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Nicht liberal, aber demokratisch

Forum - Nicht liberal, aber demokratisch
Der ungarische Oppositionskandidat Péter Márki-Zay (rechts) glaubt an seine Chance. Beim Nationalfeiertag zum Volksaufstand von 1956 sprach er im Oktober 2021 auf dem Budapester Heldenplatz zu Tausenden Anhängern. © martinxfejer/est&ost/imago images

Die westliche Welt weiß wenig über Ungarn, hat aber eine feste Meinung. Es gibt freie Wahlen, eine starke Opposition, Linke und Rechte – und zwei Versionen der Wahrheit.

György Schöpflin01.04.2022

Ich vermute, dass für viele deutsche Leser die Begriffe „Demokratie“ und „Ungarn“ angesichts dessen, was sie in den deutschen (und österreichischen) Medien lesen, absolut unvereinbar sind. Ich behaupte aber, dass genau das Gegenteil der Fall ist und in Ungarn wirklich eine demokratische Ordnung existiert, die jedoch nicht der von der liberalen Linken vorgegebenen Definition entspricht.

Gibt es nur eine einzige Form der Demokratie und muss die Demokratie ausnahmslos liberal sein? Oder gibt es politische Systeme, die demokratisch sind, aber nicht liberal? Die Schlüsselfrage, die sich stellt, ist somit die Verbindung von Demokratie und Liberalismus. Weithin wird angenommen, Liberalismus sei eine notwendige Bedingung für die Demokratie. Das stimmt einfach nicht.


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Unter den in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union definierten Grundwerten ist natürlich auch die Demokratie zu finden, aber nicht die liberale Demokratie. Dies bedeutet, dass die Christdemokratie, die Sozialdemokratie, der Konservatismus und andere Kombinationen als demokratisch akzeptiert werden. Die liberale Wende Mitte der 1990er-Jahre erlaubte es den Liberalen zu behaupten, die Demokratie müsse liberal und dürfe sonst nichts sein.

Eine Schar aktivistischer Richter

Was also sollte ein politisches System haben, das als demokratisch zu charakterisieren ist? Zweifellos die Zustimmung der zu regierenden Bevölkerung, wie sie durch Wahlen festgestellt wird. Das System muss über „Checks and Balances“, zwischen den Regierenden und den Regierten vermittelnde Institutionen, verfügen; die Macht muss rechenschaftspflichtig und transparent sein, und es muss ein gewisses Feedback geben, um eine Gegenseitigkeit der Rechte zu gewährleisten. Hinzu kommen eine getrennte Justiz und die Frage nach der Rolle der Zivilgesellschaft (NGOs, Lobbys, Thinktanks, Medien, Interessenvertretungen, PR-Firmen und andere, die an der Machtausübung beteiligt sind). Sowohl hinsichtlich der Justiz als auch der Zivilgesellschaft stellt sich die Frage nach ihren Grenzen und ihrer Rechenschaftspflicht. Sie üben zwar Macht aus, sind aber nur schwer zur Rechenschaft zu ziehen.

Bei NGOs und Thinktanks gibt es außerdem das Problem, von wem sie finanziert werden. Dies kann angesichts von Finanzinstrumenten, die geschaffen werden, um Geldströme unsichtbar zu machen – mittels Mantelgesellschaften, Steueroasen und komplexen Bankgeschäftsstrukturen –, sehr undurchsichtig sein. Meiner Erfahrung nach praktizieren NGOs nur äußerst widerwillig volle Transparenz über ihre Finanzen.

Auch die Rolle der Justiz wirft schwierige Fragen auf. Wie weit sollten sich Richter in Fälle involvieren, die eindeutig politisch sind? Hans Kelsen, der große österreichische Jurist, der faktisch die Verfassungsgerichte erfand, glaubte, dass Richter ein höheres Maß an Selbstbeschränkung üben würden als Politiker. Leider gibt es nunmehr eine Schar aktivistischer Richter, auf die Kelsens Annahmen nicht zutreffen. Es gibt sowohl Kritik von links als auch von rechts, Richter legten nicht mehr das Gesetz aus, sondern seien zu Aktivisten geworden, die politische oder halb politische Entscheidungen träfen. Diese Behauptung folgt der gleichen Logik wie die Definition der politischen Rolle der NGOs, nämlich dass ihre Rolle in der politischen Ordnung aufzuwerten sei. In der Tat wird ein System mit einer schwachen Zivilgesellschaft den Demokratietest der Liberalen nicht bestehen.

Die Opposition genießt Freiheiten

Das mit der Übertragung politischer Macht an nicht gewählte Institutionen verfolgte Ziel bestehe darin, die Wähler daran zu hindern, zu viel Macht auszuüben, im Wesentlichen deshalb, weil man den Wählern nicht zutrauen könne, die Grundsätze der liberalen Demokratie einzuhalten. Wer etwas anderes sagt, wird als „Populist“ verurteilt. Damit entwickelt sich die liberale Demokratie in eine Richtung, in der die Rolle des Demos, der Wähler, minimiert wird, weil sie als Bedrohung für die Demokratie angesehen werden. Wenn dies wie ein Widerspruch klingt, dann deshalb, weil es einer ist.

Anhand dieser Kriterien lässt sich das Funktionieren des ungarischen politischen Systems hinsichtlich der Frage, ob es als demokratisch angesehen werden kann, beurteilen. Um zu dieser Beurteilung zu gelangen, sollten wir die Bezeichnungen vergessen, mit denen westliche Medien und andere Institutionen Ungarn abstempeln, zum Beispiel: Das System sei faschistisch, rassistisch, populistisch, fremdenfeindlich, autokratisch, autoritär – als „despotisch“ sah ich es noch nicht bezeichnet.

Die Daten können untersucht werden, aber seit 1990 (dem Ende des Kommunismus) sind die Wahlen frei. Es gab etwas Kritik, dass sie nicht „fair“ gewesen seien, aber für Fairness lassen sich keine objektiven Kriterien aufstellen. Somit verfügt die Regierung über Zustimmung für ihr Regierungshandeln. Dies kann als eindeutige Legitimation der Fidesz-Regierung gelten, die dem Liberalismus als notwendiger Bedingung für die Demokratie eine ausdrückliche Absage erteilt hat. Das verärgert die Liberalen.

Darüber hinaus nutzt die Fidesz-Regierung regelmäßig Referenden und nationale Konsultationen, um Feedbackmechanismen zwischen den Regierenden und den Regierten aufrechtzuerhalten. Dies wird von den Liberalen als Populismus abgetan. Es gibt natürlich ein Mehrparteiensystem, Oppositionspolitiker genießen die gleichen Freiheiten wie in jedem anderen demokratischen Land – vielleicht sogar noch mehr, wenn man die extreme Sprache bedenkt, die in der ungarischen Politik allgemein üblich ist. Und obgleich Fidesz drei Parlamentswahlen in Folge gewann, kontrolliert die Opposition seit ihrem Erfolg bei den Kommunalwahlen 2019 nunmehr zehn der 15 größten Städte, darunter Budapest.

Für jeden, der Ungarisch lesen kann, ist der Vorwurf, die Medien seien nicht frei, lächerlich. Fidesz steht unter ständigen Angriffen linker Medien, und dem stehen entsprechende Fideszfreundliche Kritiken in den rechtsgerichteten Medien gegenüber. Es gibt hier einen weiteren Punkt, den Außenstehende nur selten verstehen. Aus komplexen historischen Gründen entstand in Ungarn nach 1990 eine Beziehung zwischen Regierung und Opposition, die sich von den Systemen vieler anderer Länder unterscheidet und durch eine tiefgreifende Polarisierung gekennzeichnet ist. Anstelle eines Regierungswechsels streben sowohl die Linke als auch die Rechte jeweils einen Systemwechsel an. Eine loyale Opposition gibt es nicht.

Diese tiefe Spaltung ist auf die Zeit des Kommunismus zurückzuführen. Während der Terrorherrschaft der 1950erJahre wurde bis zu einem Drittel der Bevölkerung des Landes interniert, deportiert, verhaftet, verhört – einige wurden getötet. Dies hat ein zutiefst negatives Erbe hinterlassen, und diejenigen, deren Familien vom ungarischen Gulag betroffen waren, unterstützen Fidesz. Die Nutznießer des Kommunismus unterstützen die Linke.

Die freie Wahl: links oder rechts?

Die Spaltung ist quicklebendig. So existieren zwei Medienräume, ein linksgerichteter und ein rechtsgerichteter, zwei NGO-Thinktank-Räume, und selbst bei der Justiz gibt es diejenigen, die im Verdacht stehen, mit der Opposition zu sympathisieren. In diesem Sinne gibt es zwei Ungarn, zwei Versionen der „Wahrheit“. Keine der beiden Seiten würde akzeptieren, dass der Standpunkt der anderen Seite auch nur einen Funken Legitimität besitzt. Wessen Version von Ungarn man akzeptiert, ist dann im Grunde eine Frage der eigenen Präferenzen.

György Schöpflin
György Schöpflin hatte eine Jean-Monnet-Professur an der University of London, war Mitglied des Europäischen Parlaments für Ungarn (2004–2019) und arbeitete bis zu seinem Tod am 19. November 2021 als Autor und Publizist. Diesen Artikel verfasste er wenige Monate vor seinem Ableben.