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„Neutralität ist kein Schutz“

Forum - „Neutralität ist kein Schutz“
Blick in den Sitzungssaal der Bundesversammlung in Wien. Am 26. Oktober 1955 wurde das Bundesverfassungsgesetz über die „immerwährende Neutralität“ Österreichs verabschiedet. © picture-alliance/dpa/dpaweb

Österreich darf sich in seiner Sicherheitspolitik nicht mehr allein auf das Schutzpolster der Nato-Staaten rundum verlassen. Wie zeitgemäß ist die österreichische Neutralitätspolitik noch?

Wolfgang Schüssel01.07.2023

Die österreichische Neutralität wird im Ausland zunehmend kritisch gesehen. Der renommierte Economist urteilt harsch: „Jedes Land auf dem Kontinent, das sich in dieser Frage (UkraineKrieg, Anm.) neutral erklärt, bekundet damit, dass ihm seine eigene Sicherheit nicht sonderlich am Herzen liegt (…) Nichtneutrale ärgert das. Denn ihre Kanonen verteidigen stillschweigend auch Länder wie Österreich, die sich noch mehr Butter aufs Brot streichen wollen und obendrein über ihre Tugenden prahlen.“


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Das schmerzt, aber stimmt es auch? Österreich hilft der Ukraine politisch, humanitär und wirtschaftlich und trägt solidarisch alle Sanktionen gegen Russland mit. Auch die Perspektive einer späteren Mitgliedschaft der Ukraine in der EU wird von unserem Land unterstützt. Militärische Transporte können aufgrund eines EU-Mandats, das wenige Tage nach dem russischen Überfall einstimmig angenommen wurde, Österreich durchqueren. Auch notwendige Entminungsprojekte werden finanziell unterstützt. Die Neutralität Österreichs steht also in all diesen Fragen der Solidarität mit der Ukraine nicht im Wege.

Schwarz, weiß oder lieber grau?

Aber die Diskussion geht natürlich viel tiefer. Schweden und Finnland haben sich innerhalb weniger Wochen nach dem 24. Februar 2022, der die Sicherheitspolitik Europas nachhaltig verändert hat, für die Aufgabe ihrer Bündnisfreiheit und für einen Nato-Beitritt entschieden. Von den 27 EU-Mitgliedsstaaten sind damit nur noch Malta, Zypern, Irland und Österreich neutral. Und auch in Irland findet eine intensive Diskussion statt. Außenminister Micheál Martin: „Ireland must have an open and honest debate on its longstanding military neutrality and the possibility of joining Nato“ („Irland muss eine offene und ehrliche Debatte über seine seit Langem bestehende militärische Neutralität und die Möglichkeit eines Nato-Beitritts führen“, d. Red.), Financial Times, 19. Mai 2023. In einem von dem Minister, der zudem auch das Verteidigungsressort führt, vor dem Dáil Parliament angekündigten konsultativen Forum Ende Juni wurden neben etwa 1000 Bürgern, Fachleuten und Diplomaten auch Experten anderer Länder wie Norwegen mit seinen bewährten friedensschaffenden Bemühungen, Finnland, Schweden und auch die Schweiz einbezogen. Dabei wurde untersucht, welche Bedeutung die Neutralität im gegenwärtigen geopolitischen Umfeld noch besitzt, welche sicherheitspolitischen Optionen die Insel hat und welche Verpflichtungen gegenüber den Partnern bestehen. „Staying as we are today or immediately seeking to join a military alliance such as Nato are not the only options.“ („Es ist nicht die einzige Option, so weiterzumachen wie bisher oder sofort den Beitritt zu einem Militärbündnis wie der Nato anzustreben.“)

Auch die Schweiz diskutiert – ein Leitartikel der NZZ vom 20. Mai bringt es auf den Punkt: „Die Welt braucht keine neu trale Schweiz mehr.“ Unter dem Eindruck des Ukraine-Kriegs nähere sich das ausländische Verständnis für die schweizerische Neutralitätspolitik dem Nullpunkt. Der Autor Andreas Rüesch empfiehlt als Weg aus dem Elfenbeinturm der Neu tra li tätsideo lo gie die „Bündnisfreiheit“. Die Schweiz bräuchte nicht der Nato beizutreten, aber sie könnte gefahrlos ihre Politik der dauernden Neutralität aufgeben und sich ausbedingen, in gewissen Konstellationen keine Neutralität walten zu lassen. Ein Aggressionskrieg in Europa, der auch Schweizer Interessen berührte, wäre das Paradebeispiel einer solchen Konstellation. „Mehr Freiheit, weniger Neutralität“ hieße: Die Schweiz bliebe frei von Bündnispflichten, aber öffnete einen Weg, um auch die Freiheit Europas zu stärken. Zum Beispiel mit der Lieferung von Militärmaterial an die Ukraine, die in ihrem Überlebenskampf auch auf die Schweiz angewiesen ist.

Die Neutralität gilt nicht mehr

Und Österreich? Wir haben zwar seit unserem EU-Beitritt 1995 unsere Hausaufgaben gemacht und die förmliche Verpflichtung übernommen, an der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik der EU (Gasp) mitzuwirken. Mit dem einstimmig verabschiedeten Lissabon-Vertrag (in Kraft seit 2009) wurde eine wechselseitige Beistandsverpflichtung bei einem bewaffneten Angriff vereinbart. In der österreichischen Bundesverfassung wurde dem durch die Novelle des Artikels 23 j Rechnung getragen. Einfach gesagt wird damit die Neutralität für den gesamten Bereich der Gasp und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) ohne jede Einschränkung außer Kraft gesetzt. Anders formuliert: Bei jedem EU-Beschluss (wie auch bei einem UN- oder OSZE-Mandat) gilt die Neutralität nicht mehr. Vielleicht wäre es hilfreich, diese Zusammenhänge der Öffentlichkeit deutlicher zu machen. Denn der russische Angriff auf die Ukraine hat wohl endgültig alle Illusionen zunichtegemacht, dass das neutrale Österreich eine ungefährdete friedliche Insel wäre.

Neutralität ist kein Schutz, das haben die Ukraine und Moldau, die dies sogar einst in ihre Verfassungen schrieben, zu spüren bekommen. Der harte Kern unserer Neutralität – keine militärische Teilnahme an Kriegen und Bündnissen, keine fremden Militärstützpunkte – mag zwar bestehen bleiben, aber eine glaubwürdige Aufstockung unserer eigenen Verteidigungsfähigkeit, die enge Kooperation mit EU-Partnern und Synergien in der Zusammenarbeit mit der Nato im Rahmen der Partnership for Peace (PfP) sind jedenfalls unerlässlich. Und auf europäischer Ebene sollte endlich eine offene Debatte geführt werden, wie sich die EU notfalls allein schützen kann, sollten die USA in einer anderen Weltregion mehr gefordert sein. Der notwendige Beitrag Österreichs für den Fall eines möglichen Angriffs auf ein EU-Mitglied (Art. 42/7 des EU-Vertrags) sollte jedenfalls gut vorbereitet werden und innenpolitisch außer Streit stehen.


Das Rotary Magazin in der Presse: Lesen Sie hier, was der Kurier (vom 1. 7. 2023) aktuell zu dem Thema und zu den Aussagen Schüssels schreibt.

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Wolfgang Schüssel

Dr. Wolfgang Schüssel war von 2000 bis 2007 österreichischer Bundeskanzler, davor u. a. Abgeordneter zum Nationalrat, Klubobmann und Bundesparteiobmann der ÖVP, Wirtschaftsminister (1989–1995) und Außenminister (1995–1999). Er ist Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Außenpolitik und die Vereinten Nationen (ÖGAVN).