Titelthema
Niemiec
Kaum ein Deutscher weiß etwas über Piaśnica. Sollten wir aber. Es ist der Ort, an dem das Massenmorden der Nazis begann
Das wird nichts.“ Dieser Einsicht konnte ich mich nicht länger verschließen, nachdem ich nun schon seit einer halben Stunde allein durch den Wald von Piaśnica in Hinterpommern gestolpert war, ohne einen einzigen gesehen zu haben, einen einzigen Steinpilz. Es war ein Herbst Anfang der 1980er Jahre, und mit einer Gruppe polnischer Bekannter tat ich das, was man in Polen im Herbst eben tut: Pilze suchen.
Ich hatte mich etwas von der Gruppe entfernt, da ich mir so bessere Chancen erhoffte, den großen, den ultimativen Steinpilz zu finden. Der sollte es schon sein, denn ich traute mir nicht zu, eine andere Pilzart zweifelsfrei bestimmen zu können. Und außerdem war es der einzige Pilz, dessen polnischen Namen ich kannte: Prawdziwek. In Prawdziwek glaubte ich das Wort Prawda zu erkennen, das in vielen slawischen Sprachen Wahrheit bedeutet, also der Steinpilz als der einzig Wahre.
Ein Stammler, ein Habenichts? Ich?
Und so bekam die Mission Steinpilz für mich eine größere Dimension, als bloß mit dem Fund eines Prachtexemplars in unserer Gruppe fröhlicher Pilzesucher Eindruck zu schinden. Denn in dieser Gruppe war ich der einzige Deutsche, und zu den wenigen polnischen Wörtern, die ich bisher gelernt hatte, gehörte auch das für Deutscher: Niemiec. Ich war also ein Niemiec. Kein Germane, kein Alemanne, wie uns andere Völker in verschiedenen Varianten nennen, sondern ein Niemiec.
Dieser ungewöhnlichen Bezeichnung hatte ich nachgeforscht: Niemiec bedeute „der Stumme“, wurde mir gesagt, weil Deutsche gemeinhin nicht der polnischen Sprache mächtig sind. So ähnlich, wie für die alten Griechen alle Völker, die kein Griechisch sprachen, Barbaren waren, Stammler. Trotzdem irritierte mich das „Nie“ im Niemiec, das mir bisher als Form der Verneinung untergekommen war. Stimmt schon, räumte mein philologischer Gewährsmann ein, „nie mieć“ als Verb bedeute eigentlich „nicht haben“, in diesem Sinne also nicht die Fähigkeit haben, Polnisch zu sprechen. Als Deutscher war ich demnach ein Habenichts, zumindest in sprachlicher Hinsicht. Dem wollte ich mit einem kapitalen Prawdziwek etwas entgegensetzen.
Und dann stand ich plötzlich vor ihm. Nicht vor dem Prawdziwek, sondern vor dem Pomnik. Auch ein polnisches Wort, das ich bereits kannte, denn der Pomnik ist in Polen womöglich weiter verbreitet als der Steinpilz. Pomnik bedeutet Denkmal, Mahnmal, und in diesem von Jahrhunderten voller feindlicher Überfälle und blutig niedergeschlagener Aufstände gezeichneten Land stehen an jeder Ecke Denkmäler, meist um an die Opfer zu erinnern.
Der Pomnik, der sich plötzlich mitten im Wald von Piaśnica vor mir erhob, war groß, düster, mit einem Kreuz versehen. Mir schwante Übles, und das wenige, was ich von der Inschrift verstand, bestätigte mein Gefühl. „1939“ stand da, das Jahr des deutschen Angriffs auf Polen. „Hitlerowcy“ stand da, die polnische Bezeichnung für Nazis. Und noch eine Zahl, mit schrecklich vielen Nullen, 10.000. Mir stockte der Atem: Ich stand vor einem Grabstein für 10.000 Menschen, die hier 1939 von Deutschen umgebracht worden sind. Auf einem Massengrab hatte ich Pilze gesucht. Und das völlig ahnungslos, denn obwohl ich frisch gebackener Magister Artium der Geschichtswissenschaft war, hatte ich noch nie etwas von einem Massaker von Piaśnica gehört. Oradour-sur-Glane in Frankreich, wo die SS 1944 643 Dorfbewohner ermordet hatte, davon wusste ich. Auch von Lidice in der damaligen Tschechoslowakei, 1942, rund 250 von deutschen Einheiten umgebrachte Männer, Frauen und Kinder. Aber schon 1939, gleich nach Kriegsbeginn, ein Massaker mit 10.000 Toten, und das war in Deutschland nicht bekannt?
Ja, ich war ein Habenichts
Ich war als Deutscher, als Niemiec, also wahrlich ein Habenichts, weniger wegen mangelnder polnischer Sprachkenntnisse, sondern vor allem wegen meines völligen Nichtwissens über ein gewaltiges Verbrechen wie dieses. Erst etliche Jahre später fand ich auch in deutschen Veröffentlichungen die Bestätigung, dass in Piaśnica die ersten großen Mordaktionen des Zweiten Weltkriegs überhaupt stattgefunden hatten. Und dass sie bis zu 13.000 Opfer gefordert haben.
„Piaśnica, Piaśnica, Stutthof, Katyń, Piaśnica“, murmelte Karol, während er mit dem Zeigefinger auf ein altes Foto aus den 30er Jahren tippte. Ein Gruppenbild, das Honoratioren der polnischen Hafenstadt Gdynia zeigte, den Bürgermeister, einen Bankdirektor, Ärzte und Apotheker, mehrere katholische Pfarrer in langen Soutanen. Und Karol als jüngeren Mann, der voller Energie und Optimismus in die Kamera schaute. Jetzt, in den frühen 80er Jahren, war Karol ein Greis, viel Zeit hatte er damit verbracht, die Schicksale seiner auf dem Gruppenfoto abgebildeten Freunde und Bekannten von einst zu recherchieren. Und jedes Mal, wenn er auf einen von ihnen auf dem alten Foto zeigte, nannte er den Ort, an dem dieser Mensch umgebracht worden war: das KZ Stutthof bei Danzig, Katyń, wo die Sowjets mehr als 4000 polnische Kriegsgefangene ermordet hatten, auch Auschwitz. Und immer wieder Piaśnica.
Das Massaker von Kalavryta
Ich hörte Karol zu und versuchte, mir alles zu merken. Ich hörte auch vielen anderen zu, die überlebt hatten, vor allem in Polen. Ich las viel über die, die nicht überlebt hatten. Und über Täter, von denen so viele ungeschoren davongekommen sind. Und so wurde aus mir Habenichts des Erinnerns mit der Zeit ein Niemiec, der ein bisschen mehr weiß und versteht über das, was passiert ist, was Deutsche getan haben im Osten Europas, als Krieger und Besatzer.
Mehr als anderthalb Jahrzehnte nach der Pilzesuche im Wald von Piaśnica – gerade hat ein neues Jahrtausend begonnen – stehe ich wieder vor einem Mahnmal, das aber kein Pomnik ist, denn ich befinde mich nun in Griechenland. Der Ort heißt Kalavryta, ich bin im Gefolge eines deutschen Bundespräsidenten hierhergekommen. Der will ein weiteres Verbrechen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs deutscher Geschichtsvergessenheit entreißen: Das Massaker von Kalavryta auf der Halbinsel Peloponnes im Dezember 1943, als Wehrmachtssoldaten 676 Einwohner dieses Dorfes – Männer, Frauen und Kinder – ermordeten. Und ich soll als Journalist darüber berichten.
Der Bundespräsident bemüht sich um ein würdevolles Gedenken: Er verneigt sich vor den Opfern, drückt den Hinterbliebenen sein und das Mitgefühl des ganzen deutschen Volkes aus, bekennt die deutsche Schuld an der Mordtat – und vermeidet tunlichst, auf die Forderungen nach deutschen Reparationszahlungen einzugehen, die in Griechenland bisweilen erhoben werden. Was man als Bundespräsident eben so tut an einem Ort des Grauens wie diesem.
Das Massaker von Distomo
Nach der Gedenkstunde gehe ich zurück zum Bus der deutschen Delegation und überlege, wie ich die Sache mit den Reparationsforderungen elegant in meinen Bericht einbaue, obwohl weder der Bundespräsident noch die Redner der griechischen Seite diese heute erwähnt haben. Da fällt mein Blick auf einen grünen Kleinlastwagen, der sich gerade in Bewegung setzt. Auf der Fahrertür entziffere ich – in griechischen Großbuchstaben geschrieben – den Namen Distomo. Distomo, ein Ort in Mittelgriechenland, rattert es in meinem Gehirn, denn ich habe mich auf diese Reise vorbereitet. Dort gab es 1944 ein Massaker der SS an der Dorfbevölkerung, 218 Tote, darunter auch Säuglinge.
Distomo liegt nicht an der Reiseroute des Bundespräsidenten, also sind Leute von dort offenbar hierhergekommen, um seine Bitte um Vergebung zu hören. Das muss unbedingt in meinen Bericht, beschließe ich, selbst wenn dann kein Platz mehr bleiben sollte für die Reparations-Kiste. Damit die Menschen, die in Deutschland meinen Bericht im Radio verfolgen, wenigstens einmal etwas von Distomo und seinen ermordeten Kindern hören. Damit sie, ich, wir alle wenigstens einige der Namen jener Orte kennen, an denen deutsche Uniformträger unschuldige Zivilisten hingemetzelt haben. Damit wir etwas weniger die Niemcy sind, die Habenichtse des Erinnerns.