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Reformations-Jubiläum als europäisches Ereignis

Öffnung statt Nabelschau

Vor wenigen Tagen präsentierte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Schrift »Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Refor­mation 2017« – und eröffnete damit die Diskussion über das bevorstehende Jubiläum. Die Beiträge zum Juni-Titelthema beteiligen sich daran: Was war das für ein Ereignis, dessen da gedacht wird? Ist das Reformationsjubiläum überhaupt ein Grund zum Feiern? Und nicht zuletzt: Wie zeitgemäß ist Luther noch?

Herman Selderhuis16.06.2014

Im Jahre 2008 eröffnete die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) ihre „Lutherdekade“, um in den zehn Jahren bis zum Reformationsjubiläum auf das große Gedenkjahr 2017 hinzuwirken. Mit zahlreichen Veranstaltungen und Projekten soll die Vielfalt des reformatorischen Geschehens in den Blick der Öffentlichkeit gerückt werden. Zudem widmen sich wissenschaftliche Projekte den zahlreichen bis heute noch offenen Fragen rund um Luthers Wirken. Schon jetzt, da gut zwei Drittel der „Lutherdekade“ vorüber sind, kann diese einerseits als erfolgreich, anderseits als problematisch gewertet werden.

Erweiterung der Sichtweisen

Die vom Jubiläum 2017 angeregten wissenschaftlichen Arbeiten zeigen eine faszinierende Vielfalt auf, wobei die Reformation in der Forschung ein Pluralbegriff geworden ist. Es wird gesprochen von den „Reformations of the 16th Century“. Damit öffnet sich eine bessere Möglichkeit, die Vielfalt der Reformation gerade im europäischen Kontext darzustellen als es bisher von der Lutherdekade gemacht wurde. Es gab eine Reformation der Kirche, aber auch eine des Wissenschaftsverständnisses, des Kulturbegriffes, des Bildungswesens, des Demokratieverständnisses. Es gab jedoch auch eine katholische Reformation und eine calvinistische und eine täuferische. Quer dazu verliefen dann noch die vielfältigen nationalen und regionalen Ansätze.

Diese reformatorische Vielfalt äußert sich auch in der reichen kulturellen Tradition unseres Kontinents, seiner Dörfer und Städte. Wir sind nicht Amerika, wo man in den Bus steigt und 2000 Kilometer weiter in einer Stadt aussteigt, die genauso aussieht wie die, aus der man gekommen ist. Die von der Reformation geförderte Abkehr von der überstaatlichen Einheitskirche zur Entwicklung zahlreicher nationaler und regionaler Landeskirchen hat daran einen bedeutenden Anteil. So gab es durch Luthers Auftritt keine einheitliche europaweite Bibelübersetzung mehr, denn jedes Volk bekam die Bibel in seiner eigenen Muttersprache. Dabei gibt es eine interessante Parallele zur Gegenwart: So wie die meisten Menschen damals genug hatten von einer zwanghaften und viel Geld kostenden Einheit, die von Rom ausging, so wollen – wie die Europawahl zeigt – viele Menschen auch heute kein zentral gelenktes Europa, wenngleich die Bestrebungen dazu diesmal aus Brüssel kommen. Die Feier der Reformation kann unter diesem Aspekt vielleicht sogar auch als Korrektiv zur überambitionierten Einheitsidee unserer Tage wirken.

Andererseits kann die Reformationsfeier die Länder unseres Kontinents auch verbinden. Dafür muss man die Feier jedoch europäisch angehen, und das haben wir bisher verschlafen. Wieso hat man in Deutschland die Planungen für das Jubiläumsjahr 2017 nicht von Anfang international gestaltet und organisiert? Andererseits haben es die anderen europäischen Länder aber auch geschehen lassen. Obwohl die Reformation ganz Europa, ja im Grunde die ganze Welt beeinflusst hat, obwohl man in jeder Stadt Reformation sehen kann, wenn man dafür nur die Augen öffnet, ließen es die Akteure des Reformationsjubiläums zu, dass jede Nation ihre eigenen Feiern abhält. Deshalb sollten wir möglichst bald ein europäisches Reformationsteam aufstellen, dass die verschiedenen Aktivitäten koordiniert.

Narzisstische Nabelschau

Das Evangelium ist von Wittenberg ausgegangen. Das ist kein Werbesatz der Luther-Botschafterin der EKD, Margot Kässmann, oder des Wittenberger Oberbürgermeisters, sondern ein Satz von Johannes Calvin. Der Franzose, der in der Schweiz Karriere machte, hatte keine Mühe, Deutschland, bzw. Wittenberg als Geburtsort nicht nur der Reformation, sondern sogar des Evangeliums anzuerkennen. Die Kritik an der „deutschen Nabelschau“ sollte also nicht dazu führen, die fundamentale Bedeutung des Geschehens in Wittenberg aus dem Zentrum wegzurücken. Das Deutsch-Buch in meiner niederländischen Schule hieß „Neue Sprache der Mitte“. So soll es auch bei der Reformationsfeier sein: Deutschland in der Mitte, aber eben nicht allein. Das ist meines Erachtens auch die Tragik des Logos der Reformationsdekade, so sehr ich auch verstehen kann, dass Luther zentral steht, denn in den Niederlanden zum Beispiel lesen die Calvinisten ja auch mehr Luther als Calvin. Obwohl, wenn es nach Luther gegangen wäre, wir in den Niederlanden wahrscheinlich alle Spanisch gesprochen hätten. Luther nämlich empfahl seinen Anhängern in Antwerpen, der spanischen Obrigkeit zu gehorchen. Der aus Deutschland stammende Wilhelm von Oranien wollte aber eine solche Toleranz nicht und meinte mit Calvin sich einer tyrannischen Obrigkeit mit Gewalt – und mit Erfolg – widersetzen zu dürfen. Reformation ist auch deshalb mehr als ein sehr als Deutscher dargestellter Luther, der nur Gutes gebracht hat.

Schade also, dass als das internationale Netzwerk „Refo500“, 2010 den Kontakt mit der Lutherdekade suchte, diese Plattform von den deutschen Verantwortlichen als „niederländischer Verein“ betitelt wurde und es immer noch nicht zu einer offiziellen Kooperation gekommen ist, obwohl sich mittlerweile weltweit 120 Institutionen als Partner daran beteiligen – darunter auch eine stattliche und wachsende Zahl von deutschen kirchlichen und akademischen Einrichtungen und Städten. Reformation ist doch kein deutsches Eigentum, aber sie war – und ist – ein europäisches Ereignis mit weltweiten Folgen. Man kann doch nicht tun, als ob es nicht mit dem Tschechen Hus, dem Britten Wycliff und dem Niederländer Erasmus vorbereitende Kräfte im Ausland gab, und als ob Luther ganz Europa im Alleingang verändert hätte. Als ob es nicht auch den Schweizer Huldrych Zwingli, den Polen Johannes a Lasco (polnisch: Jan ?aski), den Schotten John Knox und den Italiener Peter Martyr Vermigli gegeben hätte, und der Schwabe Philipp Melanchthon nicht ausgesprochen europäisch gedacht und gewirkt hätte. Die Nabelschau verengt nicht nur den Blick auf sich selbst, sondern hat auch etwas von Narzissmus. Deshalb sollten wir kooperieren und nicht konkurrieren. Deutschland zentral, selbstverständlich. Aber zentral heißt eben auch, dass es drum herum noch etwas anderes gibt.

Es ist auch bemerkenswert, dass Calvin „Wittenberg“ sagte und nicht „Luther“. Nicht die Person des Reformators, sondern die aus ihm hervorgegangene Bewegung und mehr noch seine befreiende und dynamische Botschaft sollte in diesen Jahren zentral stehen. Die Theologen und Historiker wissen, was Luther bedeutet. Aber für die Mehrheit auch in Deutschland ist er meistens nur der fröhliche Mönch, der biertrinkende Pfarrer oder der Anreger von Intoleranz gegenüber Juden, Katholiken und Calvinisten. Problematischer noch ist die Vermarktung Luthers als dicker Gartenzwerg, den man hinstellen und einsetzen kann, wo man will und in welcher Farbe man es will.

Wir müssen der Realität ins Auge sehen, dass besonders viele junge Leute meinen, Luther sei von gestern, wenn sie überhaupt noch wissen, wer Luther war. Dabei war – trotz aller zeitgenössischen Faktoren, die damals mitspielten – das Herzstück der Reformation die neue Theologie Luthers, die bis heute unsere Gesellschaft prägt. Und darum sollten wir, wenn es um 2017 geht, mehr tun als Touristen zu den Lutherorten zu bringen, wie wichtig das wirtschaftlich auch ist. Das Europa von heute ist aber ohne diese theologische Dimension nicht zu verstehen, doch auch das Europa von morgen kommt ohne sie nicht aus. Viele wichtige Probleme unserer Zeit gehen zurück auf religiöse Positionen; und ich glaube, dass der Faktor Religion in den kommenden Jahren noch weiter an Bedeutung zunehmen wird – national, europäisch und global. Als Beispiel für die Bedeutung der Theologie der Reformation weise ich auf Melanchthons Auffassung, dass Kinder keine Objekte, sondern Subjekte sind. Das sind Sätze, die unsere Kinder in Europa brauchen, und die Lehrer sowie besonders die CEO´s in der Wirtschaft hören sollen.

Das Evangelium ist von Wittenberg ausgegangen. Das sollten wir auch obenan stehen lassen. Aber wenn man zeigen will, was Reformation heute bedeutet, sollten wir als Symbol eher die Wartburg nehmen. Ihr Anblick weckt Vertrauen: eine feste Burg, die Sicherheit gibt und Zuversicht weckt. Auf der Wartburg sieht man, dass Reformation Teil der Geschichte ist. Vor Luther war dort die heilige Elisabeth mit ihrem kurzen, aber so einflussreichen und dienstbaren Leben. Nach Luther gab es auch viel Dunkles auf der Wartburg und in Europa, auch da kann diese Burg uns viel lehren. Und nicht zuletzt kommt man auf der Wartburg, wo sich Europäer aus vielen Ländern, wo sich Menschen aus aller Welt treffen, auch vom Nabelschauen weg. Aber um nach dort oben auf die Wartburg zu gelangen, muss man sich schon anstrengen. Doch es lohnt sich.

Und genauso sollten wir uns anstrengen, aus der Reformation Früchte für unsere Gegenwart zu gewinnen. Auch dies erfordert Anstrengung und Ausdauer, aber diese Mühen werden sich lohnen, weit über 2017 hinaus.
Herman Selderhuis
Prof. Dr. Herman Selderhuis ist Professor fu?r Kirchengeschichte und Direktor der internationalen Plattform „Refo500“, das die Bedeutung der Reformation fu?r die Gegenwart europaweit ins öffentliche Bewusstsein ru?cken will. 2009 erschien „Johannes Calvin. Mensch zwischen Zuversicht und Zweifel“ (Gu?tersloher Verlagshaus). Reformations-Jubiläum