch nicht wie eine behandelt werden.“


Buchtipp

Das Hash, Marihuana & Hemp Museum präsentiert in Amsterdam und Barcelona 9000 Exponate, zusammengetragen von Museumsgründer Ben Dronkers. Sie veranschaulichen die uralte Beziehung zwischen Mensch und Cannabis. Das Buch zur Sammlung schrieben Jules Marshall und Floris Leeuwenberg: Weed of Wonder 2021, 288 Seiten, 34,50 Euro – über nachtschatten.ch

Kerstin Viering

Kerstin Viering ist freie Wissenschaftsjournalistin und schreibt über Themen aus den Bereichen Biologie, Umwelt und Naturschutz, Klimaforschung, Geowissenschaften oder auch Archäologie.

Copyright: Roland Knauer