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„Rotary steht für die Sonnenseite des Lebens“

Rotary Aktuell - „Rotary steht für die Sonnenseite des Lebens“
Kein Durchkommen für Panzer: Die Stadt Odessa ist auf einen möglichen Angriff russischer Truppen vorbereitet. © Olga und Mykola Stebljanko (alle Fotos)

Das Ertönen von Luftschutzsirenen ist zum Alltag geworden – Arbeiten für Rotary in der Ukraine ist lebensgefährlich und doch enorm wichtig.

01.08.2022

Die Nacht des 24. Februar 2022 hat mein Leben für immer verändert. Das schockierende Gefühl der drohenden Verwüstung und die instinktive Angst vor Raketenbeschuss mitten in einer friedlichen Nacht haben sich für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Alle Ukrainer teilen dieses Gefühl seit der unwillkommenen Nachricht, dass der Krieg begonnen hat.

Bereit, das Land zu verteidigen

Gleich am ersten Tag verkündete unser Präsident Wolodymyr Selenskyj ein Verbot für Auslandsreisen für Männer zwischen 18 und 65 Jahren. Gleichzeitig wurde die erste Mobilisierungswelle für das Militär angekündigt. Seitdem verteidigen Berufssoldaten unser Land. Es folgte eine zweite und dritte Mobilisierungswelle, die Personen betrifft, die schon mal im Militärdienst waren. Ich gehöre zur sogenannten vierten Welle. Diese umfasst alle männlichen Personen, die keinerlei militärische Erfahrung haben. Diese Gruppe ist bislang nicht mobilisiert worden. Dennoch habe ich bereits in den ersten Kriegstagen mit Freunden darüber diskutiert, ob und wie ich mich an der Verteidigung meines Heimatlandes beteiligen könnte. Alle sagen mir, dass meine rotarischen Aktivitäten für das Land viel nützlicher seien als mein Dienst an der Waffe. Dennoch steht für mich fest: Im Falle einer Generalmobilmachung werde ich mein Land mit der Waffe in der Hand verteidigen – so wie es Dutzende von Rotariern bereits tun.

Seit Kriegsbeginn stehen viele Ukrainer vor der Wahl, zu flüchten oder in ihrer Heimat zu bleiben, was im Zweifel bedeuten kann, Teil der „russischen Welt“ zu werden. Meine Frau Olga und ich sind schon einmal vor dieser „russischen Welt geflohen. Nach der Annexion der Krim 2014 haben wir unsere Heimat verlassen und sind nach Odessa gezogen. Die Hafenstadt an der Schwarzmeerküste ist seitdem unser Zuhause. Nun ist auch dieses Zuhause bedroht und diese Bedrohung war in den eineinhalb Kriegsmonaten im wahrsten Sinne des Wortes sichtbar. Vor der Küste am Horizont sahen wir Schiffe der russischen Kriegsflotte. Nach der Versenkung des Kreuzers Moskwa nahm die Bedrohung deutlich ab – doch sie ist noch immer da und damit das Gefühl der Angst.

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Mykolas Frau Olga spaziert mit dem Hund durch die Altstadt von Odessa.

Das Ertönen von Luftschutzsirenen ist zum Alltag für uns geworden. Sind sie zu hören, sollen sich alle Einwohner Odessas in Schutzräume begeben. Für meine Frau und mich würde dies eigentlich bedeuten, dass wir in den Keller des Nachbarhauses flüchten müssen, da das Hochhaus, in dem wir wohnen, keinen geeigneten Schutzraum besitzt. Der Weg dorthin ist im Ernstfall jedoch zu weit. Deshalb bleiben wir in unserer eigenen Wohnung. Gemäß der „Zwei-Wände-Regel“ ist unser Badezimmer der sicherste Ort. Im Falle eines Anfluges und der Explosion einer russischen Rakete schützt die erste Wand vor der Stoßwelle und die zweite Wand vor Splittern. In den ersten Kriegswochen harrten wir dort manchmal ganze Nächte aus. Der jüngste Beschuss Odessas und der Einschlag einer Rakete in ein Wohnhaus haben uns jedoch vor Augen geführt, dass es in einem solchen Fall für uns gar keine Überlebenschance gibt. Da hilft auch die Flucht ins Badezimmer nicht. Der Beschuss ist wie „russisches Roulette“. Wenn eine Rakete abgefeuert wird, ist das ganze Land bedroht. Niemand weiß, welches Gebäude als Ziel ausgesucht wurde. Es kann wirklich jeden in der Ukraine treffen.

Unser Geschäft ist ruiniert

Der 24. Februar teilt das Leben der Ukrainer in ein Vorher und ein Nachher. Dies betrifft mein privates wie berufliches Leben. Mein Kommunikationsunternehmen musste ich mit meiner Frau schon nach der Krim-Annexion komplett umstrukturieren. Wir haben in Odessa neu angefangen und uns auf das Online-Nachrichtengeschäft fokussiert. Nun ist unser Geschäft erneut ruiniert, wir haben aufgrund des Krieges die meisten unserer Kunden verloren. Damit stehen wir nicht allein da. Laut einer Umfrage haben die Hälfte aller Rotarier in der Ukraine ihren Arbeitsplatz verloren.

Was uns bleibt, ist die redaktionelle Arbeit für Rotary und die Gewissheit, dass wir uns auf die rotarische Gemeinschaft verlassen können. Seit Kriegsbeginn haben sich drei neue Clubs in der Ukraine gegründet. Rotary steht für die Sonnenseite des Lebens – das zeigt sich hier einmal mehr.

Auch mein Privatleben hat sich verändert. Als meine Frau und ich zum ersten Mal nach Kriegsbeginn in der Altstadt spazieren gingen, empfing uns diese mit einer ungewohnt militärischen Atmosphäre. Nur wenige Menschen waren auf den Straßen. Jetzt im Sommer zeigt sich Odessa wieder belebter. Auf den ersten Blick erstrahlt die Stadt wieder als Touristenmagnet. Doch dieser Sommer wird einer im Zeichen des Militarismus sein. Die Strände sind abgesperrt, Sicherheitskontrollpunkte wurden eingerichtet, und Gesprächsthema Nummer eins sind aktuelle Nachrichten von der Front.

Was ich diesen Sommer am meisten vermissen werde? Die langen Strandspaziergänge mit unserem Hund und die Besuche rotarischer Freunde aus aller Welt. Gerne zeige ich diesen unsere schöne Stadt. Ich liebe es, mit ihnen bei einem Glas Wein zusammenzusitzen und hinaus auf das Schwarze Meer zu blicken. Diese gelebte Freundschaft, die Rotary ausmacht – ich erlebe sie tagtäglich bei den unfassbar vielen Hilfsprojekten und -lieferungen für mein Land – und doch vermisse ich sie.­

Mykola Stebljanko