Titelthema Nordkorea
Riskante Machtgefüge
Nordkorea ist außenpolitisch auf einem radikalen Kurs – womöglich mit fatalen Folgen.
Nordkorea ist ein Land voller Widersprüche, mysteriös und verstörend zugleich. Der Regimekollaps dieses „unmöglichen“ Staates wurde schon mehrfach vorhergesagt, doch auch nach über sieben Jahrzehnten hält sich die Kim-Familie an der Macht. Die sogenannte Demokratische Volksrepublik Korea (DVRK) wirkt politisch stabil und baut ihr Atomwaffenprogramm erfolgreich weiter aus, während der Großteil ihrer Bevölkerung leidet und hungert. So dauert die komplizierte und traurige Vergangenheit der koreanischen Halbinsel weiter an und mündet zudem in eine immer gefährlicher werdende Gegenwart und Zukunft. Denn neben Nordkorea entwickeln und stationieren auch China, Japan und Südkorea die neuesten Waffensysteme. Zur Abschreckung des Nordens und Rückversicherung des Südens stattete kürzlich und zum ersten Mal seit Langem ein atomar bewaffenbares Unterseeboot der USA dem Hafen von Busan einen Besuch ab.
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Die Geschichte von Kolonialisierung, Teilung und Krieg spielt eine zentrale Rolle für die Existenz Nordkoreas wie auch für dessen heutige Politik. Sie bildet die Grundlage für Pjöngjangs Rechtfertigung seines Systems: Es gilt für den heutigen Machthaber Kim Jong Un, das heroische Erbe seines Großvaters und „Gründungsvaters“ Kim Il Sung zu würdigen und weiterzuführen – und als Erfolg zählt hier die reine Existenz Nordkoreas. Pjöngjangs drehbuchartige Erzählung verbindet Kim Il Sungs Partisanenkämpfe mit dem Ende der japanischen Kolonialherrschaft wie auch mit der Abwehr der US-amerikanischen Imperialisten im Koreakrieg von 1950 bis heute.
Die Selbstdarstellung Nordkoreas gleicht einem Guerilla-Staat auf internationaler Bühne, der sein Dasein gegen allgegenwärtige und übergroße Bedrohungen zu sichern und sein Schicksal selbst zu bestimmen versucht. Es gilt dabei nicht nur die Feinde im Süden und Osten, sondern auch die Einflussnahme der Partner im Norden und Westen abzuwehren. Realpolitisch war und ist es für Pjöngjang allerdings auch vonnöten, ein gewisses Maß an politischen Beziehungen und wirtschaftlichem Austausch zu betreiben, ohne dabei die Kontrolle über seine Bevölkerung zu verlieren.
Die Garnele unter Walen
„Wenn die Wale streiten, ist es der Rücken der Garnele, der gebrochen wird“ – dieser alte koreanische Spruch illustriert das Dilemma, immer wieder Spielball der Geopolitik anderer zu sein. Die Teilung Koreas ist hierfür das folgenreichste Beispiel. Daher ist Pjöngjangs Staatsmantra der Selbstbestimmtheit, „juche“ genannt, so treffend. Sein Schicksal als kleiner Staat zwischen Großmächten auszunutzen, hatte Nordkorea mehrmals und teils erfolgreich versucht: So spielte es Peking und Moskau während des Kalten Kriegs, vor allem nach deren politischem Bruch Ende der 1950er, gegeneinander aus. In den Jahren 2018 und 2019, den Jahren der internationalen Gipfeldiplomatie, traf sich Kim Jong Un erstmals mit Xi Jinping wie auch mit Donald Trump. Die überraschende Möglichkeit eines Deals zwischen Pjöngjang und Washington bewog Peking wohl dazu, seine eigenen Beziehungen mit Nordkorea wieder zu intensivieren.
Die Entspannungspolitik zwischen der Volksrepublik China und den USA Anfang der 1970er und die damit verbundene Sorge, dass wieder andere über sie entscheiden, brachte die beiden koreanischen Staaten zu allerersten, kurzlebigen Annäherungen. Spätere Phasen innerkoreanischer Entspannungspolitik – zu Beginn und Ende der 1990er bis 2008 wie auch von 2018 bis 2019 – hingegen waren von progressiven Politikansätzen aus Seoul und der Hoffnung auf Wandel durch Handel geprägt.
Momentan scheinen die geopolitischen Fronten wieder schwarz-weiß. Seit dem Scheitern der Gipfeldiplomatie im Jahr 2019 verneint Pjöngjang Gespräche über sein Atomwaffenprogramm, baut dieses weiter aus und feiert die Partnerschaft mit China und Russland gegenüber den USA und deren Alliierten. Seit 2022 und dem innenpolitischen Wechsel in Seoul arbeiten Südkorea und Japan wieder bilateral als auch trilateral mit den USA enger zusammen. Gemeinsame Militärübungen sind keine Seltenheit mehr.
In den Vereinten Nationen (UN) vollzieht sich diese geopolitische Konfrontation: Pekings und Moskaus Diplomaten halten den Sicherheitsrat seit 2019 davon ab, Pjöngjangs Raketentests zu verurteilen und neue Sanktionen zu beschließen. Seit Kurzem versuchen sie auch, den Sanktionsrahmen nachträglich zu verwässern und die Arbeit des UN-Expertengremiums, das die Umsetzung beziehungsweise die Umgehung der Sanktionen dokumentiert, zu behindern.
Trügerische Partner
Für Nordkorea sind die großen Nachbarstaaten primäre Handelspartner, gute Abnehmer von Kohle, seltenen Erden, verarbeiteten Produkten sowie wichtige Quellen für Maschinen, Luxusgüter und Petroleum. Doch mit dem Handelsvolumen gehen auch Abhängigkeiten und potenzielle Einflussnahme einher. Zudem traut Pjöngjang Peking und Moskau nur bedingt. Die Verabschiedung der Sicherheitsratsresolutionen von 2016 und 2017 – im Umfang eines kompletten Handelsverbots – kamen einem Dolchstoß gleich. Vor diesem Hintergrund kann Nordkoreas Atomwaffenprogramm auch als Symbol und Mittel unabhängiger Außen- und Verteidigungspolitik verstanden werden.
In der aktuellen geopolitischen Lage sind die Sorgen groß, inwiefern Peking, Moskau und Pjöngjang die Kriegsführung des anderen unterstützen würden. Für Nordkorea ist es grundsätzlich denkbar, verzichtbare Waffen zu exportieren. Die USA vermuten längst, dass Pjöngjang Russland mit Munition fürseine Artillerie gegen die Ukraine versorgt. Seoul treibt die Angst vor einem Zwei-Fronten-Krieg in Ostasien um: Wenn China und die USA in der Straße von Taiwan Krieg führten, würde Pjöngjang die Gelegenheit nutzen, um einen Angriff auf Südkorea zu starten? 1950 hatte Kim Il Sung die Instabilität des Südens und den Abzug der US-Truppen als Chance gesehen, durch eine Invasion die Teilung der Halbinsel gewaltvoll und unter seiner Führung umzukehren.
Nützliche Feinde
Am deutlichsten ist Pjöngjangs Begründung, warum es eigene Atomwaffen braucht: Nur so lassen sich die übergroßen und atomar bewaffneten Feinde von einem Angriff auf Nordkorea abschrecken. Der Koreakrieg dient hierbei als chronologisch erstes Beispiel eines versuchten Regimesturzes. In der Tat eroberten US-Truppen nicht nur den Süden zurück, sondern auch weite Teile des Nordens, woraufhin China intervenierte. Während des Koreakriegs setzten die USA die bis dahin größte Anzahl an Bomben ein und drohten sogar mit atomaren Schlägen. Die Erinnerung daran hält Pjöngjang nicht nur wach, sondern ergänzt diese mit aktuelleren Beispielen. Vor allem die Stationierung von taktischen Atomwaffen im Süden bis 1991, öffentlich bekannte Erwägungen von atomaren oder konventionellen Luftschlägen wie auch die regelmäßigen und diversen Militärübungen gelten als Beweise für geplante Angriffe auf Nordkorea.
Vor dieser Bedrohungslage und faktischem Kriegszustand befiehlt Pjöngjang seiner Armee dauerhafte Alarmbereitschaft und seiner Bevölkerung Zusammenhalt und Mobilisierung. Doch auch aus Verhandlungen mit Washington konnte Nordkorea in der Vergangenheit politischen und wirtschaftlichen Nutzen ziehen. Lange galten normalisierte Beziehungen und das damit einhergehendes Ende der Isolation als Pjöngjangs Verhandlungsziele. Seit dem Scheitern der Gipfeldiplomatie 2019 ist es jedoch fraglich, wann – wie zuvor in den drei Jahrzehnten turbulenter Verhandlungsgeschichte – oder ob Nordkorea wieder einen Nutzen darin sieht, Diplomatie mit den USA respektive Japan und/oder Südkorea zu betreiben. Desertierte US-Soldaten wie jüngst Travis King beeinflussen diese Grundsatzfrage nicht.
Japan dient Nordkorea als weiteres großes Feindbild, wobei auch hier die Beziehungen vielschichtig sind. So gibt es die sogenannte Chongryon-Organisation koreanischer Diaspora in Japan, die als Sprachrohr Pjöngjangs fungiert und Nordkorea finanziell unterstützt hatte. Durch ihre Gipfeldiplomatie 2002 kamen Pjöngjang und Tokio einer Normalisierung ihrer Beziehungen erstaunlich nahe, was wirtschaftliche Hilfen und Kredite für Nordkorea ermöglicht hätte. Damals wie heute steht jedoch im Weg, dass Pjöngjang in den 1970ern und 1980ern eine Reihe von Zivilpersonen entführen ließ und die vollständige Aufarbeitung noch immer ausbleibt.
Die komplizierten Beziehungen zwischen den beiden koreanischen Staaten lassen sich am Begriff der Wiedervereinigung verdeutlichen: Laut Pjöngjangs Propaganda existiert im Süden ein kapitalistisch verkommener Marionettenstaat der USA, der befreit werden muss – was schon Kim Il Sungs Rechtfertigung für den Koreakrieg war. Dieser für die Überwindung der Teilung begonnene Krieg wurde faktisch nie beendet. Seoul indes unterzeichnete nie das Waffenstillstandsabkommen von 1953. Wiedervereinigung im feindlichen Sinne und Nordkoreas Drohungen von atomaren Schlägen gegen Südkorea nehmen dann überhand, wenn ein konservativer Präsident in Seoul regiert, worauf entsprechend reagiert wird. Daher wechselt sich seit 2022 die kriegerische Rhetorik aus dem Norden und Süden ab.
In den Phasen der Entspannungspolitik unter nicht konservativen Präsidenten in Seoul hatte hingegen Versöhnung Priorität. Pjöngjang prägte den Leitspruch „durch unser Volk selbst“, dass die sprichwörtliche Garnele Herrin ihres eigenen Schicksals sei und die koreanischen Staaten sich gemeinsam dem Ziel der Wiedervereinigung nähern sollen. Besonders war auch die ethnonationalistische Symbolik der lukrativen Kooperationsprojekte zu jener Zeit. Beispiele waren die Sonderwirtschaftszone Kaesong, eine Hauptstadt früherer koreanischer Dynastien nahe der innerkoreanischen Grenze, und die Tourismusregion im legendären Gebirge Kumgangsan, wo sich auch die durch Teilung und Koreakrieg zerrissenen Familien kurzzeitig treffen durften. Das Ziel der Wiedervereinigung gab zwar bisher den Rahmen für die eigene Politik gen Süden beziehungsweise Norden, doch ist es fraglich, wie viel Realpolitik dahintersteckt – vor allem für Pjöngjang. Schließlich sind das jetzige System Nordkoreas und ein wie auch immer vereintes Korea zusammen schwer vorstellbar.
Die größte Unbekannte
Seit 2020 ist es fast unmöglich, Einblicke in Nordkorea zu bekommen und die innenpolitische Lage einzuschätzen. Die Covid-19-Pandemie dient Pjöngjang noch immer als Grund, sowohl internationale Besucher und Hilfsleistungen nicht ins Land zu lassen, als auch die Mobilität der eigenen Bevölkerung weiter zu reglementieren. Zwar überqueren mittlerweile wieder Güterwagen und -züge die Grenzen Richtung China und Russland, doch scheint der staatlich gelenkte Handel nach wie vor beeinträchtigt. Die Berichte des UN-Expertengremiums dokumentieren, wie stattdessen Cyberkriminalität und Schifftransfers zunehmen, um Pjöngjang trotz internationaler Sanktionen und eigener Grenzschließungen Einnahmen zu sichern.
Riskant ist, dass sich das Machtgefüge um Kim Jong Un und entsprechend Nordkoreas Außenpolitik weiter radikalisieren. Das Militär und die Geheimdienste scheinen mächtiger denn je. All dies geschieht im Kontext eines massiven Aufrüstens und wachsender Konfrontation in ganz Ostasien. 70 Jahre nach dem Waffenstillstand scheint nun das Risiko, dass der Koreakrieg wieder aktiv geführt wird, immer größer.
Die Teilung Koreas
1945
Kapitulation Japans und Ende des Pazifikkriegs; Befreiung Koreas von japanischer Besatzung, sowjetische Besatzung des Nordens und US-Besatzung des Südens; Rückkehr Kim Il Sungs nach Nordkorea
1948
Offizielle Gründung der Republik Korea im Süden und der Demokratischen Volksrepublik Korea im Norden; Abzug der Sowjettruppen aus Nordkorea
1949
Abzug der US-Truppen aus Südkorea
1950
Kim Il Sungs militärische Invasion in den Süden; US-Intervention mit UN-Mandat; Intervention der chinesischen „Freiwilligenarmee“
1953
Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens; Allianzvertrag zwischen USA und Südkorea
1958
Abzug von chinesischen Truppen aus Nordkorea; Stationierung von taktischen Atomwaffen der USA in Südkorea
1961
Allianzvertrag zwischen Nordkorea und China sowie zwischen Nordkorea und der Sowjetunion
1991
Gleichzeitiger Beitritt Nordkoreas und Südkoreas in die Vereinten Nationen
1992
Aufnahme diplomatischer Beziehungen von China und Russland mit Südkorea
Elisabeth Suh ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Dort leitet sie ein Projekt zu Sicherheitsdynamiken in der Region Asien-Pazifik.